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Autor Viktor Martinowitsch über sein Land„Die Belarussen sind nicht schuld“

Viktor Martinowitsch schreibt Romane, die in Belarus nicht in die Läden kommen. Ein Gespräch über Isolation und Hoffnung.

Viktor Martinowitsch lebt in Minsk. Er lehrt an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius Foto: Thomas Dashuber
Jens Uthoff
Interview von Jens Uthoff

Viktor Martinowitsch sitzt an einem Märzvormittag in der Arbeitswohnung seines Verlegers in München-Haidhausen an einem Konferenztisch. Der belarussische Schriftsteller trägt Jackett und Hemd, hat die Haare hochgekämmt, blickt starr auf eine Tasse Kaffee vor ihm. Am Vorabend hat die Theateradaption seines Romans „Revolution“ in München Premiere gefeiert, Martinowitsch stellte zudem seinen Roman „Nacht“ vor.

wochentaz: Herr Martinowitsch, Sie leben weiterhin in ihrer Heimat Belarus, obwohl Ihre Bücher dort aus den Läden verbannt wurden und Sie nicht auftreten können. Würden Sie sagen, Sie befinden sich im inneren Exil?

Viktor Martinowitsch: Der Begriff des inneren Exils ist wohl zutreffend. Meine Bücher „Revolution“ und „Nacht“ sind in Belarus erschienen, aber dann aus den Regalen entfernt worden. Seit drei Jahren habe ich in meinem Heimatland keine Bühne mehr betreten, mein letzter Facebook-Post ist ein halbes Jahr her. In Belarus bin ich als Schriftsteller und Autor unsichtbar geworden.

Sie leben in Minsk. Wie ist dort die Atmosphäre zweieinhalb Jahre nach der gescheiterten Revolution und nach all den Gewaltexzessen des Regimes gegen die Opposition?

Im Interview: Viktor Martinowitsch

Viktor Martinowitsch 45, Autor lebt in Minsk. Er lehrt an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius. Wurde bekannt mit den Romanen „Paranoia“ und „Revolution“ (beide Vo­land & Quist). Sein aktueller Roman: „Nacht“. Aus dem Rus­sischen von F. Zwerg, Europa Verlag, München 2023. 424 S., 26 Euro

Die Situation lässt sich kaum in wenigen Worten beschreiben. Erst einmal gibt es keine unabhängigen Medien mehr. Es gibt Telegram, ja, aber wenn man dort bestimmte Kanäle abonniert hat, kann man ins Gefängnis kommen. Die offizielle Zahl der politischen Gefangenen ist erschreckend hoch, daneben gibt es eine große Anzahl von Menschen, die ohne rechtsstaatliches Verfahren 15 Tage inhaftiert werden – das ist ein Standardstrafmaß bei den willkürlichen Festnahmen. In einem belarussischen Gefängnis reichen 15 Tage aus für ein Trauma. Ein vorherrschendes Gefühl im Land ist Einsamkeit. Auch für mich persönlich, ich fühle mich allein und isoliert. Meine beiden Hände reichen nicht aus, um zu zählen, wie viele gute Freunde von mir derzeit im Gefängnis sind. Und diejenigen, die nicht im Gefängnis sind, sind geflohen.

Wieso bleiben Sie dennoch in Minsk, wieso setzen Sie sich großer Gefahr aus?

Ich bin der Meinung, die wichtigen Bücher über diese dunkle, dunkle Zeit, in der wir leben, werden von denen geschrieben, die diese Zeit vor Ort selbst erleben und bleiben.

Sie können zwar arbeiten und schrei­ben, aber nicht in Belarus publizieren.

