Sexualkundeunterricht in Serbien: Abtreibung statt Unterricht
Serbien gilt als Vorreiter bei reproduktiven Rechten. Für Aufklärung sieht er sich nicht zuständig. Eine Organisation versucht, Lücken an Schulen zu schließen.
Das Theaterprojekt der Organisation E8 ist ein seltener Rahmen für Fragen über Pubertät oder Sex. An Serbiens Schulen können die Jugendlichen sie nicht stellen, denn es gibt keinen Sexualkundeunterricht. Im Oktober hat die serbische Regierung auch das letzte Überbleibsel davon getilgt: Auf Druck der serbisch-orthodoxen Kirche und rechter Parteien wurde jener Absatz aus Biologiebüchern für 8. Klassen gestrichen, der sich mit sexueller Gesundheit und Geschlechtergerechtigkeit beschäftigte. Der offizielle Grund: Diese Inhalte würden „Genderideologie“ verbreiten.
Schon zuvor hatte Sexualkunde an serbischen Schulen keinen festen Platz. Und so wissen viele Serb:innen auch im Erwachsenenalter nur wenig über Sex und Verhütung, erzählen Jelena Ivković und Tanja Ignjatović vom Autonomous Women’s Center in Belgrad. „Nur 20 Prozent der Frauen benutzen heute moderne Verhütungsmittel wie Kondome oder die Pille“, sagt Ivković. Vor allem Männer würden sich oft weigern, Kondome zu nutzen. „Es kursieren viele Mythen, etwa dass Frauen heimlich mit Nadeln Löcher reinstechen.“ Die meisten Sexualpartner:innen würden auf Coitus interruptus vertrauen – mit Abtreibung als eine Art Back-up.
Im europaweiten Vergleich gilt Serbien als Land mit einer der höchsten Abtreibungsquoten. Laut dem Institut für öffentliche Gesundheit wurden 2021 insgesamt 10.880 Abtreibungen durchgeführt bei 59.854 Geburten. Doch zuverlässig sind diese Zahlen nicht, denn nur staatliche Kliniken müssen die Eingriffe melden. Laut Schätzungen soll die tatsächliche Zahl doppelt so hoch sein, einige gehen sogar von bis zu 150.000 Schwangerschaftsabbrüchen pro Jahr aus.
Pionier der reproduktiven Rechte
Abtreibungen sind in Serbien ab einem Alter von 16 Jahren bis zur 10. Schwangerschaftswoche legal. Danach braucht es ein Gutachten von einem Gremium aus mehreren Ärzt:innen. Dabei gilt der Nachfolgestaat des ehemaligen Jugoslawiens als Pionier auf dem Feld reproduktiver Rechte. Schon ab 1952 erlaubte die jugoslawische Verfassung Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten Bedingungen. Das Recht, bis zur 10. Woche abzutreiben, geht auf das Jahr 1969 zurück.
Doch die Legalisierung zu dieser Zeit brachte auch ihre Tücken mit sich, die bis heute nachwirken. Verhütungsmittel waren damals noch nicht flächendeckend zugänglich. Abtreibungen wurden zu einer Art der Verhütung – bis heute, sagt Jelena. Dass es keinerlei sexuelle Aufklärung an Schulen gibt, macht sie für das Problem mitverantwortlich.
Dabei gab es von 2013 bis 2016 ein vielversprechendes Projekt an Schulen in der Region Vojvodina im Norden Serbiens. Eine Umfrage unter Schüler:innen, die meisten 14 bis 15 Jahre alt, brachte schockierende Ergebnisse zutage: „Sie wissen nicht, dass ein Kondom sowohl vor einer Schwangerschaft als auch vor Infektionen schützt, sie wissen nicht, was Geschlechtskrankheiten sind oder wie der Menstruationszyklus abläuft“, zitiert Balkan Insight das Vojvodina Institut für öffentliche Gesundheit. Die meisten hätten ihr Wissen aus dem Internet oder von Gleichaltrigen.
Sexualkunde in ganz Serbien einführen
Daraufhin konnten Schüler:innen von 66 Oberschulen das Fach Sexualkunde wählen. Ziel der Projekts war es, das Fach in ganz Serbien einzuführen. Man habe viele positive Effekte festgestellt, sagt Ivković. „Trotzdem wurde das Projekt auf Druck von Konservativen, Rechten und der Kirche eingestellt.“ Die Argumente lauteten ähnlich, wie sie beispielsweise auch in Victor Orbáns Ungarn zu hören waren: Sexualkunde würde die Kinder sexualisieren.
Dabei stellt Sexualerziehung ein Menschenrecht dar, festgelegt in zahlreichen internationalen Abkommen. So forderte die Internationale Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung (ICPD) schon 1994 die Regierungen ausdrücklich auf, für Aufklärung über Sexualität zu sorgen. Sie sollte sowohl in Schulen als auch auf Gemeindeebene stattfinden und so früh wie möglich beginnen. „Stattdessen kopieren wir gerade fleißig Orbáns Lehrbuch“, sagt Ignjatović vom Autonomous Women’s Center.
Ganz in diesem Sinne würde gerade in den letzten Monaten der Druck auf das Recht auf Schwangerschaftsabbruch steigen, sagt Ignjatović. Rechte Parteien und Organisationen, von denen einige Geld von entsprechenden Gruppen aus den USA und Russland erhalten würden, sowie die serbisch-orthodoxe Kirche würden das Thema vermehrt in Talkshows und auf Social Media bringen. Abtreibungsstatistiken würden aufgebauscht und damit werde Stimmung gemacht. „Offiziell gibt sich Vučić pro choice“, sagt Ignjatović. Doch der serbische Präsident stehe unter Druck von diesen Stimmen, die noch rechter sind als seine Regierungspartei SNS.
Frauen sollen mehr Kinder gebären
Zudem will die Regierung serbische Frauen dazu bringen, mehr Kinder zu gebären. Seit Jahrzehnten leidet das Land, so wie alle Westbalkanstaaten, unter massivem Wegzug vor allem junger Menschen. Bis 2050 soll die Bevölkerung nochmal um 20 Prozent schrumpfen. Rechte und religiöse Kreise machen auch die vielen Abtreibungen dafür verantwortlich. Sie warnen: Das „serbische Volk“ werde nach und nach wahlweise durch Migrant:innen aus Asien oder Albaner:innen aus dem Kosovo verdrängt.
„Die aktuelle Situation macht mir große Sorgen“, sagt Minja Bogavac, Kreativdirektorin der Organisation E8, die mit Jugendlichen arbeitet. Sie sitzt in ihrem Büro, ein paar Straßenzüge vom Dorćol-Platz entfernt, wo in wenigen Tagen das von ihr konzipierte Theaterstück uraufgeführt wird. „Wir haben jetzt eine Kirche, die Entscheidungen über Wissenschaft und Erziehung fällt“, sagt sie.
Die Auswirkungen davon merkt sie in ihrer täglichen Arbeit. „Auf dem Feld der reproduktiven Gesundheit hat sich die Situation dramatisch verschlechtert“, sagt Bogavac. Als sie vor zehn Jahren mit Workshops zu Geschlechtergerechtigkeit, Sexualität und Verhütung begann, sei die Unterstützung noch groß gewesen. „Die Gesellschaft dachte, es sei wichtig, dass junge Leute über diese Dinge Bescheid wissen“, sagt sie. „Aber heute beschuldigen uns Medien, an den Schulen Genderideologie zu verbreiten. Eltern machen regelmäßig Aufstände gegen unsere Workshops. Jetzt schrecken auch die Schulen öfter zurück.“
Die meisten Kinder können nicht mit Eltern reden
Den Grund sieht sie in einer stetigen „Re-Traditionalisierung“ der serbischen Gesellschaft. „Ständig wird uns eine religiöse Ideologie propagiert, die auch mit der prorussischen Stimmung in der Gesellschaft zu tun hat“, sagt Bogavac. Im ständigen Herumschlingern zwischen Ost und West, zwischen Russland und der EU, fehlt eine klare politische Linie. Und da werden die Themen Gender und Sexualität zu umkämpften Feldern. „Wenn diese Dinge tabu sind, wird es gefährlich“, sagt Bogavac.
Auch mit ihren Eltern können die meisten Jugendlichen nicht über Sex reden. „Viele Eltern bevorzugen es, wenn jemand anderes diesen Job übernimmt.“ Weil das aber nicht passiert, bleibt den Jugendlichen nur das Internet – wo sie meist bei Pornos landen würden, sagt Bogavac und berichtet von Gewaltfantasien gegen Frauen, die sie bei ihrer Arbeit mit Schülern beobachtet.
Damit die Jugendlichen im Internet auch verlässliche und altersgerechte Informationen rund um Sex erhalten, hat Bogavac' Organisation das Onlineprojekt „Prazi se(x)“ geschaffen. „Wir sagen den Jugendlichen immer: Das ist eine Website über Sex, die du nicht wegklicken musst, wenn deine Eltern das Zimmer betreten“, sagt sie. Hier wird in lockerem Ton Heterosexualität genauso erklärt wie Homo- oder Bisexualität, warum Coitus interruptus nicht sicher ist, wie man damit umgeht, wenn sich der Körper in der Pubertät verändert, und wie man auf Ausreden reagiert, wenn der Typ kein Kondom benutzen will („Sie machen sie nicht in meiner Größe!“).
„So viele Organisationen machen hierzulande einen tollen Job“, sagt Bogavac. Aus ihrer Sicht wäre es aber viel besser, wenn es ein reguläres Fach oder zumindest den Biologieunterricht gäbe, um diese wichtigen Themen im Unterricht zu behandeln. Die Organisationen allein könnten nicht alle Schüler und Schülerinnen erreichen. Vor allem auf dem Land gebe es wenige solcher Angebote. Mit Blick auf die Entwicklung der serbischen Gesellschaft sagt Bogavac: „Ich muss bei unserer Arbeit oft an ‚Alice im Wunderland‘ denken: Wir laufen so schnell wir können, nur um an derselben Stelle zu bleiben.“
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