Berlins verarmte Kieze: Die Zukunft ist eine Baustelle
Der Mehringplatz ist einer der ärmsten Kieze Berlins, besonders die Jugend hat hier wenig Perspektive. Viele fühlen sich von der Politik vergessen.
D ie Kinder haben Weitsprung im Sportunterricht. Auf der zerschlissenen Kunststoffbahn der Kurt-Schumacher-Grundschule an der Putkamerstraße, einen Steinwurf entfernt vom kürzeren Ende der Friedrichstraße, da, wo gerade nicht mehr Mitte ist und Friedrichshain-Kreuzberg beginnt, stehen ungefähr 15 Kinder und feuern sich gegenseitig an. „Uuuuund … fliiieg“, rufen sie jedes Mal, wenn ein Kind Anlauf nimmt. Ein Mädchen lacht verlegen und ein bisschen stolz, ein Junge begutachtet kritisch seine Fußabdrücke im Sand.
Fliegen lernen ist für niemanden leicht. Die meisten Kinder der Kurt-Schumacher-Grundschule fliegen im wirklichen Leben nicht weit. Sie landen viel eher hart. Im zweitärmsten Kiez Berlins. Arm war noch nie sexy, und kaum irgendwo wird das so deutlich in Berlin wie hier, im Quartier Mehringplatz oder der Südlichen Friedrichstadt, wie der Kiez auch heißt.
Der Kiez mag sich zwar verändert haben in den letzten Jahren, mit teils hochpreisigen Neubauwohnungen zwischen Besselpark und Jüdischem Museum und Urban-Gardening-Projekten und ein paar neuen Cafés – auch die taz hat dort ihr neues Redaktionshaus gebaut. Aber hat dieser oberflächliche Wandel irgendetwas mit dem Quartier gemacht? Wie viel Zukunft hat dieser Kiez, wenn man mal die in den Blick nimmt, denen die Zukunft gehören sollte: den hier lebenden Kindern und Jugendlichen?
Lutz Geburtig, der Schulleiter der kurz KGS genannten Grundschule, ist ein drahtiger Mann in Cordhose, T-Shirt und Ledersandalen, eher Typ Sozialpädagoge als Amtsperson. Und obwohl er an diesem Septembervormittag wahrlich genug zu tun hat, weil der tägliche Orga-Wahnsinn läuft, führt er mit federnden Schritten zum „Skandal“, wie er sagt.
Arbeitslosigkeit 40 Prozent der im Quartier Mehringplatz lebenden 5.500 Menschen beziehen Transferleistungen (berlinweit sind es 16 Prozent). Die Arbeitslosenrate im Gebiet liegt bei 8,5 Prozent (Stand 2018, Berlin 4 Prozent).
Kinderarmut 64 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren in dem Quartier leben in Familien, die Transferleistungen beziehen (Berlin gesamt: 32 Prozent).
Menschen aus Einwandererfamilien 72 Prozent der Bewohner*innen des Quartiers haben eine familiäre Migrationsgeschichte (Stand 2019).
Jünger als 18 Jahre sind 22 Prozent der Bevölkerung. Auch damit sticht das Quartier Mehringplatz im Vergleich zu Friedrichshain-Kreuzberg (15,4) und Berlin (15,8) hervor. 18- bis 25-Jährige machen mit rund 53 Prozent über die Hälfte der Bevölkerung aus (Stand 2017, Quelle: Quartiersmanagement Mehringplatz und Bezirksamt). (grp)Der „Skandal“ ist eine Baustelle, das ehemalige Hauptgebäude der Schule. Seit 2012 wird es saniert, oder besser gesagt: Seit acht Jahren versucht der Bezirk, das Gebäude zu sanieren. Kurz vor Weihnachten 2012 war nämlich bei einer Kontrolle des Brandschutzes aufgefallen, dass der absolut unzureichend war: „Wir hatten hier F0, das heißt, die Gebäude hätten einem Feuer genau null Minuten standgehalten“, sagt Geburtig. Die Schule wurde über Nacht in das ehemalige Hortgebäude evakuiert. Und dort sind die aktuell rund 260 SchülerInnen immer noch. Eigentlich wollte der Bezirk die Schule in zwei Bauabschnitten sanieren. Wenn der erste fertiggestellt worden wäre, hätten die SchülerInnen den schon mal wieder nutzen können. Zwei, drei Jahre sollte das nur dauern.