Ich dachte, ich könnte das System überlisten, indem ich ein Märchen schreibe. Das war eine lustige Geschichte. Ich habe ein Märchen für Kinder geschrieben, das in einer Katzenwelt spielte. Ich schickte das Manuskript einem Verlag zu. Sie sagten: Okay, wir werden das Buch veröffentlichen. Doch einen Monat, nachdem ich den Text eingereicht hatte, wurde in Belarus Joseph Brodskys „Ballade vom kleinen Schleppboot als „extremistisch“ eingestuft und verboten – ein Kindergedicht! Daraufhin sagte mir mein Verleger, wir müssten warten mit der Veröffentlichung. Bis heute ist das Märchen nicht erschienen. Ich kann also nicht einmal ein Kinderbuch in Belarus veröffentlichen. Ich kann nur dasitzen, Musik hören und viel lesen.

Musik spielt ja des Öfteren eine Rolle in Ihren Romanen. Welche Musik hören Sie?

Ich höre Bachs „Matthäus-Passion“, besonders das Stück „Erbarme dich, mein Gott“ rührt mich geradezu zu Tränen. Ich liebe auch Haydn und Mozart, und mein Meister des Schmerzes ist wohl Monteverdi. Aber ich lege auch alte Songs von David Bowie oder Pink Floyd auf. Ich habe einen Keller mit einer guten Hi-Fi-Anlage. Da sitze ich gern mal einen Abend lang und höre Musik.

Woran schreiben Sie gerade?

Gerade arbeite ich an einem Text über die Macht des Guten oder die Macht der Güte. Abstrakt gesprochen geht es darum, wie das Gute das Böse bezwingen kann, ohne selbst zum Bösen zu werden. Wie können wir die Brutalität und die Gewalt stoppen, ohne selbst zu Gewalt zu greifen? In Belarus sind wir allerdings in einer Situation, in der es so viel Brutalität gegeben hat, so viele Menschen inhaftiert worden sind, dass eine solche Überlegung sinn- oder aussichtslos erscheint.

Auch wenn wir an den Krieg in der Ukraine denken, scheint das derzeit nur ein philosophischer Gedanke, nicht aber eine realpolitische Option zu sein.

Ja. Es ist zu spät. Erst wenn der Krieg gestoppt wird – und es wird unmöglich sein, ihn mit einfachen Mitteln zu stoppen –, kann man wieder über Worte nachdenken und über so etwas wie Güte.

Die Belarussen werden jetzt oft als Aggressor gesehen, gerade von Ukrai­nern. Wie bewerten Sie das?

Ich verstehe die Ukrainer auf der einen Seite, weil ich mir vorstellen kann, wie viel Schmerz sie erlitten haben. Ich kann nur betonen, dass die belarussische Bevölkerung nicht schuld ist. Wir haben in den vergangenen drei Jahren viel getan, um zu zeigen, dass wir nicht für die Taten verantwortlich sind, die in unserem Namen begangen wurden und werden.

Fragen Sie sich manchmal, was passiert wäre, wenn die Revolution in Belarus 2020 erfolgreich gewesen wäre?

Für mich ist klar, dass der Krieg dann eineinhalb Jahre früher begonnen und auf unserem Territorium stattgefunden hätte. Russland hätte darauf ähnlich reagiert wie auf den Euromaidan und den Sturz Wiktor Janukowitschs in der Ukraine.

Schreiben Sie eigentlich derzeit auf Russisch oder auf Belarussisch?

Das Kindermärchen habe ich in belarussischer Sprache geschrieben, ebenso ein Theaterstück über den Tod eines Dichters. Das Stück reichte ich Anfang 2021 ein, es wurde angenommen, ich erhielt einen Vorschuss. Dann wurde es vom Staat abgesetzt, und ich musste das Geld zurückzahlen. Inzwischen schreibe ich auch deshalb zum Teil auf Russisch, weil ich weiß, dass ich in Belarus nicht veröffentlichen kann. Es gibt mehr Übersetzer aus dem Russischen als aus dem Belarussischen, das macht es einfacher für mich.

Ihre jüngsten Bücher lesen sich wie düstere Prognosen. In „Nacht“ (im Original 2018 erschienen) folgt man dem Protagonisten, dem Antiquar Knischnik, durch ein postapokalyptisches Belarus, das an ein Schlachtfeld erinnert.

„Nacht“ vermittelt das Gefühl, das ich vor dem russischen Angriffskrieg hatte und das ich auch jetzt noch habe: Wir leben in einem neuen Zeitalter der (Selbst-)Zerstörung. Als ich die ersten Berichte über das bombardierte Kyjiw gelesen habe und die Menschen, die in der Dunkelheit ausharren müssen, hatte ich viele Flashbacks zu dem Romantext. Viele Menschen sind aus Belarus in die Ukraine geflohen, weil sie dachten, das sei ein sicherer Hafen. Was für ein Irrglaube.

Sie sagten bei Ihrer Lesung in München, „Nacht“ sei eine Parabel. Blicken Sie also ausschließlich pessimistisch in die Zukunft?

Im Moment ja, das will ich nicht bestreiten. Es fühlt sich an, als sei diese Welt an ein Ende gekommen – hier im wohlhabenden München ist es weniger offensichtlich, in Belarus dagegen schon. Man spürt sehr konkret, was schiefläuft in der Welt. Und Sie können sich vorstellen, wie viele Menschen in Uniform auf den Straßen dort unterwegs sind.

Sollte das russische Regime fallen oder Russland besiegt werden, könnte es aber doch Hoffnung geben.

Selbst wenn das passieren sollte: Was für ein Russland wird das danach sein? Ich bin mir nicht sicher, ob ein anderes Russland mit Atomwaffen auf seinem Territorium sicherer wäre als das jetzige Russland.

In „Nacht“ beziehen Sie sich auf die Erzählungen des griechischen Geschichtsschreibers Herodot. Welchen Hintergrund hat das?

Die Historien des Herodot sind meine Lieblingserzählungen, noch vor Suetons Bücher über das Leben der Kaiser. Herodot behandelt Geschichte auf eine andere Art und Weise als wir in der heutigen Zeit, er behandelt sie als etwas Flüssiges, Dehnbares. Er erschafft Geschichte gewissermaßen. Vielleicht kennen Sie auch Umberto Ecos Roman „Baudolino“: Dort werden all die wundersamen mittelalterlichen Gestalten in der Handlung irgendwann real. Das ist ähnlich wie bei Herodot: Fantasie und Realität werden vermischt. Das heißt auch: Man muss kritisch sein, wenn man es liest.

Man merkt Ihnen und Ihrer ­Literatur an, dass Sie versuchen, den Humor zu bewahren. Gibt es im ­heutigen Belarus, in dieser geschlossenen Gesellschaft, überhaupt noch subversiven Humor?

Oh, ja, doch. Ich finde mich zumindest in absolut grotesken Situationen wieder. Lassen Sie mich eine schildern: Neulich stand ich an einer Straßenkreuzung, neben mir eine Frau in blauer Uniform mit der Aufschrift „Investigative Committee“. Eine Beamtin der Untersuchungsbehörden also, ich wusste, es könnte ernst werden. Ich überquerte die Straße mit wackligen Knien, sie hinter mir. Irgendwann überholte sie mich und sagte: „Hallo. Folgen Sie mir.“ Sie sagte es in diesem offiziellen Ton. Ich bin ihr also gefolgt und dachte, ich wäre verhaftet worden. Nach zweihundert Metern Fußmarsch fragte ich sie: „Warum verhaften Sie mich?“ Und sie sagte: „Bist du Sergei?“ – Ich: „Nein.“ – Sie: „Ich habe auf Sergei gewartet. Warum sind Sie mir gefolgt?“ Sie ließ mich also gehen. Ich habe einfach getan, was sie gesagt hat, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Diese absurde Szene erzählt wohl sehr viel über die heutige Zeit in Belarus.

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