piwik no script img

Bedeutung von MarktplätzenOrte der Begegnung

Antikes Wissen kann in einer zerfallenden Gesellschaft nicht schaden. So erkundet der Ethikrat auch im Fitnessstudio aktuelle Spielarten der Agora.

Mit Fitness auf den Marktplatz Foto: picture alliance/dpa/Oliver Dietze

K ürzlich war ich in einem Fitnessstudio, um herauszufinden, ob meine sportliche Zukunft dort liegen könnte. Meine sportliche Vergangenheit liegt beim Yoga, das ich wegen Freudlosigkeit und Erleuchtungsanteilen aufgegeben habe. Ich habe auch Tennis und Boxen und andere Sportarten probiert, für die ich zu wenig motorisches Talent besitze. Mir scheint, dass man sich Sportarten auswählt wie bestimmte Hunderassen, Parcourslaufen etwa, weil man etwas Windhundartiges gewinnen möchte, aber ich musste erkennen, dass ich kein Windhund bin.

Ich saß in einem zellenartigen Trainingsgerät, von dem ich nicht wusste, wie es funktionierte, als ich den Ethikrat durch die Tür kommen sah. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Der Rat trug Gymnastikhosen und Turnschläppchen, die seine Würde nicht beeinträchtigen konnten.

Eines der Mitglieder, die in der Regel schweigen, trug einen Korb, in dem eine Wasserflasche und drei Birnen lagen. „Guten Tag, Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende und nickte mir aufmunternd zu, „erproben Sie sich am Ellipsentrainer?“ „Nicht ausgeschlossen“, murmelte ich und zerrte ergebnislos an einer Stange. „Und Sie?“

„Wir erkunden aktuelle Spielarten der Agora“, sagte der Ratsvorsitzende, während die beiden Mitglieder, die in der Regel schweigen, zwei fahrradartige Geräte bestiegen. „Agora?“, sagte ich mürrisch, denn es genügte mir, motorisch mangelhaft zu sein. „Der antike Marktplatz“, rief eines der Ratsmitglieder von seinem Fahrrad herüber, „der Ort, an dem sich die Polis versammelte.“ „Das kann man schon wissen“, sagte ein bulliger Mann, der neben uns auf einer Art Streckbank lag. Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört. „In Zeiten, in denen die Gesellschaft immer partikularer wird, sind Orte, an denen sie sich schichtenübergreifend trifft, um so bedeutsamer“, sagte der Vorsitzende und klopfte probeweise auf eine der Stangen an meiner Zelle. „Vielleicht ziehen Sie einmal hier.“

Die verlorene Agora: Karstadt und Volkshochschulen

Ich sehe die Bedeutung der Agora, flüsterte ich, „aber wo ist eine?“

„Ist das nicht eine der Ideen, die theoretisch hoch und praktisch klein gehalten werden?“, sagte ich und zog aus Prinzip nicht an der Stange. „Ich meine, statt in den Turnverein schickt die Mittelschicht ihre Kinder in die Zirkusschule, weil es hipper und nebenbei exklusiver ist.“ Ich stoppte, weil mir selbst das Beispiel nur mittelgut schien, aber auch, weil der bullige Mann sich zu uns beugte. Der Ethikrat ist als ethische Anlaufstelle in vielem zweifelhaft, dennoch will ich ihn nicht mit bulligen altklugen Männern teilen.

„Ich sehe die Bedeutung der Agora“, flüsterte ich, „aber wo finden Sie denn heute noch etwas Vergleichbares? Es gibt ja nicht mal mehr die Kaufhäuser. Wenn man notwendigerweise aufeinander stößt, etwa im Bus, macht man einen Videocall oder hört einen Podcast über die zerfallende Gesellschaft und klinkt sich damit unansprechbar aus ins Private.“

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Ich stoppte erneut. Dies war nicht der Tag besonders guter Argumente, es sei denn, man ließe Karstadt als verlorene Agora durchgehen. „Vielleicht noch in der Volkshochschule“, fuhr ich fort, „wo man gemeinsam etwas lernen möchte.“

„Ich finde ja die Verbindung zu den Volksuniversitäten bemerkenswert“, sagte der bullige Mann und legte seine Hantel beiseite, „gerade in ihrer Betonung der plebejischen Tradition.“ „In der Tat“, sagte der Ratsvorsitzende interessiert und setzte sich neben ihn auf die Streckbank. Die beiden anderen Ratsmitglieder stellten den Korb mit den Birnen zu ihnen.

Ich zog an der Stange meines Trainingsgeräts, das sich über mich stülpte wie ein Käfig. „Ich bin gefangen“, rief ich, aber niemand hörte mir zu.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Friederike Gräff
Redakteurin taz nord
Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!