Bodo Ramelows Minderheitsregierung: Thüringer Verhältnisse
Nach drei Jahren Regierung von Gnaden der CDU wirken Linke, SPD und Grüne in Thüringen müde. Doch eine Verbesserung ist nicht in Sicht.
Verhältnisse, die bei der CSU in Bayern oder der CDU in Thüringen nur noch wehmütige Erinnerungen hervorrufen. Im so wenig grünen „Grünen Herzen Deutschlands“ gleicht seit 2019 jegliche Mehrheitsfindung einer Quälerei.
Ein Jahr vor der Landtagswahl fühlt sich niemand, mit dem man in Erfurt spricht, wohl in der Rolle des Versuchskaninchens für ein demokratietheoretisch noch so interessantes Experiment. Nach der Wahl im Herbst 2019 fehlten der bis dahin regierenden rot-rot-grünen Koalition vier Stimmen an der parlamentarischen Mehrheit. Eine Mehrheitskoalition war nicht in Sicht, wenn auch der populäre erste Linken-Ministerpräsident Bodo Ramelow und die arbeitsfähige Regierung eine gewisse Kontinuität versprachen.
Also mussten sich Linke, SPD und Grüne fortan von Fall zu Fall Mehrheiten für ihre Koalitionsvorhaben suchen. Der Eklat um die Wahl des Liberalen Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten anstelle Ramelows mithilfe von AfD-Stimmen am 5. Februar 2020 war eine Folge dieser Konstellation.
Linke im Abwärtssog
Nach dreieinhalb Jahren wirken die Koalitionäre müde. „Es zermürbt, wenn man nie weiß, was kommt“, winkt SPD-Fraktionschef Matthias Hey ab. „Theoretisch spannend wäre es, wenn es sich um eine echte Tolerierung und nicht um eine Erpressung durch die CDU handelte.“ Ähnlich empfindet seine Kollegin Astrid Rothe-Beinlich von der fünfköpfigen Grünen-Fraktion: „Unser Kampf um wichtige Vorhaben zehrt, da die Opposition mit ihrer Mehrheit einfach alles blockieren kann.“
Für die Linke, die 2019 sogar noch auf 31 Prozent zugelegt hatte, aber jetzt im Abwärtssog ihrer Partei auf 22 Prozent gefallen ist, nennt Fraktionsvorsitzender Steffen Dittes zwei Hauptgründe, die zu „Demotivation und Abnutzung“ führen. Handelte man wie 2014–19 üblich in der Koalition Anträge, Gesetze oder den Haushalt aus und beschloss dann im Plenum, so folgt seit drei Jahren stets die zweite Runde eines Korrektivs durch die CDU oder die FDP. „Wir können jetzt viel verhandeln, aber das Ergebnis wird nicht das parlamentarische sein“, beschreibt Dittes das geringere Gefühl von Verbindlichkeit unter Linken, SPD und Grünen.
Lange spricht er dann über den zweiten Dämon, der nicht nur in Thüringen über der parlamentarischen Arbeit schwebt. Sie werde untergraben vom allgemeinen Verlust von Vertrauen in demokratische Institutionen. Aber ebenso von „Blödsinn und Denunziation, vom Personalisieren und Pathologisieren“ bei den politischen Akteuren, vom um sich greifenden Populismus. Nicht nur bei der AfD, die jüngste Umfragen bei mehr als 30 Prozent sehen.
Nach Beobachtung von Rothe-Beinlich übernimmt auch die CDU immer mehr „AfD-Sprech“, etwa wenn Fraktionschef Mario Voigt Wendungen wie „Energie-Stasi“, „Heizungshammer“ oder „kalte Enteignung“ gebraucht.
CDU sieht den Hauptfeind links
Nicht einmal an den Beginn des Arrangements mit der CDU will man noch gern erinnert werden. Der Schock der Kemmerich-Wahl 2020 bewirkte bei der CDU einen Personalwechsel und eine begrenzte Konzessionsbereitschaft. Der Deal mit RRG wurde „Stabilitätsmechanismus“ genannt, eine bislang beispiellose Verabredung jenseits einer Tolerierung oder gar Viererkoalition.
Eine echte Regierungsbeteiligung wäre undenkbar für die Union, für die der Hauptfeind nach wie vor links steht. Immerhin ermöglichte die CDU-Fraktion durch ihre Enthaltung die Wiederwahl von Ministerpräsident Bodo Ramelow, die Verabschiedung des Landeshaushalts 2021 auch mit ihren Akzenten und den Plan einer Selbstauflösung des Landtags.
Doch die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit kam im Sommer 2021 nicht zustande: Mindestens vier Parlamentarier der völlig heterogenen, nur aus direkt gewählten Abgeordneten bestehenden 21-köpfigen CDU-Fraktion kündigten ihre Verweigerung an. Bei solchen Abhängigkeiten mag keiner von einer Win-win-Situation sprechen.
