Belarussische Autoren zum Ukrainekrieg: „Die Worte verloren“

Die Belarussen Alhierd Bacharevič und Julia Cimafiejeva wehren sich gegen die Stigmatisierung ihres Landes. Ein Gespräch übers Exil und Putins Krieg.

Alexander Lukaschenko wendet sich bei einem Militärmanöver an die Presse

Diktator Lukaschenko wendet sich bei einem Militärmanöver an die Presse Foto: Emile Ducke/NYT/Redux/laif

taz: Alhierd Bacharevič, Sie haben kürzlich einen „Brief an die Ukraine“geschrieben, darin heißt es: „Ich bin dagegen, dass mein Belarus heute ausschließlich ein Fleck der Schande und des Hasses für die Welt sein soll.“ Worum ging es Ihnen in dem Brief?

Alhierd Bacharevič (AB): Ukrainer und Belarussen haben einen gemeinsamen Feind: den russischen Imperialismus. Das war für mich das Wichtigste. Ich wollte den Ukrainern vermitteln, dass die Mehrheit in Belarus nicht hinter dem russischen Angriff auf die Ukraine steht. Mir schien es, dass viele Ukrainer den Staat Belarus, von dem der Krieg ausgeht, gleichgesetzt haben mit der Zivilbevölkerung des Landes.

Alhierd Bacharevič, Jahrgang 1975, ist ein belarussischer Schriftsteller und Übersetzer. Er hat weißrussische Philologie und Pädagogik studiert, arbeitete zunächst als Journalist und Lehrer. 2002 veröffentlichte er sein Romandebüt „Praktisches Hilfswerk zur Zerstörung der Städte“. Bacharevičs Hauptwerk „Die Hunde Europas“ (Original: 2016) wird derzeit ins Deutsche übersetzt und soll im Frühjahr 2024 bei Voland & Quist erscheinen. Zuletzt erschien auf Deutsch: „Sie haben schon verloren. Revolution und Revolte in Belarus“ (edition.fotoTAPETA, Berlin 2021, 70 S., 9,50 Euro).

Julia Cimafiejeva wurde 1982 in der Nähe von Brahin geboren. Sie studierte englische Sprache und Literatur in Minsk, arbeitet heute als Schriftstellerin und Übersetzerin. Von ihr sind auf Deutsch der Lyrikband „Zirkus“ erschienen (edition.fotoTAPETA, Berlin, 2019) und zuletzt „Minsk“.

Die Ukrainer verstehen Ihres Erachtens zu wenig, dass Dikator Lukaschenko den Krieg mitträgt, nicht aber die Bevölkerung?

AB: Lukaschenko laviert wie stets herum, sodass es nicht eindeutig ist, inwieweit Belarus selbst auch Aggressor ist. Derzeit wird hauptsächlich über Russland und den Westen gesprochen, dieses Thema geht unter.

Zunächst wurde die belarussische Revolution brutal niedergeschlagen, seit dem 24. Februar wird von Belarus aus Krieg geführt. Gibt es derzeit überhaupt Hoffnung auf ein freies Belarus?

Julia Cimafiejeva (JC): Natürlich gibt es sie – wie kann man ohne Hoffnung weiterleben? Wir sehen, dass der Kriegsverlauf nicht so ist, wie Putin sich das gedacht hat. Ich bin eher die Optimistische von uns beiden – also ich habe Hoffnung.

AB: Ich glaube, dass es womöglich ein lang andauernder Krieg wird, vielleicht ein neuer Kalter Krieg. Ich fürchte sogar, dass es einen dritten Weltkrieg geben wird. In meinem Roman, „Die Hunde Europas“, habe ich eine Vision der Zukunft für das Jahr 2049 beschrieben: Russland hat einen neuen Weltkrieg begonnen und unser Land erobert. Belarus existiert nicht mehr, ebenso wenig unsere Kultur und Sprache. Die Welt ist durch einen neuen Eisernen Vorhang geteilt in ein russisches Reich und die freie Welt. Als ich den Roman 2016 schrieb, war es nur eine Dystopie. Jetzt rückt sie näher.

JC: Nun habe ich eine Frage an dich: Wenn du keine Hoffnung hast, warum schreibst du dann weiter über Belarus und auf Belarussisch?

AB: Den Grund hast du schon genannt! Wir haben keine andere Wahl, wir müssen leben und weiterschreiben. Es ist unsere Aufgabe, belarussische Kultur und Sprache im Exil am Leben zu halten.

Alhierd, Sie haben den Essay „Das letzte Wort der Kindheit – Faschismus als Erinnerung“ geschrieben. Wann entstand der Text und welchen Bezug hatte er?

AB: Ich habe den Text im Herbst 2020 in Minsk geschrieben. Es schien mir klar, dass man das System Lukaschenko als das benennen muss, was es ist: als faschistisch. Es ist nicht die Art des Faschismus wie in Deutschland oder Italien im 20. Jahrhundert, es ist ein neuer Typus von Faschismus in einem relativ kleinen Land. Keiner erhörte unsere Warnungen. Im Westen hat man uns nicht ernst genommen, nach dem Motto: Das sind belarussische Schriftsteller, sie müssen ihre Regierung kritisieren, es ist ihre Aufgabe. Was die westlichen Intellektuellen nun aussprechen – dass Russland ein faschistischer Staat ist –, wurde in Belarus schon lange erkannt. Aber der Westen betrieb seine Russlandpolitik über unsere und über ukrainische Köpfe hinweg.

Sehen Sie in Lukaschenkos Apparat Parallelen zum Nationalsozialismus?

AB: Ja, etwa, was Propaganda angeht. Vor Kurzem wurde in einer Fernsehsendung über den oppositionellen Blogger und Fotografen Anton Matolka „diskutiert“. Ein bekannter Propagandist erklärte, man solle ihn mit der Axt erschlagen. 2021 wurde gefordert, dass wir – unabhängige Autoren, Theaterregisseure und Journalisten – am Minsker Hauptplatz aufgehängt werden. Swetlana Alexijewitsch, Mikalai Khalezin und ich wurden namentlich genannt. Das ist wie im Völkischen Beobachter seinerzeit.

JC: Sobald Belarus nicht mehr in den Medien auftauchte, glaubten die Menschen im Westen wohl, es laufe hier alles normal. Das ist natürlich falsch. Die Menschen werden all der schlimmen Nachrichten überdrüssig, Medien spüren das und wechseln den Fokus. Und wenn die westlichen Medien die Situation nicht ständig thematisieren, nehmen auch Politiker die Lage als weniger dramatisch wahr. Aktuell spricht niemand mehr über Belarus oder über Afghanistan. Jetzt ist die Ukraine – auch zu Recht – im Fokus, aber ich fürchte, selbst da wird irgendwann diese Müdigkeit einsetzen.

Julia, Sie haben 2020 Ihr erstes Gedicht auf Englisch veröffentlicht, „My European Poem“. Wollten Sie damit zeigen, dass Sie sich als Belarussin Europa zugehörig fühlen?

JC: Ja, klar. Wo liegt Belarus noch gleich? In Asien? Belarus ist ein europäischer Staat. Ich schrieb das Gedicht wenige Tage vor den Wahlen, um westliche Leser und Facebook-Freunde aus aller Welt zu erreichen. Um ehrlich zu sein, würde ich so ein Gedicht jetzt nicht mehr schreiben, weil ich derzeit ein wenig enttäuscht bin vom Westen und seinen Reaktionen auf die Ereignisse jüngerer Zeit.

Inwiefern?

JC: Politiker weltweit gaben sich 2020 besorgt, brachten ihre Solidarität mit dem belarussischen Volk zum Ausdruck, das mutig gegen den Diktator protestierte. Medien veröffentlichten wunderschöne Fotos von in Weiß gekleideten friedlich protestierenden Frauen. Zur gleichen Zeit betrieben viele Staaten weiterhin Handel mit Lukaschenko und Putin, finanzierten zwei korrupte und kriminelle Regimes. Aus genau jenen Ländern, die sich so besorgt gezeigt hatten, hörte man später, die belarussische Protestbewegung sei für den Krieg mitverantwortlich.

Julia, in „Minsk. Tagebuch“ schreiben Sie darüber, dass die literarische Sprache angesichts grausamer Ereignisse versage. Erleben Sie das während des Ukrainekriegs auch so?

JC: Ja. Aktuell ist es am wichtigsten, ukrainische Autoren zu übersetzen, sodass ihre Stimmen gehört werden. Ich habe heute eine belarussische Zeitung gelesen, die protokolliert hat, was ein achtjähriger Junge aus Mariupol berichtet hat: Wie seine Mutter gestorben ist, wie sein Hund gestorben ist. Wie kann ich schreiben, nachdem ich das gelesen habe?

AB: Das Massaker von Butscha war für mich der Moment, in dem ich meine Sprache verloren habe. Im März habe ich vielleicht fünf Texte geschrieben über die Ereignisse in der Ukraine. Nach Butscha habe ich kein Recht weiterzuschreiben. Es gibt keine Worte, um so etwas zu beschreiben. Erst später kommt die Sprache, kommen die Worte wieder.

Ein Teil der belarussischen Kulturszene ist jetzt über ganz Europa verstreut. Was bedeutet das für die Community?

JC: Es gibt eine gut organisierte belarussische Diaspora in Österreich, in Deutschland, in Polen, Tschechien, Litauen, Großbritannien, Georgien und den USA. Wir sollten nun versuchen, uns im Exil neu zu organisieren.

AB: Ich fürchte nur, dass wir die Verbindung verlieren zu jenen Belarussen, die geblieben sind. Denn wenn wir ehrlich sind, wissen wir nur aus Medien und von unseren Freunden und Kollegen, was gerade in Belarus passiert. Wir können die Alltagsatmosphäre in Minsk nicht fühlen, für das Schreiben ist das aber elementar. Ich rede von Gerüchen, Tönen, Stimmungen und Stimmen auf der Straße.

Einige Autoren sind geblieben.

AB: Sie bleiben und sie schweigen. Ich verstehe das sehr gut, denn wenn sie Meinungen kundtun, kann der Preis dafür sehr hoch sein. Die Verleger, die geblieben sind, müssen zum Teil Selbstzensur üben und Texte zensieren. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Aber ich mache ihnen keinen Vorwurf.

Welche Repressionen gab es gegen Verleger in Belarus?

AB: Andrej Januschkewitsch ist einer der bekanntesten Verleger in Belarus, er hat die belarussische Literatur zuletzt auf ein neues Level gehoben. Im April 2021 wurde die von ihm publizierte Neuauflage meines Romans „Die Hunde Europas“ an der Grenze konfisziert. Januschkewitsch ist erst vor wenigen Wochen aus seinem Büro in Minsk geworfen worden. Nachdem er am 16. Mai eine neue unabhängige Buchhandlung eröffnete, wurde er zusammen mit der Literaturbloggerin Nasta Karnackaja noch am selben Abend verhaftet und verurteilt – er zu 10 Tagen Haft, Nasta zu 13 Tagen. (Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Interviews befinden sich beide noch in Haft, Anm. d. Red.).

Ihnen wird vorgeworfen, staatsfeindliche Literatur zu publizieren. Kürzlich schrieb die größte Propagandazeitung über „Die Hunde Europas“, der Roman rufe „zu illegaler Machtergreifung“ auf und sei „feindselig gegen Staatsbeamte“. Interessante Interpretation! Eigentlich handelt das Buch von Sprache, Schöpfung und Sex, von Belarus und Minsk, von Illusionen und Zukunft. Das Buch wurde nun auf eine schwarze „Liste extremistischen Materials“ gesetzt und verboten.

Lassen Sie uns noch über Ihre literarischen Einflüsse sprechen. Alhierd, Sie nennen unter anderem Vladimir Nabokov („Wolke, Burg, See“) als Vorbild.

AB: Nabokov, Kafka und Joyce bezeichne ich als meine Lehrer, später kam auch Witold Gom­bro­wicz dazu. Sie alle haben mein Leben verändert. Ihre Freiheit des Denkens beeindruckt mich noch heute.

Julia, ich habe gelesen, dass Sie Bukowski übersetzt haben.

JC: Das ist schon sehr lange her. Nicht nur Charles Bukowski habe ich ins Belarussische übersetzt, auch Werke von Walt Whitman und Stephen Crane. Ich habe viele weitere US-Autoren übersetzt – das hat mich beeinflusst.

AB: Eigentlich sollten wir als Künstler mehr über Eros und Thanatos reden und Schönheit in diese Welt bringen. Stattdessen müssen wir viel zu viel über Politik sprechen. Aber so sind eben leider die Zeiten.

Anm. d. Red.: Dieses Interview wurde nach Veröffentlichung um einen Hinweis ergänzt.

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