Seither ist daraus eine Serie von Firmenpleiten und Fehlplanungen geworden. Warum, lässt sich im Nachgang schwer enträtseln. Das Bezirksamt erklärt das in langen, komplizierten Schreiben mit weiteren gefundenen Baumängeln, überarbeiteten Planungen und insolventen Firmen. Aber die Baumaßnahmen hätten „höchste Priorität“.
Geburtig sagt, er sehe das „große Bemühen aller Beteiligten“. Es gebe regelmäßig Baustellenbriefe von Baustadtrat Florian Schmidt (Grüne) und Gespräche mit Bauamt und Firmen. Fragt man aber, ob ihm das reicht, schaut er auf die offen liegenden Dämmplatten im ersten Bauabschnitt, die Kabel, die aus der Decke hängen, und sagt: „Aus meiner Sicht ist das ein Skandal – gerade hier.“ Damit meint er die Kinder in diesem Kiez: „Für sie regiert sehr oft ohnehin schon der Mangel, und das setzt sich auch an der Schule fort, an der es ihnen eigentlich besser gehen könnte.“ Da sei es doppelt bitter, dass auch an seiner Grundschule „der Mangel regiert“.
Die Gebundene Ganztagsschule kann so nicht leisten, was sie eigentlich müsste: Es fehlten Räume für AGs, Fachräume, eine Sporthalle, so Geburtig: „Wir können die Theater-AG nicht anbieten, wir haben keinen vernünftigen PC-Raum, wir können keine Sportangebote machen, weil die Hallenzeiten in den umliegenden Grundschulen begrenzt sind.“
Die Schülerschaft an der KGS: beinahe 100 Prozent Kinder aus Einwandererfamilien. Die meisten kämen aus deutscharabischen Familien, sagt Geburtig. Viele Eltern bezögen Transferleistungen, die Wohnverhältnisse seien oft beengt. Gymnasialempfehlungen gibt es wenige. Eltern ohne Migrationshintergrund geben ihre Kinder auf die Reinhardswald-Grundschule auf der anderen Seite des Landwehrkanals oder auf die Clara-Grunwald-Schule unweit vom Technikmuseum.
Es sei nicht so, dass „seine“ Eltern an der KSG sich nicht kümmern wollten. Sie hätten nur oft nicht die Zeit und die Mittel, sagt Geburtig. Er glaubt: Wäre diese Schule nicht am Mehringplatz, sondern irgendwo in Steglitz, könnte sich die Bezirkspolitik einen solchen Schul-BER – in Anlehnung an den ewigen Baustellenflughafen – nicht erlauben.
Das sieht auch Henrike Hüske so. Sie ist in der Gesamtelternvertretung der Schule, die manchmal nur aus zwei Anwesenden besteht, eine davon stets sie selbst. Sie ist in die Bezirksverordnetensitzungen gegangen und hat die Schulbaustelle dort zum Thema gemacht. „Dadurch ist das bei denen überhaupt erst auf die Agenda gekommen“, sagt sie.
Letzten Herbst, als klar war, dass ein Öffnungstermin auch zu diesem Schuljahr nicht zu halten sein würde, hat sie eine Menschenkette aus Eltern und SchülerInnen organisiert, die sich rund um die Schule postiert haben. Ende September haben Eltern mit ihren Kindern an einem Samstag ein Haus aus Bambus und Pappe auf dem Schulhof gebaut – einen Protestklassenraum.
Warum hier so vieles nicht möglich ist: Es fehlt an dem Selbstbewusstsein und dem Selbstverständnis, überhaupt etwas bewegen zu können. Proteste zu organisieren oder Eltern in die BVV zu bekommen ist fast unmöglich, sagt Hüske.
Sie selbst hat bereits zwei Kinder an der Schule, die dritte Tochter wird im kommenden Jahr eingeschult. Die Kita nebenan werde zwar internationaler und ziehe auch eine akademische Elternschaft an. Aber dann gingen die Eltern lieber woandershin, weil sie doch Sorge vor einem rauen Schulklima haben oder das Lernniveau an der Schule nicht hoch genug sein könnte, so Hüske.
