Besuch bei Grabungen in der Nähe von Kiel: Das große Puzzle
Wenn auf einem Bauplatz Funde zu erwarten sind, dürfen Archäolog*innen vor den Baggern auf das Gelände. Aber ihre Zeit für Grabungen ist knapp.
Die Grabung des Archäologischen Landesamtes bei Flintbek in Schleswig-Holstein ist nur eine von vielen, bei denen die Forschenden unter Hochdruck arbeiten, bevor die Bagger anrollen. Denn dort, wo unter der Grasnarbe die Reste einer frühgeschichtlichen Siedlung liegen, soll bald ein neues Wohngebiet entstehen.
Ein Bagger steht bereits auf der Grabungsstelle nahe dem Dorf im Südwesten von Kiel, allerdings ein ganz kleiner, mit dem Stephan Isenberg den Platz räumt, bevor die Fachleute sich an die feineren Arbeiten mit Spaten und Kelle machen. „Unser Baggerfahrer der Herzen“, sagt Grabungsleiterin Schmeiduch.
Isenberg ist selbstständig und oft im Auftrag des Landesamtes tätig. „Man braucht ein bisschen Erfahrung“, sagt er. Die hat er inzwischen: Seit den 1990er-Jahren arbeitet er für archäologische Teams.
Zu dem Job kam er zufällig. „In meinem Heimatort fand eine Grabung statt, und der Leiter fragte meine Mutter, ob sie von jemandem wisse, der einen Bagger bedienen könne.“ Inzwischen ist er sozusagen Teil des Teams: „Manchmal sieht er was vom Führerhaus aus, das wir vom Boden aus noch gar nicht erkannt haben“, berichtet Schmeiduch. Aber beiden ist auch klar, dass durch das schwere Gerät Dinge zerstört werden könnten.
Daran muss Schmeiduch denken, als sie vor der Grube steht, an deren Rand sie am Morgen die Perle fand. Gut möglich, dass der notwendige Baggereinsatz weitere Schmuckstücke zerstört hat. Obwohl: „Bis vor Kurzem war gar nicht klar, dass es hier ein Grab gibt“, sagt Schmeiduch. „Jetzt habe ich eine Perle. Was, wenn ich noch ein Collier oder noch mehr finde?“ Sie hat nur noch zwei Wochen, dann endet die Frist, die mit der Gemeinde vereinbart ist. Sehr viel zu finden, ist gar nicht das Ziel, aber passiert ist es trotzdem.
Die anderen MitarbeiterInnen ihres Grabungsteams arbeiten zurzeit auf einem zweiten Acker einige Hundert Meter entfernt, an dem eigentlich nur ein paar Feuerstellen erwartet wurden. Das Team fand aber so viele Feuersteinstücke und alte Brandstellen, dass es ein alter Werkstattplatz gewesen sein muss – das vermutet Schmeiduch jedenfalls.
Der Hauptfundort liegt auf einem Hügel. Auf dem nun freigelegten Stück Boden sind zahlreiche Löcher zu sehen, dort standen einmal Holzpfähle, die zu mehreren Häusern gehörten. Aufgrund der Größe glaubt Schmeiduch, dass es sich um ein Gemeinschaftshaus, einen Dorftreff gehandelt haben könnte.
Der Platz bietet eine weite Aussicht, und diesen Vorzug nutzen Menschen schon seit Jahrtausenden. Seit den 1970er-Jahren sind der Ort und seine Umgebung „für eine Vielzahl sehr gut erhaltener stein- und bronzezeitlicher Gräber bekannt“, heißt es auf der Homepage des Landesamtes. Die Gegend ist Teil einer ganzen Kette von Fundstellen, die als „Flintbeker Sichel“ bezeichnet wird.
Auch in der Völkerwanderungszeit – im vierten und fünften Jahrhundert nach der Zeitenwende – lebten Menschen in dieser Region. Das ist bereits seit Längerem bekannt, ein Teil der Siedlung wurde in den Jahren 2020 und 2021 archäologisch erfasst. Nun plant die Gemeinde ein neues Baugebiet auf diesem Hügel. „Da wir bereits wussten, dass hier etwas zu finden ist, war klar, dass es eine Grabung gibt“, sagt die Forscherin. Sie nimmt an, dass die nun gefundenen Häuser und das Grab den Rand des früheren Dorfes darstellen.
Dass die archäologischen Fachleute den ersten Zugriff haben, wenn ein Stück Boden neu bebaut werden soll, ist in den Denkmalschutzgesetzen der Länder geregelt. Das Gesetz von Schleswig-Holstein stammt von 2014, ein Gutachten im Auftrag des Landtags bestätigte vor einigen Jahren, dass es keinen Bedarf für Änderungen gebe.
Auch wenn das Gesetz erlaubt, alle künftigen Bauplätze umfangreicher zu untersuchen, werde nur dann tatsächlich gegraben, wenn es einen Verdacht auf Funde gibt, berichtet Schmeiduch. In der Regel seien größere Baumaßnahmen betroffen, hinter denen private Investoren oder, wie in Flintbek, öffentliche Träger stünden.
„Wir wissen recht gut, wo im Land interessante Stellen sind“, sagt Schmeiduch. Doch die Altertümer bleiben meist im Boden: „Wir hätten gar nicht genug Geld und Leute, um alles rauszuholen, außerdem sind die Artefakte unter der Erde am besten geschützt.“
Anstehende Bauarbeiten sind daher für die Archäologie Fluch und Segen zugleich: Sie vernichten zwar ehemalige Siedlungen, Gräber oder Werkstattplätze, aber sie ermöglichen auch Grabungen, durch die die Altertümer erstmals zum Vorschein kommen und untersucht werden. Alle Arbeiten finden unter Zeitdruck statt: „Wir kalkulieren vorher, wie lange wir brauchen, und alle Beteiligten bemühen sich, das auch einzuhalten.“
Bestattungsplatz oder Kultstätte?
In Flintbek waren acht Wochen vereinbart, ein Viertel ist noch übrig. Schmeiduch steht am Rand der Anlage, an der sie morgens die Perle gefunden hat. Im Boden zeichnet sich ein Kreis von neun Metern Durchmesser ab, ein Teil des Bodens ist mit Steinen bedeckt. Ähnliche Kreise wurden schon während der früheren Grabungen in Flintbek und im benachbarten Heikendorf gefunden, heißt es auf der Homepage des Archäologischen Landesamtes. Über die Bedeutung herrscht Rätselraten: Bestattungsplatz? Kultstätte? Herausfinden lässt sich das kaum.
Die Grabung bei Flintbek ist längst nicht die einzige, die das Archäologische Landesamt zurzeit beschäftigt. Die meisten Fachleute sind gerade bei Heide im Kreis Dithmarschen, wo eine Megafabrik für E-Auto-Batterien entstehen soll. Und ausgerechnet auf dem gewählten Bauplatz ist archäologisch jede Menge los. „Gräber, die direkt zwischen den Häusern liegen, jede Menge Fundstücke“, sagt Schmeiduch. „Das wäre unter normalen Umständen ein Forschungsprojekt für Jahre.“
Aber die Grabungsteams haben nur wenige Monate Zeit, der politische Druck ist groß, mit dem Bau loszulegen. Immerhin werden in Flintbek wie bei Heide die Fundstellen dokumentiert, fotografiert und eingezeichnet. Alle Scherben, Glasperlen, Feuersteinstücke werden eingetütet und im Archiv im Landesmuseum Schloss Gottorf gelagert: „Zukünftige Forschungen können Stück für Stück das große Puzzle der Geschichte Schleswig-Holsteins vervollständigen“, heißt es auf der Homepage des Landesamtes.
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