Biden und Harris und die Revolution: Murksisten im Weißen Haus

Joe Biden ist noch nicht US-Präsident, er hat bisher weder Personal noch Programm. Aber wir wissen schon, dass er die Welt nicht retten wird.

Kamala Harris und Joe Biden halten sich an den Händen und recken diese in Siegerpose nach oben

Kamala Harris und Joe Biden: das neue „Dream-Team“ im Weißen Haus Foto: Andrew Harnik/ap

BERLIN taz | Hastig schnürte ich die Schuhe zu, zog die Jacke an und die Basecap tief ins Gesicht, als ich die Wohnung verließ. Zum Glück war es schon dunkel, als ich lostrabte. Mit einem schlechten Gewissen, seit mir meine Zeitung die Augen geöffnet hat.

Denn was ich bisher unter Lust an der Bewegung verbucht hatte, ist in Wirklichkeit meine Kapitulation vor dem neoliberalen Zeitgeist. „Joggen ist der Sport der effizienten Leistungsmenschen“, schrieb die taz, als sich die baldige US-Vizepräsidentin Kamala Harris in Laufklamotten über ihren Wahlsieg freute.

Aber es war nicht nur Harris, die da „die Ideologie des Leistungsdenkens und der ständigen Selbstoptimierung“ betrieb, wurde mir klar. Auch für mich galt: 30 Jahre Laufgruppe, zwei Dutzend Marathonläufe und Tausende von Trainingskilometern – alles fürs Kapital!

Über den Sieg von Biden gibt es nichts zu jubeln!

Und wie hatte ich das übersehen können: Über den Sieg von Joe Biden und Kamala Harris gab es nichts zu jubeln! Egal, ob sie eine Krankenversicherung für Millionen von Menschen planen, halbwegs anständige Politik zurück nach Washington tragen, zum ersten Mal eine Tochter von nicht europäischen Einwanderern ins Weiße Haus bringen und Billionen für echten Klimaschutz ausgeben wollen: Das reicht alles nicht, das ist Verrat, das sind keine Marx-, sondern Murksisten.

Noch ist Joe Biden nicht Präsident, noch hat er weder Personal noch Programm. Aber schon jetzt wissen wir, dass er unseren hohen Ansprüchen an eine Weltrettung aus Washington nicht genügt. Er wird die Polizei nicht auflösen, die US-Banken nicht verstaatlichen, kein sicheres Grundeinkommen für alle einführen und nicht einmal private Autos verbieten.

Das neue Dreamteam im Weißen Haus wird Bernie Sanders nicht zum Wirtschaftsminister machen, keine Genderquote an der Wall Street durchsetzen, nicht die Todesstrafe abschaffen, Waffen verbieten oder McDonald’s zu McVegan machen.

Im Gegenteil: Biden/Harris werden sogar Republikanern die Hand reichen! Und das mit einer soliden Mehrheit von 51 Prozent der WählerInnen! Sie werden die Revolution, von der wir träumen, dem politischen Kalkül opfern, nur weil sie gegen 70 Millionen Republikaner und einen feindlichen Senat stehen und weil in ihrem Land 300 Millionen Waffen auf den Bürgerkrieg warten. Schlimm zu sehen, wie wenig Rückgrat die biden haben!

Wieder einmal gilt: Wer hat uns verraten? Die Demokraten! Wir sollten uns daran erinnern: Die schlimmsten Feinde der Revolutionäre waren immer schon die Reformer. Vor allem, wenn sie auch noch joggen.

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Jahrgang 1965. Seine Schwerpunkte sind die Themen Klima, Energie und Umweltpolitik. Wenn die Zeit es erlaubt, beschäftigt er sich noch mit Kirche, Kindern und Konsum. Für die taz arbeitet er seit 1993, zwischendurch und frei u.a. auch für DIE ZEIT, WOZ, GEO, New Scientist. Autor einiger Bücher, Zum Beispiel „Tatort Klimawandel“ (oekom Verlag) und „Stromwende“(Westend-Verlag, mit Peter Unfried und Hannes Koch).

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Am 3. November 2020 haben die USA einen neuen Präsidenten gewählt: Der Demokrat Joe Biden, langjähriger Senator und von 2009 bis 2017 Vize unter Barack Obama, hat sich gegen Amtsinhaber Donald Trump durchgesetzt.

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