Wohl gelingen immer wieder kleinere Abstimmungserfolge, etwa bei der Erzieherinnenausbildung, der Kindertagespflege oder der Unterbringung von Geflüchteten. Bei den Beratungen zum Landeshaushalt 2023 habe die CDU in langen Nächten ihre Wünsche hineinverhandelt, sich dann bei der Schlussabstimmung aber enthalten. Das, was gut läuft, verkaufe sie jetzt als ihre Erfolge, ärgert sich die Grüne Astrid Rothe-Beinlich. „Enthaltung beim Haushalt ist keine Haltung!“
Kein Ausweg in Sicht
Eine große Nummer war im vorigen Sommer der sogenannte Windfrieden, ein Kompromiss über Mindestabstände geplanter Windräder. Zugleich ein anschauliches Beispiel für das Drohpotenzial der 19 AfD-Abgeordneten im 90-köpfigen Landtag, mit dem die Koalitionsminderheit, vor allem aber die CDU spielen kann – selbstverständlich unausgesprochen. Zum Beispiel bei der mehrheitlichen Aufforderung an Thüringer Behörden, auf das Gendern zu verzichten.
Dazu bedarf es keiner förmlichen Absprachen. Die CDU schmiert es Rot-Rot-Grün gern aufs Brot, dass sich auch die Koalition im April dieses Jahres von der AfD bei der Erweiterung des Auftrages für den Untersuchungsausschuss zur Personalpolitik unterstützen ließ. Der zielte ursprünglich auf die amtierende Landesregierung, befasst sich aber zum Verdruss von CDU, FDP und Fraktionslosen nun auch mit der CDU-geführten Regierung vor 2014.
Ein Ausweg aus diesen Dilemmata, aus der gegenseitigen Paralysierung, von der nur die AfD profitiert, ist nicht in Sicht. Im September beginnt das Gezerre um den Landeshaushalt 2024, für den die CDU bereits einen eigenen Entwurf präsentiert hat. Die oft kolportierten „Thüringer Verhältnisse“ könnten sich auch nach der Wahl im nächsten Jahr fortsetzen, was höchstens noch für politikwissenschaftliche Vorlesungen von Interesse wäre.
Nach derzeitigen Umfragen würden die Koalitionsparteien gemeinsam nicht einmal 40 Prozent erreichen, die Grünen sogar um ihren Wiedereinzug fürchten müssen. Die Basis für eine Regierungsbildung würde noch schmaler, weil die AfD bis zu einem Drittel der Sitze erringen könnte, mit der offen aber niemand koalieren will.
Kommt die Viererkoalition?
Für eine Lösung hielt die ehemalige FDP-Abgeordnete Ute Bergner offenbar, den Landtag künftig per Volksentscheid auflösen und Neuwahlen herbeiführen zu können. Im Zerwürfnis mit Kemmerich hatte sie 2021 die FDP verlassen und gemeinsam mit AfD-Dissidenten die Kleinstpartei und die inzwischen wieder aufgelöste parlamentarische Gruppe „Bürger für Thüringen“ gegründet. Doch nur 20.000 Bürger unterschrieben ihr Begehren.
Astrid Rothe-Beinlich brachte indes eine Viererkoalition ins Spiel, aber mit wem? Die inzwischen auf eine Vierergruppe geschrumpfte FDP hätte schon seit dreieinhalb Jahren die fehlenden vier Stimmen für eine Mehrheit beisteuern können. Ausgeschlossen sei das bei einem „von Kemmerich stramm konservativ geführten Laden“, wie sich SPD-Fraktionschef Matthias Hey ausdrückt. FDP und CDU sehen im Hinblick auf die Linke im doppelten Sinne rot. Der Partei lässt sich trotz Bodo Ramelow bequemerweise immer noch das Stigma der SED-Altlast anheften.
So schießt sich CDU-Generalsekretär Christian Herrgott mittlerweile auch auf den nach Umfragen klar führenden Ministerpräsidenten Ramelow ein, mit dem man zugleich hinter verschlossenen Türen Absprachen trifft. Der Parlamentarische Geschäftsführer Andreas Bühl wirbt verdeckt um Partner und zählt SPD und sogar die Bündnisgrünen zur permanent beschworenen „Mitte“. Matthias Hey bestätigt strategische Bemühungen der Union, seine SPD aus der Koalition herauszulösen.
In der Mitte gelähmt
Welche Alternative für Thüringen aber sollte kommen, wenn die Doktrin der Bundes-CDU Linke und AfD gleichsetzt und Koalitionen mit ihnen ausschließt? Nur mit einer der beiden Parteien gibt es absehbar Mehrheiten, zumal sich die FDP trotz der Haudrauf-Politik ihres Chefs Thomas Kemmerich derzeit unterhalb der Fünfprozenthürde bewegt.
Obwohl also auch ihre Situation alles andere als rosig ist, fällt der CDU und der FDP nichts Anderes ein, als ein gefühltes bürgerliches Lager zu beschwören. Linke und AfD vertieften die Spaltung der Gesellschaft, das Land sei „in der Mitte gelähmt“, sagt der parlamentarische CDU-Fraktionsgeschäftsführer Andreas Bühl. Doch wie hatte der verstorbene Kurt Biedenkopf 1989 seiner CDU ins Stammbuch geschrieben? „Die Mitte an sich ist noch kein politisches Programm!“
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