Belarussisches Oppositionsmedium Nexta: Im Schwarm gegen Diktatoren
Gefüttert von zahlreichen Einsendungen hat sich Nexta zu einer der wichtigsten Newsplattformen Osteuropas entwickelt. Ein Redaktionsbesuch im Warschauer Exil
E ine Altbauvilla in der Innenstadt von Warschau, beste Lage, die Botschaften der USA und Frankreichs sind nicht weit. Der polnische Staat hat das Haus einer Stiftung belarussischer Oppositioneller zur Verfügung gestellt, und die gab hier ein Stockwerk an die Macher:innen von Nexta (Aussprache: Nechta).
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Seit Russland den Krieg gegen die Ukraine begann, ist das einstige Oppositions-Nachrichtenprojekt aus Belarus eine der wichtigsten Newsplattformen in Osteuropa geworden. „The largest Eastern European media. To let the world know.“ ist ihr Slogan.
Aus Sorge vor Angriffen aus Russland oder Belarus hielten die Macher sich seither bedeckt. Das Interview mit der taz ist das erste seit Kriegsbeginn. Drei junge Leute, alle Anfang 20, öffnen die Tür. Sie begrüßen einen freundlich, als komme man zum Vorstellungsgespräch in einer WG. Einer von ihnen ist Stepan Putilo, Nexta-Gründer, Chefredakteur und einer der wichtigsten belarussischen Dissidenten.
Auf den Tag genau sieben Jahre ist es an diesem Mittwoch her, dass Putilo Nexta als Youtube-Kanal gründete. Das erste Video, das er damals hochlud, war ein Clip namens „Es gibt keine Wahl“. Es ging um die Präsidentschaftswahl in Belarus 2015, bei der wie immer von vornherein klar war, dass Lukaschenko sich zum Sieger erklären würde.
An den Wänden der Nexta-Räume hängen Guy-Fawkes-Masken, wie Hacker und das „Anonymous“-Kollektiv sie gern verwenden. Putilo bittet in die Küche. Ein schneeweißer Hund liegt unter dem Tisch.
Ein Medium ohne eigene Webseite
Nexta hat keine eigene Webseite, die gesperrt, gehackt oder abgestellt werden könnte. Es verbreitet seine Inhalte über Soziale Medien: 1,9 Millionen Abonnent:innen hat Nexta auf Telegram, eine Million auf Twitter, eine Million auf Youtube, 250.000 auf Instagram. Im Minutentakt gibt es hier Nachrichten über den Krieg in der U-kraine, überwiegend auf Russisch, auf Twitter auch auf Englisch. Über kaum einen Kanal werden Videos, Bilder, Newshäppchen über den Krieg in der Ukraine schneller weitergeleitet und kommen in dichterer Folge als bei Nexta.
Es ist vor allem Telegram, durch das Nexta bis heute, trotz aller Medienkontrolle, in Belarus und Russland zugänglich ist. Und es gebe „sehr viele“ Zuschauer in Russland, sagt Putilo.
Der enormen Reichweite stehen begrenzte Mittel gegenüber. Neben Freiwilligen gebe es rund zehn bezahlte Stellen, sagt Putilo: „Die belarussische Staatspropaganda hat nicht glauben können, dass es technisch möglichlich ist, dass so ein kleines Team so viel schafft.“ Sie habe deshalb verbreitet, dass Nexta in Wahrheit ein „Zentrum für psychologische Einflussnahme“ sei.
Finanziert werden die Mitarbeiter:innen im Wesentlichen mit Werbung auf Youtube. Ein Redaktionsnetzwerk, mit Korrespondenten und Faktcheckern gar, ist so unfinanzierbar. Was hilft, ist der Schwarm. „Nexta“ heißt „jeder“ oder „jemand“. Jeder kann mitmachen, so ist das gemeint. „Unsere Follower schicken uns die Nachrichten“, sagt Putilo. Die schiere Menge würde die Nexta-Macher selbst überfordern. Immer zwei MitarbeiterInnen sind pro Schicht für jede Social-Media-Plattform zuständig. „Teils kamen 200 Nachrichten pro Minute, 50 bis 70 Videos pro Stunde“, sagt Putilo. Die Redaktion entscheidet, „was interessant und was relevant“ ist, sagt er.
Im polnischen Exil
Putilo, 24, ist Sohn eines belarussischen Fernsehjournalisten, der heute im Exil in Polen lebt. Er studierte Film- und Fernsehproduktion in Kattowitz und sendete vor allem auf seinem eigenen Kanal – Nexta. Sein 2017 auf Youtube veröffentlichtes Nexta-Video über die Todesstrafe in Belarus sahen über 5,5 Millionen Menschen. 2019 folgte der Dokumentarfilm „Lukaschenko. Ein Strafregister“. Es gab ein Strafverfahren wegen „Beleidigung des Präsidenten“. Seitdem reist Putilo nicht mehr nach Belarus.
Auf Youtube sendet Nexta zwei Mal pro Tag Nachrichten. Dazu gibt es „Jetzt wird es klarer“, ein Studiogespräch. Zuletzt wurde den Zuschauern dabei der Nordstream-Komplex erklärt. Neu ist ein Satireformat. „Man braucht Abstand von negativen Emotionen“, sagt Putilo. Insgesamt entsteht ungefähr eine Stunde Videomaterial pro Tag.
Der Sound lässt dabei nie Zweifel, auf welcher Seite man steht. Einer der Nexta-Macher sagte einst mit Blick auf Belarus, er sehe sich „nur verantwortlich im Hinblick darauf, ob es die Menschen zum Sieg führt und das Ende der Diktatur bringt“.
Was ist Nexta? Putilo überlegt. „Wir sind ein unabhängiges Medium,“ sagt er dann. Unabhängig von was? „Unabhängig davon, ob es positiv oder negativ ist. Wir berichten, wenn es wichtig ist.“ Ein politisches Projekt, liberal oder antiautoritär, dem man verpflichtet sei, das gebe es nicht.
Stepan Putilo
Sieht er keinen Unterschied zu konventionellen Medien? „Bei normalen Medien sind Journalisten vor Ort. Bei uns kommen die Meldungen von einer unbegrenzten Zahl von Menschen. Jeder kann hier Journalist sein.“ Ein „volksnaher“ Kanal sei das. „Bürgerjournalismus.“ Kämpft dieser Bürgerjournalismus mit in diesem Krieg? „Wir kämpfen, indem wir gegen russische Desinformation kämpfen.“
Und ja, natürlich wolle Nexta heute ebenso zum Sieg der Ukraine beitragen wie zum Sieg der Opposition in Belarus. „Es ist für uns sehr wichtig, dass die Ukraine siegt. Davon hängt das Schicksal von Belarus ab“, sagt Putilo.
Das Medium der belarussischen Proteste 2020
Nextas Reichweite explodierte während der Proteste nach der Präsidentschaftswahl in Belarus 2020. Nach dem offenkundig manipulierten Wahlgang musste die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja nach Litauen fliehen. Allein in den vier Tagen nach der Wahl wurden über 6.000 Menschen festgenommen, 250 verletzt und zwei getötet. Über Nexta koordinierten sich die Proteste, das Medium zeigte als erstes Bilder der Gewalt und Folter.
Die damals gesammelten Erfahrungen im Umgang mit einem stetigen Strom eingehender Nachrichten bereiteten Nexta auf die heutige Lage vor. Putilo hat erst spät erkannt, wie sehr Putins Angriff Nexta verändern würde. Obwohl die USA schon im Dezember 2021 vor einem Krieg warnten, sei ihnen erst bei der von Putin inszenierten Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates am 21. Februar klar geworden, was bevorstehe, sagt er. In den ersten Monaten des Krieges berichtete Nexta 24 Stunden.
Wer heute auf die Interaktionsrate, die Kommentare der nie ruhenden Social Media-Kanäle schaut, dem scheint es, als konstituiere Nexta einen ganz neuen Raum für eine transnationale, anti-autoritäre Öffentlichkeit Osteuropas. Putilo will davon nichts wissen. „Wir verbreiten Informationen“, sagt er dazu. Nicht mehr.