Ganz unbegründet ist das nicht, gibt sie zu und erzählt, dass ihr ältester Sohn, inzwischen in der sechsten Klasse, es schwer habe in der Klasse. „Er will lernen und ist damit eher der Außenseiter.“ Bei der mittleren Tochter habe die Schulleitung ein bisschen auf die Klassenzusammensetzung geachtet, sei ihr Gefühl. Da säßen mehr Kinder, wo „die Eltern hinterher sind und Aufgaben sehen wollen“.
Hüske sagt, es gebe im Kiez wenige Angebote für Kinder im Grundschulalter. Das Familienzentrum Tam an der Wilhelmstraße ist eher etwas für Kinder im Vorschulalter. Der Jugendclub KMAntenne am Mehringplatz richtet sich an ältere Jugendliche. Die bezirkliche Musikschule ist weit weg, am Mariannenplatz, und Sportvereine seien „nicht so aktiv hier im Kiez“ – nicht zuletzt fehlt seit Jahren die große Doppelturnhalle der KSG.
Michael Etienne ist seit sechs Jahren Werkpädagoge an der Schule. Er hat eine eigene Werkstatt in einem Nebengebäude auf dem Schulhof. Was er über „seine“ Kinder sagt, die ein paar Meter entfernt auf dem Fußballplatz des Schulhofs kicken, klingt nüchtern. Das Schlimmste für die Kinder sei „die vorgelebte Ziellosigkeit“. Für viele sei „klar: Wir sind die Hartzer.“ Was sein Ziel ist, wenn er mit den Kindern an den beiden großen Werkbänken Holzhandys herstellt, Vogelhäuser baut oder die Kinder eigene Kleidungsstücke designen lässt? „Die Kinder sollen eine Idee bekommen, einen Impuls: Das kann ich gut, das will ich machen. Dann habe ich etwas erreicht.“ Gemeinsames Ausprobieren und Machen, dass die Kinder sich selbst und ihre Ideen als wirkmächtig begreifen, das sei zentral, sagt er.
Michael Etienne, Pädagoge
Am Mehringplatz vor dem Jugendclub KMAntenne, dem einzigen Freizeitangebot weit und breit nördlich des Landwehrkanals, hängen an einem Nachmittag Anfang Oktober Elias und Mustafa rum. Kann sein, dass das ihre richtigen Namen sind, vielleicht auch nicht, so genau wollen sie das nicht sagen. Sie sind Anfang 20 und haben Langeweile, also erzählen sie Geschichten. Von Privatgymnasien und Universitäten in Dubai, die sie besucht hätten, und von Wohnadressen in Charlottenburg. Mehr Kumpels kommen dazu, was sie noch so vorhaben? Bisschen was trinken, bisschen was rauchen, „den Kopf mal abschalten, verstehst du?“, sagt Elias.
Wenn man sie fragt, ob es sie stört, dass so viel Negatives über den Kiez berichtet wird in der Öffentlichkeit – die Obdachlosen, die Junkies, die TrinkerInnen, die auch an diesem Nachmittag sehr präsent sind auf dem Platz –, werden sie wütend. „Wieso, was soll denn hier sein?“, fragt Mustafa. „Wir können doch hier ganz prima stehen und reden, findest du nicht?“ Sie haben verständlicherweise keine Lust, sich und ihren Kiez irgendjemandem zu erklären, wozu auch?
Man müsse sich doch bloß umgucken, sagt Ilham, die im Café des Jugendclubs sitzt, das wegen Corona allerdings gerade nichts verkaufen kann. Die 21-Jährige wohnt am Mehringplatz und kommt seit Jahren in den KMAntenne. Als sie noch Schülerin war, sei es hier ganz in Ordnung gewesen am Platz. Dann fing der Bezirk mit der „denkmalgerechten Sanierung“ an, noch so eine ewige Baustelle. Seitdem fehle hier einfach eine Freifläche, sagt Ilham: „Und ist doch klar, dass die Leute dann aggressiv werden, hier wohnen viele Menschen sehr dicht aufeinander, man hört alles.“
Abends flöge gern mal alles Mögliche aus den Fenstern, wenn es zu laut werde – auf die Jugendlichen oder Obdachlosen. Ilham sagt: „Die Jungs suchen auch Stress, die quatschen Leute an, und dann gucken sie, was passiert.“ Wenn man Glück hat, fliegt bloß Obst, wenn man Pech hat, auch mal eine Mikrowelle. Auch das Drogenproblem habe sich auf den Platz verlagert, seit der kleine Park zwischen Halleschem Ufer und den Sozialbauten am Mehringplatz abgesperrt sei. „Jetzt sitzen die in den Hauseingängen und auf den Bänken, auf denen wir sonst gesessen haben“, sagt Ilham.
Wolfhard Schulze, der den Jugendclub seit Jahren leitet und auch im Bezirkssanierungsbeirat sitzt, könnte weit ausholen: Wie sich Bezirk und Land gegenseitig blockierten, weil die einen die Pläne machen und die anderen das Geld dafür lockermachen müssen, und wie man Beteiligungsformate für AnwohnerInnen ins Leere laufen lässt.
Ende August hatte der Jugendclub einen „Brandbrief“ an das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg geschrieben. Anlass war, dass ein junger Mann, der regelmäßig in der Antenne war, Suizid begangen hatte. „Sämtliche Lebensqualität“ sei dem Platz inzwischen abhanden gekommen, heißt es in dem Brief. „Es herrscht unter den Bewohner*innen eine große Unsicherheit, Müdigkeit und Verzweiflung über diese Umstände.“
Der Mehringplatz ist seit etwa einem Jahr dauerhaft umgeben von Bauzäunen. Überquert werden kann er nur über das darunterliegende U-Bahn-Gleis. Der Innenbereich soll eine Grünfläche, die verkehrsberuhigten Flächen des Platzes und der südlichen Friedrichstraße erneuert und umgestaltet werden. Noch dieses Jahr wird laut Bezirksamt die Außenbeleuchtung um den Platz erneuert, erst im Laufe des nächsten Jahres folgt die Umgestaltung des Innenbereichs zur Grünfläche. Das Ende der Bauarbeiten ist laut Bezirksamt für August 2021 geplant.
Der Besselpark am südlichen Ende der Friedrichstraße wurde seit August 2019 saniert. Die Eröffnung fand am vergangenen Mittwoch statt. (grp)
Und die Leidtragenden seien auch die Kinder, sagt Schulze. Zumal Corona die Angebote weiter schmälere: „Wir hatten hier vor Corona 500 bis 600 Kinder und Jugendliche pro Woche und 25 Bands, die hier geprobt haben“, sagt der Pädagoge, der die Gegend seit den Siebzigern kennt. Jetzt können sie weitaus weniger reinlassen in den offenen Bereich, wo es einen Sportraum gibt, Probenräume für Bands, einen Saal mit Bühne, ein Atelier für Graffitikunst und auch Hausaufgabenhilfe. „Wir haben hier alle Probleme der Welt“, sagt Schulze, „aber wir kommen auch immer an die Kids ran. Wir sind hier die, die sie von der Straße holen.“
Zurück auf der Schulbaustelle erzählt Elternvertreterin Hüske, dass ihre Kinder neulich ganz aufgeregt nach Hause gestürmt seien: „Mama, wir haben einen Bauarbeiter gesehen!“ Tatsächlich geht es voran, bestätigt auch das Bauamt: „Derzeit gehen wir von einer Baufertigstellung und einen Wiedereinzug der Schule in den Sommerferien 2021 aus.“
Einen Tag nach dem Treffen mit Hüske schaut Schulleiter Geburtig konsterniert auf das zerstörte Bambushäuschen, das die Eltern auf dem Schulhof gebaut hatten. Geburtig sagt, er lasse den Schulhof samt Fußballfeld immer nach Schulschluss offen – weil Freiflächen für die Kids fehlen. Eigentlich habe das immer gut geklappt, es gebe kaum Vandalismus. Bis jetzt.
Geburtig will an die Kinder hier glauben. „Es sind tolle Kinder. Ich wünsche mir, dass man sieht, was sie können, anstatt immer die Defizite zu sehen“, hatte er am Tag zuvor gesagt, als das Häuschen noch ganz war. Jetzt steht Geburtig ratlos vor dem Haufen aus Bambus und Pappe. Er sieht enttäuscht aus. Vielleicht muss er den Schulhof jetzt abschließen, sagt er. Zwei Schritte vor auf einer Baustelle, einen zurück auf einer anderen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen