Bouldern in der Halle: Zwischen Fußgeruch und Seelenheil

Bei Skoliose oder Depressionen: Bouldern gilt mittlerweile als Allheilmittel. Doch was ist der Reiz daran, an Kunststoffparcours zu klettern?

Kletterer in einer Boulderhalle.

Bouldern bietet weniger Potenzial für Rumgemacker Foto: Zoonar/imago

Letztens sagte eine Kollegin: „In Boulderhallen stinkt es immer so nach Fuß“, und ich wurde stutzig. Bouldern ist allgegenwärtig, auch in meinem Umfeld. Einer kokst jetzt nicht mehr und geht bouldern, andere sagen, es ginge ihnen psychisch besser. Ein weiterer Bekannter erzählte mir kürzlich von einem Date in einer Boulderhalle, denn das sei besser, als immer nur rumzusitzen und sich drei Bier reinzuschütten. Bouldern, eine etwas ansprechendere Bezeichnung fürs Klettern ohne Seil in Absprunghöhe an Felsblöcken oder künstlich angelegten Parcours, scheint Allheilmittel zu sein. Ich frage mich trotzdem: Warum zieht es Menschen in ganz Deutschland in stickige Hallen mit Fußgeruch?

Ich persönlich habe Bouldern lange aus einer Abneigung gegen alles hippieeske heraus abgelehnt. War mir irgendwie zu sehr verknüpft mit Großstadt-Barfußläufern und Wursthaaren. Und mit dieser ignoranten Einschätzung lag ich natürlich völlig daneben. Genauso wie Bodybuilder auf Testosteronspritze nicht die Hauptzielgruppe von Fitnessstudios sind, bouldern nicht nur Hippies mit Klangschale im Leinensack. Rund 300.000 Bouldernde, die es nach Auskunft des Deutschen Alpenvereins (DAV) mittlerweile gibt, können nicht lügen und ohnehin: In Boulderhallen herrscht Schuh- oder mindestens Sockenpflicht.

Bouldern liegt in Deutschland schon seit Jahren im Trend und ist seit 2020 sogar olympische Teildisziplin. Elias Hitthaler vom DAV spricht von 560 Anlagen deutschlandweit, in denen gebouldert werden kann. Zum Vergleich: Im Jahr 1990 gab es gerade mal 20 Anlagen, zehn Jahre später immerhin 150. Seitdem eröffnen jährlich neue Boulderhallen.

In der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, wurden letztens sogar Boulderparcours in die einst größte Großraumdisko Europas gepflanzt. Das „Megadrome“ wurde zum „Boulderdrome“ und das ergibt durchaus Sinn. Denn genauso wie fast alle im Club tanzen gehen können, die Lust darauf haben, hat auch das Bouldern sehr niedrige Einstiegshürden.

Kaum Equipment

Das sehen auch die Betreibenden mehrerer Berliner Boulderhallen ebenso wie Hitthaler vom DAV als Grund für den Hype. Es braucht letztlich nicht viel Equipment: ein paar passende Schuhe und vielleicht noch einen Beutel mit Chalk, also Magnesiumkarbonat, das man in den Händen verreibt und das für besseren Grip sorgen soll. Bei leichten Parcours ist das Verletzungsrisiko verhältnismäßig gering, solange man lernt, richtig zu fallen. Außerdem, sagt Hitthaler, trainiere der Sport den ganzen Körper.

An der Universität Potsdam wurde in den vergangenen Jahren zum Einsatz von Bouldern als Therapieangebot für Jugendliche Skoliosepa­ti­en­t*in­nen geforscht. Das sogenannte Potsdamer Modell findet mittlerweile schon Anwendung und wird weiter perfektioniert. Es gehe darum, Bewegungen an der Kletterwand zu systematisieren, um sie als Therapieübungen anzuwenden, sagt Silas Dech, der das Modell weiterentwickelt hat. Der Stand der Forschung zeigt, dass die spezielle Art des Boulderns mindestens gleich gut wirkt wie Physiotherapie. Heißt: Skoliose wird nicht unbedingt geheilt, aber eine potenzielle Verschlechterung wird durchs Bouldern aufgehalten, was durchaus ein Erfolg ist.

