Belarussisch-polnische Grenze: Getrieben von Angst
Die EU will die Flüchtlinge nicht haben und sieht von Kritik an Polen ab. Moralisch richtig wäre es, ein Verteilungsprogramm zu initiieren.
I n diesen Tagen zeigt sich der Effekt, den die vollständige Sperrung des östlichen Grenzgebiets durch die polnische Regierung hat: Sie allein kontrolliert die Bilder, die dort entstehen. Zu sehen sind Milizionäre, Truppenbesuche von Ministern in Tarnjacken. Es sind Bilder wie aus einem Krieg, und ein Krieg eint nach innen, gegen den äußeren Feind. Das ist der Nutzen, den die im eigenen Land derzeit nicht allzu beliebte Regierungspartei PiS aus dem Konflikt zieht.
Dazu passt, dass Polens Botschafter in Berlin gegenüber der Jungen Freiheit raunt, schon bald könne „der erste Schuss fallen“. Auch Lukaschenko produziert Bilder – von großen Märschen Geflüchteter, als handele es sich tatsächlich um Truppen, um Angreifer, wie von Polen behauptet wird. Die PiS kann dabei gelassen bleiben. Sie profitiert von der Eskalation. Der Druck, den Alexander Lukaschenko und Russland aufbauen, verlagert sich auf den Rest der EU. z
Dass diese mit Flüchtlingen tatsächlich erpressbar ist, hat ein anderer Diktator, nämlich Recep Tayyip Erdoğan, erfolgreich demonstriert. Und die EU bestätigt diese offene Flanke jeden Tag durch die Panik, die Flüchtlinge vor den Grenzen auslösen – und ihre Unfähigkeit, einen Umgang mit diesen zu finden. Von 2015 bis heute hat sie keinen Modus entwickelt, um deren Ankunft halbwegs menschenwürdig zu gestalten und die entstehenden Lasten zu verteilen.
Polen zu kritisieren wagt deshalb niemand – denn niemand will die Flüchtlinge haben. Eine Antwort, die zu den eigenen moralischen Standards und Rechtspflichten passt, gibt es aus der EU nicht. Ihr fiel nichts anderes ein, als die Sanktionen gegen Belarus am Dienstag zu verschärfen. Nichts spricht dafür, dass Lukaschenko einknickt – es läuft viel zu gut für ihn. Was der EU bleibt, ist die Angst: vor der anhaltenden moralischen Bloßstellung und vor der politischen Ausbeutung der Lage durch rechte Populisten.
Die AfD etwa postet derzeit weidlich Bilder aus dem Reich Lukaschenkos und erklärt diese zum Werk der angeblich von Deutschland „2015“ ausgesprochenen Einladung an „die ganze Welt“. Auch die CDU nutzt die Situation aus und warnt die Ampel mit Blick auf Belarus davor, die Bezüge für Flüchtlinge auf Hartz-IV-Niveau anzuheben.
Aus den Reihen der Ampel war am Dienstag „Nein zu Pushbacks“ und „Ja zu Solidarität“ zu hören. Für Deutschland kann das nur heißen, eine Initiative für ein Verteilungsprogramm zu starten, um Polen einen Teil der Ankommenden abzunehmen. Dabei werden derzeit nur wenige Staaten mitziehen. Ob sich die Ampel dies trotzdem traut, ist die große Frage – und ob Polen dies überhaupt zulassen würde, leider auch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr