Auswirkungen der Corona-Krise in Berlin: „Wir verlieren ein halbes Jahr“
Ist die Verwaltung gerüstet für die Krise? Pankows Bürgermeister Sören Benn über Quarantäne, Corona-Partys und den Mietendeckel.
taz: Herr Benn, wie reagiert Ihr Bezirk auf die Corona-Krise?
Sören Benn: Im Wesentlichen mit einer Umstellung der Verwaltungstätigkeit. Wir stocken die Gesundheitsämter durch Personal aus anderen Abteilungen auf und richten eine Anlaufstelle für die Bürgerinnen und Bürger ein, wo sie mit all ihren Anliegen anrufen können.
Wie viele arbeiten dort derzeit?
Ab Ende der Woche sollen in Schichten fünf Menschen arbeiten, täglich acht bis zehn Stunden.
Dort rufe ich an, wenn ich Corona-Symptome habe?
Genau. Das ist – neben den anderen Stellen – die bezirkliche Anlaufstelle.
In den Krisenmodus schalten müssen derzeit alle. Dauert das bei einer Verwaltung länger?
Ich weiß nicht, wie lange es bei anderen dauert. Wir haben zwar Pandemiepläne, die sind aber nicht auf das Coronavirus ausgelegt, sondern auf die Grippe. Jetzt ist die Lage eine andere. Wir werden zum Beispiel deutlich mehr Fälle von Leuten haben, die in Quarantäne geschickt werden. Ich will sicherstellen, dass zumindest Stichproben stattfinden, dass sie auch eingehalten wird. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass da keiner kontrolliert. Dafür werden wir den Außendienst neu aufstellen.
Sören Benn
51, Linkspartei, ist seit 2016 Bürgermeister des Bezirks Pankow, zu dem der gleichnamige Stadtteil, Prenzlauer Berg und Weißensee gehören. 2018 lebten dort 407.000 Menschen.
Was muss der Außendienst sonst noch machen?
Es müssen Betriebsschließungen – etwa von Kneipen oder Geschäften – kontrolliert werden, die Abstandsgebote und so weiter. Ich bin übrigens kein Freund davon, Spielplätze zu schließen. In den Bezirken, in denen das jetzt trotz des anders lautenden Senatsbeschlusses passiert, geht es um politische Profilierung. In der aktuellen Situation ist es aber wichtig, gemeinsam und miteinander abgestimmt politisch zu handeln. Und ich bin ein Freund davon, mit den Bürgerinnen und Bürgern über ihr in dieser Phase nicht angebrachtes Verhalten zu sprechen – etwa wenn es zu Corona-Partys kommt. Wir müssen gemeinsam lernen, in diesem anderen Modus zu funktionieren. Dafür müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Allgemeinen Ordnungsdienstes einen Beitrag leisten.
Wie viele Ihrer Mitarbeiter sind im Außendienst?
Wir haben im Bezirk Pankow 2.400 Mitarbeiter, davon 120 im Außendienst. Aber es geht ja nicht nur um den Außendienst. Gerade haben wir im Krisenstab Schlüsselpersonen identifiziert. Das sind Beschäftigte in zentralen Funktionen, die auch bei einem Notbetrieb arbeiten müssen. Wir brauchen sie, auch wenn wir alle anderen nach Hause schicken. Da kommen wir immer noch auf 900 Menschen: Wir brauchen die Gewerbeaufsicht, das Veterinär- und Lebensmittelamt, das Ordnungsamt. Wir brauchen Notdienste im Sozialamt, im Bürgeramt, im Jugendamt. Sogar im Bereich des Rechnungswesens, weil Rechnungen bezahlt werden müssen. Wir wollen ja nicht zur weiteren Verschlechterung der Lage in den Betrieben beitragen.
Wie würde es aussehen, wenn die Bundesregierung oder das Land eine Ausgangssperre verhängt?
Das müssen wir dann entscheiden. Es gibt ja auch eine Reihe von Tunnellösungen, mit denen man zu Hause über VPN-Verbindungen etwas machen kann. Ich glaube aber nicht, dass es eine Quarantänelösung geben würde, die das Notpersonal der öffentlichen Verwaltung einschließt.
Wie viele sogenannte VPN-Tunnel hat die Bezirksverwaltung?
In Pankow sind es 150. Ob die Zahl kurzfristig erhöht werden kann, ist auch eine Hardwarefrage.
Da Sie die Zeit nach der Krise ansprechen: Pankow ist nach wie vor sehr beliebt. Laut Prognose wächst die Bevölkerung bis 2030 noch mal um 11 Prozent, mehr als jeder andere Berliner Bezirk. Sind Sie zufrieden?
Ob ich zufrieden bin? (überlegt) Ja und nein. Natürlich bin ich froh, dass es Pankow gut geht. Und dass es immer noch dieses Flair hat. Die Kommunalpolitik hat schon vor mir großen Wert auf Kinderfreundlichkeit gelegt. Auf ausreichend Kinder- und Jugendversorgung, eine hohe Qualität der Musikschulen. Nun gehen wir als erster Bezirk in das Zertifizierungsverfahren als kinderfreundliche Kommune. Was das Wachstum angeht, habe ich lieber Wachstumsprobleme als Schrumpfungsprobleme.
Aber es gibt auch Wachstumsschmerzen.
Ja, und in Berlin können wir nicht alles selber entscheiden und umsetzen. Wir haben die zweistufige Verwaltung, die sich häufig als nützlich herausstellt, in anderen Bereichen aber als nicht schnell genug. Oft gibt es auch verschiedene Zuständigkeiten. Deshalb haben wir ja auch die Gruppe Verwaltungsmodernisierung in Berlin, der ich auch angehöre.
Wo sollen denn die Menschen, die nach Pankow kommen, alle hin? Es gibt ja kaum leerstehende Wohnungen.
Die können im Wesentlichen nur in die neu entstehenden Wohnungen ziehen. Was Neubau angeht, ist Pankow da seit Jahren unter den ersten drei Bezirken. Aber Schlagkraft entwickeln erst die Wohngebiete, die über Bebauungspläne in den nächsten 10 bis 20 Jahren neu entstehen sollen. Das ist der Blankenburger Süden, Karow, Buch, das Pankower Tor und die Michelangelostraße.
Auch bei den großen Wohnungsbauvorhaben gibt es unterschiedliche Zuständigkeiten. Für den Blankenburger Süden mit 6.000 Wohnungen ist der Senat zuständig, für andere sind Sie als Bezirk verantwortlich. Wo geht es denn besser voran?
Die Frage ist eher, wer leistungsfähiger ist und warum. Ich glaube nicht, dass es beim Sachverstand große Unterschiede gibt. Aber es gibt sie in der Verfügbarkeit von Ressourcen. Da haben in der Regel die Senatsverwaltungen die Nase vorn. Die haben eine bessere technische Ausstattung, und sie sitzen auch am längeren Hebel.
In der Michelangelostraße braucht der Senat bis in die 2030er Jahre, um die nötige Verkehrsinfrastruktur herzustellen. Ist das auch anderswo der Grund, warum es nicht vorangeht?
Das ist ja mein Mantra: Bevor die Verkehrswege nicht erstellt sind, sollen auch keine Baufahrzeuge fahren. Im Blankenburger Süden kommt bisher nicht mal ein Laster lang. Wie soll mit so einem Straßennetz dieses Wohngebiet erschlossen werden? Früher sind die Bauarbeiter auch mit der Straßenbahn auf die Baustelle gefahren.
In Karow-Nord nicht.
Daher kommt ja ein Teil dieses riesengroßen Misstrauens im Bezirk. In Karow hatte man in den 1990ern den Leuten gesagt, wir bauen euch das schöne Neu-Karow und dann erschließen wir das auch. Aber plötzlich war das Geld alle und Berlin verzichtete auf die Realisierung der Verkehrsprojekte. Deshalb fordern heute viele zu Recht, dass die Politik glaubhaft nachweisen muss, wie die Verkehre aufgefangen werden können. Die Sowieso-Verkehre, die es ohnehin schon gibt, und die zusätzlichen Verkehre. Dabei muss man auch das Wachstum außerhalb Berlins mitdenken.
Passiert das nicht?
Zumindest nicht verkehrsträgerübergreifend.
Es gibt keine Runden, in denen die Gemeinsame Landesplanung und der Verkehrsverbund VBB zusammensitzen und länderübergreifende Planungen entwickeln?
Wir reden eher im kommunalen Nachbarschaftsforum und bei der Stiftung Zukunft Berlin darüber, wie man ein integriertes Verkehrssystem bekommt und wie eine Netzplanung aussehen könnte. Immerhin steigt so der Druck durch die Zivilgesellschaft.
Sie haben geschildert, wie Sie Ihre Verwaltung in Zeiten der Corona-Krise umbilden. Was heißt das denn für das Baugeschehen: Wird in der Verwaltung überhaupt noch an Bebauungsplänen gearbeitet?
Ich habe vergangene Woche eine Dienstanweisung herausgegeben, die besagt: Wer von zu Hause arbeiten kann, soll das auch tun. Ich habe noch nicht gesagt: Stellt die Arbeit ein. Aber natürlich nehmen die Krankmeldungen zu; die Leute haben Betreuungsprobleme mit den Kindern. Das bedeutet auch, dass wir in bestimmten Bereichen die Arbeit fallweise ruhen lassen. Wir müssen uns genau anschauen, wo im Krisenmodus unabweisbar weiterbearbeitet werden muss und wo nicht.
Mit welcher Corona-Verzögerung rechnen Sie insgesamt?
Ich gehe davon aus, dass wir ein halbes Jahr verlieren. Wenn Corona ungebremst läuft, lese ich, haben wir den Peak im Mai. Wenn wir die Kurve abschwächen können, werden wir ihn im Juli haben. Das heißt, dass wir mindestens bis Ende September in einem eingeschränkten Betrieb arbeiten. Aber im Laufe der Monate werden wir Arbeitstechniken und Methoden entwickeln, mit denen wir wieder ins Laufen kommen. Trotzdem wird die Krankheitsrate steigen, die Quarantänen werden steigen, außerdem fallen ja reihenweise Termine aus, die nicht alle mit Telefonkonferenzen zu kompensieren sind.
Werden derzeit Stellen neu besetzt?
Alle Verfahren, die schon angesetzt sind, bei denen es Termine und Einladungen gibt, sollen nach Möglichkeit gemacht werden. Die Stellenbesetzungsverfahren, die nicht unbedingt notwendig sind, werden vorläufig nicht begonnen.
Ist die Umsetzung des Mietendeckels notwendig oder nicht?
Aus meiner Sicht: ja. Es gibt eine Zeit nach Corona. Die fünfeinhalb Stellen für den Mietendeckel sind derzeit ausgeschrieben, jedoch noch nicht besetzt. Aber wir haben Menschen mit den Aufgaben betraut. Da habe ich noch keine Meldung, dass das ins Chaos läuft. Wir dürfen übrigens vor lauter Krisenmodus auch nicht vergessen, rechtssicher zu arbeiten.
Und die Verkehrswende: Ist auch die notwendig? Die Schönhauser Allee soll ja noch 2020 Radstreifen bekommen.
Das war die Aussage vergangene Woche. Ich gehe davon aus, dass es so ist, aber meine Hand würde ich dafür nicht ins Feuer legen, dass es nicht doch coronabedingt Verzögerungen gibt. Auch bei den ausführenden Firmen und Planern gibt es schließlich Krankheitsfälle.
Liest das Ordnungsamt in den sozialen Medien mit, um herauszufinden, wo es Coronaparties gibt?
Der Bürgermeister liest mit. Und reagiert dann auch. Erst am Dienstag waren 120 Leute im Schlosspark unterwegs. Das habe ich über soziale Medien erfahren. Ich habe dann die Polizei angerufen; die wusste schon Bescheid. Aber statt Parks und Spielplätze in der Konsequenz zu schließen, müssen wir neue Sozialtechniken entwickeln. Das kriegen wir nur hin, wenn wir offen drüber reden. Öffentliches Leben muss möglich sein, solange es keine Ausgangssperre gibt. Wenn die Bundesregierung anders entscheidet, machen wir es natürlich anders.
Welchen Kollateralnutzen könnte es wegen Corona noch geben neben der Verwaltungsmodernisierung: mehr Aufmerksamkeit und Zusammenhalt?
Das ist eine Möglichkeit, wenn wir es hinkriegen, die Kurve flach zu halten und das Gesundheitssystem nicht in die Überlast geht und dann komplett versagt. Wenn das zusammenbricht, wachen wir in einer Welt auf, die wir nicht haben wollen. Wenn wir aber eine kollektive Vernunftbegabung hinkriegen, ist es hinterher auch anders als vorher. Vielleicht auch reflektierter. Denken Sie nur daran, wie viele Menschen sich jetzt für Wissenschaft interessieren.
Die Fakten werden wieder wichtig.
Das ist ein guter Effekt. Auch die vielen Nachbarschaftshilfen, die entstehen. Da lernen sich Leute kennen, die sich sonst nie kennengelernt hätten. Vielleicht merken wir ja auch, dass das Gesundheitssystem nicht mehr hart an der Kante genäht gefahren werden darf, damit es sich rechnet. Corona wird nicht das letzte Virus gewesen sein. Also reden wir vielleicht über eine Bürgerversicherung. Übrigens muss auch die Aufnahme Geflüchteter auf der Tagesordnung bleiben. Die Menschenrechtslage auf Lesbos ist nach wie vor dramatisch. Wenn wir 1.500 Kinder aufnehmen, macht das die Lage nicht schlimmer.
Was ist mit der Situation derer, die als Freiberufler jetzt schon prekär arbeiten? Ist der Rettungsschirm, den der Senat beschlossen hat, ein Schritt in die richtige Richtung?
Auf jeden Fall. Vielleicht war es ein bisschen früh, es zu verkünden, weil es noch nicht in ein Konzept gegossen ist. Bislang ist ja erst ein Arbeitsauftrag ausgelöst worden. Jetzt rufen natürlich Hunderte von Leuten an und wollen wissen, wie es geht. Im Moment ist die Zahl der sozialen Existenzen, die gefährdet sind, deutlich höher als die Zahl der physischen Existenzen. Da geht eine richtige Erschütterung durch den freiberuflichen Sektor. Viele sind verzweifelt, gerade im künstlerischen Bereich. Die sind mit einer solchen Situation betriebswirtschaftlich überfordert.
Wie groß ist die Belastung für Sie selbst?
Der Zeitumfang ist nicht gestiegen, aber die Belastungsart. Fokussierter, schneller, dringender, wacher, mehr auf Sicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Social-Media-Verbot für Jugendliche
Generation Gammelhirn