Doch nicht nur für den Körper, sondern auch für die Psyche soll Bouldern gut sein. Das sagen nicht nur meine Bekannten, sondern auch die seit zehn Jahren andauernde Forschung von Wis­sen­schaft­le­r*in­nen der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Die fragten sich, inwiefern Bouldern gegen Symptome von Depression helfen kann. Die bisherige Erkenntnis: Bouldern wirkt. Es hilft dabei, bei sich selbst zu bleiben, und kann einen aus dem Zustand des Grübelns herausholen. Die schnellen Erfolge steigern das Selbstwertgefühl. Auch gegen soziale Ängste kann Bouldern helfen. Der Sport sei dadurch ein niederschwelliger erster Weg, um gegen eine depressive Episode anzuarbeiten, zum Beispiel während der Wartezeit auf einen Therapieplatz.

Gebouldert wird seit den 70ern

Dass mittlerweile schon zu Bouldern geforscht wird, hat auch damit zu tun, dass der Sport in Deutschland schon ziemlich lange ein Ding ist. Zumindest in einer Nische. Denn gebouldert wird seit den 70er-Jahren, damals hieß es nur noch nicht so. Und zwar nicht in irgendeiner schicken Halle in Berlin, sondern in der Fränkischen Schweiz in Oberfranken.

Doch heutzutage felsblockklettern eben fast keine Visionäre mehr durch die oberfränkische Natur und machen sich schmutzig. Boulderhallen und ihre Parcours erinnern mittlerweile mal an sleeke Designobjekte, mal an Elemente eines Hundertwasserhauses. Die farbigen, an die Wand geschraubten Elemente könnten auch Teile von experimentellen Möbelvariationen sein.

Statt After-Work-Drink in der Bar, geht’s jetzt halt zum After-Work-Klettern in der Halle, in der es dann aber auch eine Bar mit überteuertem Bier gibt. „Für manche ist Bouldern vielleicht schlicht ein guter Ersatz für das Fitnesstudio“, sagt Hitthaler vom DAV, „für manche dann schon Lifestyle.“

Ziemlich deutsch

Und als Lifestyle ist Bouldern, auch wenn es nicht von hier kommt, ziemlich deutsch. Es ist ein gediegener, unglamouröser Sport, der sehr viel Präzision erfordert. Bouldern hat kein subkulturelles Potenzial wie Skateboar­ding. Boulderkleidung hält im Gegensatz zu Goretex-Jacken von Bergsteigern oder Caps von Singlespeed-Radfahren auch nicht als Fashion-Statement her. Und ein Großteil der Indoor-Felsblock-Kletterer eignet sich keinen Raum an, will mit seinen Bewegungen nicht die Verhältnisse infrage stellen, handelt nicht subversiv, aber ist auch nicht so versnobt wie Golfer*innen.

Menschen bezahlen Eintritt, um sich in einer Halle, in der es nach Fuß riecht, an Kunststoffelementen entlangzuhangeln. That’s it. Und das reicht auch völlig aus. Denn Bouldern bietet dadurch weniger Potenzial für Ausgrenzung, Rumgemacker, Hierarchien. Es wird zwar geglotzt, aber eher im emphatischen Sinne. Man will nicht gaffen, sondern lernen. Es ist kommunikativ, nicht sonderlich kompetitiv und abgesehen vom Training verschiedenster Muskelgruppen wahrscheinlich auch deswegen so gut für Körper und Psyche, weil man sich nur auf das Klettern selbst konzentrieren und dabei nicht auch noch irgendwelche Szenecodes erfüllen muss.

Ich schaue also Videos von Boulder-Worldcups mit Millionen Klicks bei YouTube. Profis klettern, nein, tanzen grazil Wände hinauf, schwingen sich von Griff zu Griff. Es sieht gut aus, denke ich und dass es eigentlich keine Argumente gibt, die gegen Bouldern sprechen. Ich beschließe also auch, eine Boulderhalle zu besuchen, es geht hier schließlich um knallharte Recherche. In meiner Vorstellung schwinge ich grazil durch die Luft, so wie die Profis bei den Worldcups.

In der Realität sieht es anders aus. Die Halle ist voll, es riecht nur ein bisschen nach Fuß, aber auch nach anderem Schweiß, nach Desinfektionsmittel und manchmal ziemlich neutral. Um mich herum Bouldern mehr Männer als Frauen, meistens um die 30, meistens mit eher trainierten Körpern, glücklich vor sich hin, feuern sich leise an, fausten sich ab, wenn was geklappt hat, aber schreien nicht so blöd rum, wie beim Fußball. Alles ist irgendwie: ganz lieb. Und das ist es wahrscheinlich, das entspannt den Geist, den Körper, nimmt den Druck. Ich scheitere an Schwierigkeitsstufe zwei, bekomme eine aufmunternde Faust entgegengestreckt und gehe entspannt nach Hause. Bouldern ist süß.

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