Gefährdet durch Viren, Fake-News …
Doch auch das gefällt nicht jedem. Unter den Nachrichten, die an Nexta geschickt werden, seien Viren und auch Fake News, die dazu gedacht seien, Nextas Glaubwüdigkeit zu untergraben. „Manchmal werden wir einfach zugespamt, manchmal bekommen wir Fotos mit verbotenen Inhalten“, sagt Putilo. Wladimir Solowjow, Moderator und einer der bekanntestem Propagandisten der russischen Staatsmedien, habe gar Falschmeldungen in den Nexta-Kommentarbereich gepostet, um Nexta diese anschließend in seiner Sendung vorzuwerfen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Was wahr ist, kann die Redaktion allein nicht entscheiden. Eine Verifikation ist für sie unmöglich. Nexta hat auch dies in den Schwarm ausgelagert. Es gibt Chatkanäle mit Freiwilligen, überall im russischsprachigen Raum. „Wenn wir Zweifel haben, schicken wir eine Nachricht da rein“, sagt Putilo. Zu den Prüfern gehören auch Investigativjournalisten. So könnten Fakes meist schnell erkannt werden. „Am Anfang hatten wir damit noch mehr Probleme, aber das ist jetzt besser geworden.“
Die Arbeit geht den Prüfern indes nicht aus. In dieser Woche sei im Netz ein Dokument aufgetaucht, in dem behauptet worden sei, dass Russland die „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“, ein Militärbündnis aus Ex-Sowjetrepubliken, aufgefordert habe, sich in der Ukraine einzumischen. „Für uns war von Anfang an klar, dass das ein Fake ist, obwohl sehr viele Medien das publiziert haben.“ Ähnlich sei es mit der kürzlich verbreiteten Behauptung gewesen, dass Polen auch in der westukrainischen Region Lwiw ein Annektions-Referendum plane. „Da haben wir auch gleich gepostet, dass das ein Fake ist.“ Russland verbreite sehr häufig Falschmeldungen. „Viele fallen darauf rein, sagt Putilo.
… und Morddrohungen
Doch bei Fake News bleibt es nicht. „Wir bekommen sehr viele Morddrohungem von russischen Accounts, die ankündigen, dass sie die Redaktion in die Luft sprengen oder Leute, die mit uns arbeiten, vergiften“, sagt eine Mitarbeiterin. Ein Stück weit habe sie sich an die Gefahr gewöhnt, doch ganz vermag man das nie.
„2020 sind wir zur Polizei gegangen“, sagt Putilo. Die habe die Sorgen ernst genommen. Seitdem steht ein Polizist vor dem Haus. Kameras überwachen den Eingangsbereich. Dass das Gebäude mitten im gut bewachten Botschaftsviertel stehe, gebe zusätzlich das Gefühl von Sicherheit. Mehr nicht. „Wir wissen, dass der Geheimdienst weiß, wo unsere Räumlichkeiten sind“, sagt Putilo. Doch wer genau sich wann hier aufhalte, das versuche man soweit wie möglich zu verschleiern.
„Du weißt ja wahrscheinlich, was mit Roman Protassewitsch passiert ist“, sagt Putilo.
Der belarussische Dissident Protassewitsch hatte sich 2020, damals 25 Jahre alt, Nexta angeschlossen. Putilo machte ihn zum Chefredakteur. Protassewitsch blieb allerdings nur kurz. Als Journalisten trennten sich ihre Wege, als politisch Verfolgte teilen sie weiter ein Schicksal.
Der Fall Roman Protassewitsch
Am 5. November 2020 wurden Protassewitsch und Putilo wegen der „Organisation von Massenunruhen“ und diverser andere Tatbeständte angeklagt. Protassewitsch kam auf eine KGB-Terrorliste und floh in die litauische Hauptstadt Vilnius. Putilo blieb in Warschau. Am 23. Mai 2021 flog Protassewitsch mit seiner Freundin Sofja Sapega mit den Ryanair-Flug 4978 von Athen nach Vilnius. Als das Flugzeug über Belarus war, leitete die Regierung das Flugzeug wegen einer möglichen Bombe an Bord nach Minsk um, eskortiert von einer MiG-29.
Putilo erfuhr in Warschau davon. „Ich dachte erst, das ist ein Witz“, sagt er. „Wir hatten darüber gesprochen, dass es wichtig ist, nicht über Belarus zu fliegen.“ Aber Protassewitsch habe sich nicht daran gehalten. Er und seine Freundin kamen in Gefängnis, danach in Hausarrest. Im Januar 2022 wurde bekannt, dass der belarussische Geheimdienst Protassewitsch, zusammen mit Stepan Puzila und anderen Dissidenten, eine „Verschwörung zur Machtergreifung“, „extremistische Formationen“ und Hochverrat vorwirft.
Putilo ist in Polen sicher, jedenfalls vor der Auslieferung, die Belarus im November 2020 beantragt hat. Anfang 2022 erklärte das Warschauer Bezirksgericht diese für unzulässig. Belarus verlange „die Auslieferung eines völlig unschuldigen Bürgers, nur weil er andere Ansichten hat als ein psychopathische Diktator“, sagte der Richter. Auch gegen ihn leitete die Generalstaatsanwaltschaft in Minsk daraufhin ein Strafverfahren ein.
Stellen sie Nexta ein, wenn Lukaschenko gestürzt ist?
Nein, sagt Putilo. „Es ist eine sehr bekannte Marke. Wir haben auf jeden Fall vor, das weiterzuentwickeln.“
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