Binäre Genital-Erzählung: Zeit für Klitoris-Neid
Die Komplexität der Klitoris wurde lange ignoriert, dabei gab es bereits vor 350 Jahren erste Abbildungen. Warum sich das dringend ändern muss.
Über Jahrzehnte wurde die Klitoris entdeckt, vergessen und wiederentdeckt – eine ewige „Berg-und-Tal-Fahrt“, so die französische Autorin Julia Pietri in ihrer im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienenen „Kleinen Anleitung zur weiblichen Masturbation“.
In vielen Medienberichten und feministischen Blogs heißt es, die Klitoris sei erst 1998 von der australischen Urologin Helen O’Connell vollständig entdeckt worden. Tatsächlich hat O’Connell als Erste das Organ fotografiert und einige Jahre später auch MRT-Bilder gemacht.
Dass die Klitoris existiert und viel größer ist als der äußere sichtbare Teil – die Klitoriseichel – ist allerdings schon viel länger bekannt.
Die erste bekannte Abbildung einer Klitoris stammt aus dem Jahr 1672. Der holländische Anatom Reinier de Graaf zeichnet sie in seinem Werk über „Organe von Frauen, die der Zeugung dienen“. Über 100 Jahre früher wurde das vollständige Organ das erste Mal in einem französischen Anatomiebuch erwähnt.
Kleiner Hügel war schon im antiken Griechenland bekannt
Aber die Geschichte der Entdeckung der Klitoris geht viel weiter zurück: Schon im antiken Griechenland gab es ein Verständnis dafür, dass die Klitoris sehr empfindlich und wichtig für guten Sex ist. Das Wort „Klitoris“ kommt vom griechischen „kleitorís“ und bedeutet etwa „kleiner Hügel“. Unklar ist, ob die wahre Größe der Klitoris damals schon bekannt war.
Wie in der Antike gab es dann auch wieder in der Renaissance, also im 15. und 16. Jahrhundert, großes Interesse an Masturbation und Klitoris. „Damals dachte man noch, dass Frauen nur schwanger werden, wenn sie einen Orgasmus haben“, sagt die Kulturwissenschaftlerin und Genderforscherin Louisa Lorenz der taz.
Klitoris wurde für „überflüssig“ erklärt
Deshalb sei Lust einer der wichtigsten Aspekte der Ehe gewesen. „Es gibt super viele historische Eheratgeber, die die Klitoris beschreiben und genau erklären, wie man sie am besten stimuliert“, so Lorenz. In ihrem Buch „Clit“ befasst sie sich mit der Geschichte der Klitoris.
Erst ab dem 19. Jahrhundert wird es düster für das weibliche Begehren. Es ist die Zeit der Prüderie. Da erlebte die Klitoris viel Abwertung, so Lorenz. „Da ist diese Vorstellung von Sexualität und Geschlecht entstanden, wonach Frauen grundsätzlich weniger Lust auf Sex hätten als Männer, dass Sex oder sexuelle Befriedigung weniger wichtig für sie wäre“, sagt sie. Außerdem sei Selbstbefriedigung zur Krankheit erklärt worden.
Den großen Meilenstein in der Klitorisforschung setzte der deutsche Anatom Georg Ludwig Kobelt dabei genau in dieser Zeit. Trotz Tabus interessierte er sich für die menschlichen Lustorgane. 1844 fertigte er eine äußerst genaue und detaillierte Abbildung des Klitoriskomplexes an – mit Schwellkörper, Klitorisschenkel, Klitorisschaft und Nervensystem. „An diesen historischen Abbildungen der Klitoris wird sichtbar, dass das Wissen über die innere Anatomie der Klitoris nicht neu ist“, sagt Lorenz.
Kobelt beschreibt, wie sich das weibliche Lustorgan bei Erregung verhält und sich mit Blut füllt. Er will damit beweisen, dass die weiblichen Geschlechtsorgane den männlichen homolog sind.
Menschen sind sich anatomisch viel ähnlicher
Heute weiß man, dass sie aus demselben Gewebe entstehen und sich im Laufe der Schwangerschaft formen. Lustigerweise kritisiert Kobelt selbst, dass der Klitoris nicht die gleiche Beachtung wie dem Penis geschenkt und in Lehrbüchern nicht dargestellt werde. Doch seine Untersuchungen wurden weitestgehend ignoriert.
„Die Klitoris ist der Beweis dafür, dass sich Menschen einfach geschlechtsunabhängig anatomisch sehr viel ähnlicher sind, als unser gesellschaftliches Konzept von Geschlecht es zulässt“, sagt Louisa Lorenz. Trotz dieser Ähnlichkeit haben wir immer noch ein stark binäres System, das darauf aufbaut, dass Männer und Frauen als etwas Gegensätzliches verstanden werden.“ Die korrekte Darstellung der Anatomie der Klitoris würde die gesellschaftliche Geschlechterordnung durcheinanderbringen.
Im Jahr 1875 entdeckte ein belgischer Biologe, wie menschliche Eizellen befruchtet werden: Der Beweis, dass die Klitoris nicht zur Fortpflanzung dient. Sie wird für überflüssig erklärt.
Freud, der alte Sexist
Lange hieß es auch, nur Hermaphroditen hätten eine Klitoris, also intergeschlechtliche Frauen. Sie galten als Verführerinnen, die Sex mit Frauen haben. Helen O’Connell stellte fest, die Klitoris habe als vermeintliche Ursache für viele Krankheiten gegolten, etwa Hysterie. Dagegen war dann Klitoridektomie die Lösung, also die Entfernung der äußeren Klitoris.
Für viele Genderforscherinnen trägt auch der Psychoanalytiker Sigmund Freud Anfang des 20. Jahrhunderts zur Abwertung der Klitoris bei. Freud rief den Mythos des klitoralen und des vaginalen Orgasmus ins Leben, wonach klitorale Orgasmen „unreif“ seien.
Damit verlagert er weibliche Lust auf die Vagina, die jedoch längst nicht so sensibel wie die Klitoris ist. Obwohl es für seine Ansichten keine empirischen Beweise gibt, halten sich Freuds Mythen hartnäckig. Penetration und Sex werden immer noch gleichgesetzt.
Nach taz-Recherche passten viele Verlage Abbildung an
Jedoch reicht für viele Frauen vaginale Stimulation nicht aus, um zu einem Orgasmus zu kommen. Wie die Gesellschaft mit der Klitoris umgehe, daran könne man unglaublich viel ablesen, findet Lorenz. „Das erzählt uns sehr viel über Geschlechterrollen und Geschlechtergerechtigkeit, aber auch über das gesellschaftliche Verständnis von Sex und Sexualität.“
In Deutschland bilden Schulbuchverlage erst seit dem vergangenen Jahr die Klitoris in ihren Lehrbüchern vollständig ab. Nach einer taz-Recherche im Jahr 2020 passten die Verlage Klett, Westermann und Cornelsen ihre Abbildungen an.
Zuvor zeigten Abbildungen nur die Klitoriseichel – oder auch gar nichts. Deshalb wissen heute viele Mädchen und junge Frauen nicht, dass sie eine Klitoris haben – und wozu sie dient.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier