Berliner Kliniken in der Omikron-Welle: „Ich würde sagen, es geht los“
Die Kliniken erwarten hohe Personalausfälle bei steigenden Patientenzahlen. Vorbereiten können sie sich kaum, sagt Intensivmediziner Jörg Weimann.
taz: Herr Weimann, Sie koordinieren das wöchentliche Netzwerktreffen der Berliner und Brandenburger Intensivmediziner:innen. Wo stehen die Kliniken im Moment?
Jörg Weimann: Die Inzidenzen schnellen jetzt in die Höhe, wie wir es erwartet und in Ländern wie England gesehen haben. Seit ein paar Tagen sehen wir schon mehr Patienten auf den Normalstationen. Ich würde sagen, es geht los.
Deutschlandweit sind vor allem nord- und westdeutsche Bundesländer betroffen, in die die Omikron-Fälle aus den Nachbarländern schwappten. Was ist Ihre Erklärung, warum auch in Berlin die Fallzahlen so hoch sind?
Chef der Anästhesie und interdisziplinären Intensivmedizin am Sankt-Gertrauden-Krankenhaus in Wilmersdorf. Er koordiniert das Save-Berlin-Netzwerk, in dem alle Berliner und Brandenburger Intensivstationen vertreten sind.
Wir haben es jetzt mit einem wirklich sehr viel mehr ansteckenden Virus zu tun, das auf eine sehr geballte Berliner Bevölkerung trifft, die auch noch im Vergleich sehr international ist. Omikron kam hier sehr schnell an, war sehr schnell dominierend und nun haben wir hier auch schneller die hohen Infektionszahlen.
Erwarten Sie wieder volle Intensivstationen?
Wir erwarten tatsächlich, dass es in ein bis zwei Wochen noch einmal zu einem Anstieg auf den Intensivstationen kommen könnte. In den vergangenen Wellen war ja das Hauptproblem, dass die Intensivstationen an der Kante waren. Vielleicht kommen sie da auch noch einmal hin, aber sie werden nicht mehr das alleinige Problem sein. Man muss klar sagen: Diese Pandemie ist jetzt nicht mehr eine Pandemie allein und vor allem der Intensivstationen.
Infektionen Die 7-Tage-Inzidenz steigt weiter deutlich: Von 856 am Vortag auf 919 am Donnerstag (Corona-Lagebericht, ohne Daten aus Marzahn-Hellersdorf, die aufgrund einer technischen Störung fehlen). Am stärksten betroffen ist Friedrichshain-Kreuzberg (1.398). Der Anteil der Virusvariante Omikron an den untersuchten Laborproben liegt bei 66 Prozent. Bundesweit beträgt die 7-Tage-Inzidenz 428. Nur in Bremen ist der Inzidenzwert mit 1.349 noch höher als in Berlin.
Im Krankenhaus Die Patientenzahlen liegen trotz der hohen Inzidenzen sowohl auf den Normalstationen als auch auf den Intensivstationen noch deutlich unter den Zahlen der bisher stärksten zweiten Welle im Winter 2020/21. Allerdings steht die Berliner Corona-Warnampel bei der Hospitalisierungs-7-Tage-Inzidenz seit ein paar Tagen auch auf Rot. Aktuell liegen 701 Personen mit Covid-19 im Krankenhaus, davon 194 auf einer der Intensivstationen. (taz)
Weil so viele Menschen geimpft und geboostert sind und weil Omikron weniger schwere Verläufe verursacht?
Richtig. Aber das Tückische ist jetzt: Es wird sich gleichzeitig sehr viel Personal in den Krankenhäusern krankmelden.
Man hört das bereits aus anderen Ländern: In Amsterdam und New York zum Beispiel fällt teilweise ein Viertel der Belegschaft aus, weil sie positiv sind. Wie bereiten Sie sich auf ein solches Szenario vor?
Der größte Teil unserer Kolleg:innen ist geimpft und geboostert. Nach der Anpassung der Rechtsverordnung müssen die Geboosterten nicht mehr in Quarantäne, das ist für uns total beruhigend. Aber unser Personal wird ja nicht nur ausfallen, weil sie selbst in Quarantäne oder Isolation müssen, sondern zum Beispiel auch, weil die Kita zumacht oder das Schulkind zu Hause bleiben muss. Groß vorbereiten können wir uns darauf nicht: Die Katastrophenschutzpläne in den Schubladen sehen für solche Fälle vor, dass wir zum Beispiel die Bundeswehr zu Hilfe rufen. Aber das wird nicht funktionieren. Denn dieser Ausfall ist etwas, was überall gleichzeitig passieren wird. Auch bei der Bundeswehr werden vielleicht 25 Prozent ausfallen, und sie wird auch aus anderen Bundesländern zu Hilfe gerufen werden.
Aber in der Vergangenheit war es doch schon so, dass die Hotspots immer in einzelnen Bundesländern oder Regionen lagen und entsprechend die anderen Bundesländer unterstützen konnten. Ist denn damit diesmal nicht wieder zu rechnen, wenn die Infektionswelle in Berlin jetzt zum Beispiel schon fortgeschrittener ist als anderswo?
Das kommt darauf an, wann die Welle wieder abflacht. Das können wir in den Ländern, die wir als „Laborländer“ betrachten – also vor allem England und Dänemark –, noch nicht genau beobachten. Wir haben die Hoffnung, dass diese Welle kürzer wird. Aber ich glaube, wir dürfen uns nicht einbilden, dass das hier nach ein oder zwei Wochen wieder vorbei ist.
Welche Folgen hätte denn eine solche Belastung aller Krankenhausbereiche aus Ihrer Sicht?
Wir haben jetzt schon nahezu alle verschiebbaren Behandlungen verschoben. Das wird noch weitergehen. Und diese Welle, die jetzt kommt, ist mit den vergangenen Wellen kaum vergleichbar. Dass Omikron weniger schwere Verläufe zur Folge hat, aber eben auch deutlich ansteckender ist und Geimpfte sich grundsätzlich auch infizieren können, ist die eine Veränderung. Die andere: Wir haben inzwischen ein anderes Gesundheitssystem, das ist komplett ausgelutscht. Wir haben Personal eingebüßt und das Personal, was noch da ist – da kann ja keiner mehr. Wenn wir wieder Patientenzahlen wie aus der zweiten Welle haben – egal auf welchen Stationen –, dann droht wirklich eine Überlastung.
Das klingt jetzt sehr pessimistisch. Wir haben zwar eine schlechtere Impfquote als in Dänemark und England. Aber dafür trifft uns die Omikron-Welle in einem Moment, in dem wir schon weitreichende Vorkehrungen wie Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen getroffen haben. Gibt es nicht auch die leise Hoffnung, dass es zu der von Ihnen beschriebenen Eskalation nicht kommt?
Ganz unberechtigt ist diese Hoffnung sicher nicht. Nun sind wir Intensivmediziner von Hause aus aber eher Pessimisten und bereiten uns aufs Schlimmste vor. Seriös wird Ihnen jedenfalls jetzt niemand sagen können, wie schlimm es wird. Aber wenn wir tatsächlich gleichzeitig einen hohen Ausfall in allen Lebensbereichen inklusive der Krankenhäuser haben und viele Patienten kommen – selbst wenn die nur Sauerstoff brauchen und jemanden, der nach ihnen schaut –, dann sind wir in einer Situation, in der gar nicht mehr viel geht. Es darf einfach nicht zu schnell gehen. Ich hoffe, dass durch die steigenden Fallzahlen die Leute noch ein bisschen vorsichtiger werden. Impfen und boostern ist wichtig, aber wird für die kritischen nächsten drei Wochen nur einen geringen Beitrag leisten. Das ganz am Anfang kennengelernte „Flatten the curve“ ist wieder das Gebot der Stunde.
Wann ist Ihr nächstes Treffen der Intensivmediziner:innen?
Wir besprechen uns jeden Dienstag. Dann wissen wir vielleicht auch schon mehr, das Bild wird ja jetzt jeden Tag etwas klarer. Ansonsten versuchen, glaube ich, alle, die können, noch einmal eine Mütze Schlaf und ein bisschen Ruhe zu kriegen. Und dann fahren wir rein in die Omikron-Welle.
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