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Bildungsexperte über Schulöffnungen„Unterricht für alle anbieten“

Bildungsforscher Hans Brügelmann kritisiert, dass Abschlussklassen zuerst an die Schulen zurück dürfen. Vor allem die Gründe hält er für falsch.

Erst Anfang Mai droht wieder der Ernst des Lebens Foto: Felix Kästle/dpa
Ralf Pauli
Interview von Ralf Pauli

taz: Herr Brügelmann, Bund und Länder haben sich gestern darauf verständigt, frühestens ab 4. Mai die Schulen zu öffnen, auch um die notwendigen Hygienestandards vorzubereiten. Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen haben jedoch schon angekündigt, ihre Schulen früher zu öffnen. Welches Datum halten Sie für angemessen?

Hans Brügelmann: Die Frage ist, ob man da ein allgemeines Datum setzen kann. Die Politik hat entschieden: Wir öffnen erstmal nur für bestimmte Jahrgänge. Aber auch da gibt es Kinder, die entweder selbst gefährdet sind oder gefährdete Angehörige haben. Schon da bricht das Konstrukt, Schule könne zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder für eine ganze Gruppe möglich sein, in sich zusammen. In der momentanen Situation kann man Schule eigentlich nur für die Familien anbieten, die ein Ansteckungsrisiko bewusst eingehen können. Denn niemand wird garantieren können, dass Grundschulkinder durchgängig 1,5 Meter Abstand halten oder eine Maske tragen.

Halten Sie Schulöffnungen in 2,3 Wochen für unverantwortlich?

Die Politik nimmt Ansteckungen bewusst in Kauf und das finde ich in Ordnung. Es geht ja darum, die Ansteckungen so zu dosieren, dass sich Immunität verbreitet, aber das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Ehrlich gesagt möchte ich auch nicht in der Haut der Kultusminister stecken. Die müssen schwere Entscheidungen fällen. Ich bin aber etwas erschrocken, wie formal diese Entscheidungen begründet werden.

NRW etwa rechtfertigt seine Eile mit den frühen Sommerferien. Bayern, das den spätesten Ferienstart hat, öffnet seine Schulen erst am 11. Mai. Es sieht so aus, als seien die Ferienzeiten ein entscheidendes Kriterium.

Ja, und das hängt mit den Prüfungsterminen zusammen. Die Schulen müssen Entscheidungen fällen, auf welche Schule ein Viertklässler im kommenden Schuljahr gehen darf, oder welchen Abschluss ein Zehntklässler mit ins Leben nimmt. Da wird auch das Kernproblem sichtbar. Einerseits sagen wir: Niemand soll einen Nachteil haben. Auf der anderen Seite halten wir starr an den Vorgaben fest und nehmen Ungerechtigkeiten in den Bedingungen in Kauf. Stellen Sie sich beispielsweise eine Schule vor, in der das Kollegium aufgrund des Alters stark gefährdet ist und den Unterricht nur bedingt aufrecht erhalten kann. Wie kann die Schule so eine faire Prüfungsvorbereitung garantieren? Aus diesem Dilemma kommen wir nicht raus.

Was wäre die Alternative?

Es gibt in Kitas und Schulen ja schon jetzt eine Notbetreuung, die noch Kapazitäten frei hat. Warum diese Notbetreuung nicht schrittweise für diejenigen öffnen, die sie besonders brauchen? Also für Familien, die auf engem Raum leben. Für Kinder, die ihre Schulaufgaben zu Hause nicht erledigen können, weil sie noch drei Geschwister haben, die an dem einzigen PC arbeiten müssen. Andererseits könnte man Familien, die es sich zutrauen, bitten, kleine Lernzirkel zu bilden. Und die Länder könnten darüber nachdenken, für Abiturient:innen und andere, die dieses Schuljahr noch einen Abschluss schreiben sollen, einen zweiten Prüfungstermin im Herbst anzubieten.

Bild: Grundschulverband
Im Interview: 

Hans Brügelmann hatte bis 2012 eine Professur für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Siegen inne. Er war von 2000 bis 2017 im Grundschulverband e. V. für das Fachreferat Qualitätsentwicklung verantwortlich. Von 2008 bis 2012 war er Sprecher des Verbunds der Reformschulen „Blick über den Zaun“. Er ist Autor unter anderem von „Schule verstehen und gestalten“ (2005).

In einer Petition an den Bundestag bezeichnen Sie es als „höchst problematisch“, dass die Länder zuerst die Abschlussklassen zurück an die Schulen lassen. Was ist daran falsch?

Dass Abschlüsse vergeben werden können, setzt ein funktionsfähiges Schulsystem voraus. Es wird aber in den nächsten Wochen nicht funktionsfähig sein, allein weil viele Lehrer:innen ausfallen werden. Das ändert aber die Prüfungsvorbereitung, wenn zum Beispiel nicht der Biologielehrer, den die Schüler:innen kennen, die Prüfungen abnimmt. Und die Pläne der Länder werden auch dem Stress nicht gerecht, den Kinder und Jugendliche gerade in ihren Familien erleben und auch in der Schule weiter erleben werden. So werden die Prüfungen nicht zum Kompetenztest, sondern zum Stresstest.

Viele Schüler:innen haben in den letzten Tage Briefe an die Ministerien geschrieben mit der Bitte, die Schulen geschlossen zu halten und Prüfungen abzusagen. Nimmt die Politik die Sorgen der Betroffenen nicht Ernst genug?

Mein Eindruck ist, dass zumindest andere Prioritäten gesetzt werden. Das hängt vielleicht auch mit der Entwicklung zusammen, die wir in den letzten 20 Jahren in unserem Schulsystem erlebt haben. Heute dominieren in allen Fächern Kompetenztests. Die Schüler:innen als Personen sind weniger stark im Blick, als man sich das als Pädagoge wünscht. Die Prüfungen ganz verschieben, wie manche Schüler:innen fordern, ist jedoch auch schwierig. Viele haben ja schon Pläne für die Zeit danach. Deshalb plädiere ich für mehrere Prüfungstermine – wie beim PKW-Führerschein. Wir brauchen mehr Flexibilität, um allen gerecht zu werden. Die Schulpflicht ist jetzt doch eh' Fiktion.

Apropos Flexibilität. Es gibt Leher:innen, die im Homeschooling eine Chance erkennen, die im regulären Unterricht selten gelingt: dass die Schüler:innen im eigenen Tempo lernen können. Wie sehen Sie das?

Ich glaube, dass es diese Erfahrung in Nischen gibt. Wenn ich aber sehe, was Schulen vor allem in den Sekundarschulen an Aufgaben an die Eltern schicken, erkenne ich eher, dass Familien jetzt mit einem ungewohnten Druck umgehen müssen. Es stimmt, theoretisch stünde jetzt mehr Zeit zum individuellen Lernen zur Verfügung. Aber in der Regel sind es ja die schwächeren Schüler:innen, die zuhause auch weniger Unterstützung bekommen. Die Hoffnung, dass schwächere Schüler:innen vom digitalen Lernen profitieren, scheitert oft an der Realität in den Familien.

Zur Realität vieler Familien gehört auch, dass sie möglicherweise bis zu den Sommerferien ihre Kinder nicht in die Kitas schicken können. Ist die Entscheidung, Kitas geschlossen zu halten, richtig?

Wenn wir an den Grundschulen in Kauf nehmen, dass sich Kinder anstecken, kann man das genauso in den Kitas machen. Es ist auch utopisch zu glauben, alle Hauptschüler würden sich an die Hygieneregeln halten, nur weil sie schon älter sind. Natürlich müssen wir für Hygiene sorgen und kleinere Gruppen einrichten. Wichtig ist aber, dass Kinder wieder eine stabile Bezugsperson haben. Egal ob in der Schule oder in der Kita. Und das sollten wir für alle anbieten, die es dringend benötigen, um mehr Bildungsgerechtigkeit zu erreichen. Nicht nur für die, bei denen es um Abschlüsse geht.

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10 Kommentare

 / 
  • 8G
    80336 (Profil gelöscht)

    Es wäre mehr informativ, endlich jene zu Wort kommen zu lassen, welche in DE die Leidtragenden jahrelang währender Inkompetenz sind und nun die angeordneten Verzweiflungstaten auf ihren Buckeln hinzunehmen, umzusetzen und auszubaden haben : Lehrer und Schüler.

    Meinen Kollegen und Studenten wurde z. B. nach der Anordnung, dass alle Schulen zu schließen sind, nach nur einer Woche (!) eine passende Infrastruktur zur Verfügung gestellt und der Unterricht ohne Einbußen bis Anfang Juli per Videokonferenz aufrechterhalten :

    ingetis.com/corona...mations-consignes/

  • "Es geht ja darum, die Ansteckungen so zu dosieren, dass sich Immunität verbreitet, aber das Gesundheitssystem nicht überlastet wird."



    Immunität verbreitet sich nicht, sondern wird erworben.



    Ist aber auch egal, aber die Vorstellung, dass man die Ansteckung dosieren kann ist zum jetzigen Zeitpunkt abwegig. Im Augenblick sehen wir erst immer zwei Wochen später, wie sich die Zahlen entwickeln. Das ändert sich hoffentlich in nächster Zeit. Bis dahin finde ich es unverantwortlich, Schulen oder Kitas zu öffnen, denn was soll man denn nach zwei bis drei Wochen machen, wenn die Zahlen steigen? Viele Tote mehr? Kompletter Shutdown? Das kann man ja auch nicht beliebig oft wiederholen. Also warum, um Himmels Willen nicht noch einige Wochen warten, bis mehr Tests, Schutzausrüstung, Tracingapps und repräsentative Studien zur Verfügung stehen, um steigende Fallzahlen schnell erfassen und reagieren zu können?



    Wäre das so schlimm?

    • @Surfbosi:

      Auch ich bin der Meinung, dass die Immunisierung nicht das Ziel sein darf. Wir haben noch keine Kenntnis über die Sterblichkeit, sondern lediglich Annahmen. Auch in Deutschland haben wir inzwischen eine Sterberate von ca. 3% erreicht. Daher halte ich eine Strategie der Durchseuchung für zynisch. Meiner Meinung nach sollte eine Verlangsamung der Ausbreitung Priorotät haben. Zumindest solange, bis ein Gegenmittel vorhanden ist. Ich bin auch der Meinung, dass ein Gegenmittel wichtiger ist, als ein Impfstoff, insbesondere, wenn der Virus so stark kosiert wie im Moment hätte ich Bedenken vor einer Impfung, da eine Ansteckung in der Inkubationszeit faltale Folgen haben könnte.

    • @Surfbosi:

      Ja, das wäre schlimm.

  • das Problem dieses Interviews? Leute die klar denken können treffen leider nicht die Entscheidungen

  • So ein Stuß.



    Unser Azubi zum Beispiel steht kurz vor der Gesellenprüfung. Im Mai und Juni finden die praktischen Prüfungen statt, in dem Zeitraum sollen auch die theoretischen Teile durch sein, damit er zum Abschluss seiner Ausbildung zum 30.06.2020 seinen wohl verdienten Gesellenbrief in den Händen halten kann. Da geht es schließlich für ihn auch um viel Geld. Und dazu gehört als Prüfungsvorbereitung nun mal der Unterricht.



    Heim-Unterricht fand mangels IT-Kompetenz der Lehrer schlichtweg nicht statt, also muss da jetzt Stoff bei und zwar dringend.



    Und dann kommen solche Dampfplauderer wie der Brügelmann, der laut seiner Biografie keinen einzigen Tag Unterricht vor Schülern gehalten hat, und der weiß mal wieder alles besser. www.hans-bruegelma...m/berufsbiografie/

    • @sb123:

      genau, es ist seinem Betrieb ja unmöglich ohn Gesellenbrief ein höheres Gehalt zu zahlen!

      Man könnte die Prüfung auch in 1-2 Jahren nachholen.



      das sind immer alles so fadenscheinige Argumentationen. Es ist halt ganz einfach so: die Regeln die man mal aufgeschrieben hat sind jetzt gerade halt untauglich. Dann muss man halt auch so clever sein und Regeln Regeln sein lassen. Wenn man wollte ginge es auc anders

      • @danny schneider:

        Man könnte ja die Prüfung in zwei Jahren nachholen, klar doch, macht bloß der Staat nicht mit.



        Und was, wenn der Azubi nicht bleiben will, sondern den Betrieb wechseln will?



        Wie bringt er dann den Nachweis, das er die notwendige Qualifikation mitbringt?



        Was ist, wenn er an eine Meisterschule wechseln will, Gesellenbrief ist da Voraussetzung. Pech gehabt oder was?



        Warum haben es Schulen und Lehrer nicht geschafft, einen Online-Unterricht zu bieten.



        Wieso bekomme ich das nebenbei mit meiner Dozenten-Tätigkeit an einer Meisterschule hin?



        Wieso hängt der öffentliche Bereich wieder Jahre hinten dran?



        Fragen über Fragen, auf die Leute wie der Brügelmann keine Antworten haben.

  • Eine Stimme von vielen, um nicht zu sagen, viel zu vielen, coronalike halt, so what?

  • Welche SuS sollen denn Briefe geschrieben haben? Der (S)ehr geehrte(r) Herr Dr. Söder hat sicher nur den der angeblich Zehnjährigen bekommen. Die "Bildungsrepublik" macht Politik an den Kindern und Jugendlichen vorbei und das ist schwer zu ertragen.