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Beduinen in IsraelVorschnell als Terroristen bezeichnet

Polizei und Politik haben zu einem tödlichen Zwischenfall im Dorf Umm al-Hiran gelogen. Dadurch standen Beduinen unter generellem Verdacht.

Ein zerstörtes Gebäude in Umm al-Hiran nach dem Polizeieinsatz vom 18. Januar Foto: reuters

Jerusalem taz | Es ist einer jener Polizeieinsätze, die die Kluft zwischen den Beduinen und dem israelischen Staat ins Rampenlicht von Politik und Öffentlichkeit rücken. Und dabei zugleich die Frage aufwerfen, warum zuerst die Polizei und dann auch die Politik eine Version vom Ablauf eines Ereignisses abgeben, die sich später als unhaltbar erweisen soll.

Mitte Januar werden bei einem Polizeieinsatz in dem Beduinendorf Umm al-Hiran im Negev zwei Menschen getötet. Einer ist der Beduine und Mathematiklehrer Yakub Musa al-Kiyan und der andere der israelische Polizist Erez Levi. Der Zwischenfall ereignet sich bei dem Versuch der Polizei, das Beduinendorf zu räumen und mehrere Gebäude zu zerstören. An seiner Stelle des Dorfes soll eine jüdische Siedlung gebaut werden.

Polizisten verdächtigten am 18. Januar den Lehrer al-Kijan, aus Protest gegen den Polizeieinsatz seinen Wagen gezielt auf Polizisten zu lenken und einen Terroranschlag zu planen. Sie schossen auf das Fahrzeug des 48 Jahre alten Familienvaters. Abu al-Kijan verlor dabei die Kontrolle über sein Fahrzeug und rammte einen Sicherheitsbeamten. Der Mann erliegt später seinen Verletzungen. Diese Version der Ereignisse, auf die Augenzeugen und Angehörige Abu al-Kijans von Beginn an beharrten, gewinnt jetzt infolge von Ermittlungen des Justizministeriums, dem unter anderem Videoaufnahmen vorliegen, an Glaubwürdigkeit. Der komplette Bericht soll in den kommenden Tagen veröffentlicht werden.

Umm al-Hiran ist eins von mehreren Dutzend staatlich nicht anerkannten Dörfern im Negev. Die Beduinen siedeln seit über 60 Jahren auf dem Land ohne Baugenehmigungen und meist ohne jede Infrastruktur. Ein Regierungsplan sieht vor, die Bevölkerung aus den nicht anerkannten Dörfern umzusiedeln und in Städten zu konzentrieren. Obschon die Beduinen mit alternativem Wohnraum kompensiert werden, weigern sich viele, vom vertrauten Lebensraum und ihren Gewohnheiten Abschied zu nehmen.

Aus Umm al-Hiran waren nur ein paar Dutzend Familien freiwillig in die 1989 für die Beduinen gegründete Stadt Hura umgezogen, wo 150 Baugrundstücke für die Leute aus Umm al-Hiran bereitstehen. Mehrere hundert Beduinen blieben trotz der vom Obersten Gerichtshof angeordneten Räumung Umm al-Hirans in ihrem Dorf, das dem Erdboden gleichgemacht werden sollte.

Zeitgleich: Räumung der wilden Siedlung Amona

Laut Ermittlungen hatte sich Abu al-Kijan mit einer Geschwindigkeit von nur 20 Stundenkilometern genähert. Außerdem habe er im Gegensatz zu Aussagen von Beamten die Scheinwerfer seines Wagens eingeschaltet. Auch die Entfernung, aus denen die Schüsse der Polizeibeamten abgegeben wurden, sei deutlich größer gewesen, als die Beamten es eingeschätzt hätten. Die liberale Ha’aretz zitiert einen Rechtsexperten, der die Untersuchungsergebnisse als „nicht gut für die Polizei“ bezeichnete.

Politiker, allen voran Regierungschef Benjamin Netanjahu, hatten den Mathematiklehrer al-Kijan vorschnell als Terroristen bezichtigt. „Wir kämpfen gegen dieses mörderische Phänomen (der Auto-Attentate), das sowohl Israel als auch die Welt betrifft“, kommentierte Netanjahu.

Gilad Erdan, Minister für Öffentliche Sicherheit, brachte al-Kijan mit islamistischen Terrorgruppen in Verbindung, und auch Polizeichef Roni Alscheich nannte den Lehrer aus Umm al-Hiran einen „verabscheuungswürdigen Terroristen“. In der vergangenen Woche änderte Erdan seinen Ton, sprach von einem „bedauernswerten Zwischenfall“, bei dem „ein Polizist und ein Zivilist“ getötet wurden“. Sahava Galon, Vorsitzende der linken Partei Meretz, forderte zur Entlassung Alscheichs auf, dessen Amtszeit sie als „fortdauernde Katastrophe“ bezeichnete.

Zusätzlicher Zündstoff für die Debatte um die Ereignisse in Umm al-Hiran ist die nahezu zeitgleich vorgenommene Räumung der wilden Siedlung Amona im Westjordanland. Während die Sicherheitskräfte in Umm al-Hiran bewaffnet und in Schutzuniformen im Einsatz waren, kamen die Polizisten ohne Waffen und in Trainingsanzügen zur Räumung Amonas. Aus Sorge vor Eskalationen ließen sich die Polizeibeamten in Amona fast zwei Tage Zeit, um ein paar Extremisten aus der Siedlung zu tragen. Menschenrechtsaktivisten kritisierten die Tatsache, dass die Polizei bei der Räumung des Beduinendorfes Umm al-Hiran überhaupt bewaffnet war. Die Koalition gegen Rassismus verurteilte „die Eskalation und die exzessive Polizeigewalt, die den Tod zweier Menschen forderte“.

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