Aussetzung der Hartz-IV-Sanktionen: Großversuch für ein Jahr
Hartz-IV-Sanktionen werden ausgesetzt. Das bietet eine Chance, die Sinnhaftigkeit des Systems zu überprüfen.
E s ist ein unfreiwilliger Großversuch, über dessen Ergebnisse man in einem Jahr mehr wissen wird: Die Sanktionen wegen Pflichtverletzungen, also die Möglichkeit, einer Hartz-IV-Empfänger:in 30 Prozent (rund 135 Euro im Monat) vom Regelsatz zu kürzen, wenn sie oder er einen Job oder eine zumutbare Beschäftigungsmaßnahme ablehnt, sind für ein Jahr ausgesetzt. Das entsprechende Gesetz wurde am Donnerstag verabschiedet. Nur 10 Prozent vom Regelsatz, also 45 Euro, können dann gekürzt werden, wenn jemand beim Jobcenter gar nicht mehr auftaucht.
Interessanterweise wurde in den Gesetzestext aber auch gleich hineingeschrieben, dass die Sanktion mit Einführung des sogenannten Bürgergeldes, also voraussichtlich im Sommer 2023, wiedereingeführt wird. Es handelt sich also nur um eine begrenzte Auszeit und nicht etwa um die dauerhafte Abschaffung der Sanktionen.
Nach einem Jahr wird man wissen, ob im genannten Zeitraum tatsächlich, wie von Kritiker:innen befürchtet, Hunderttausende die Hartz-IV-Leistung in Anspruch genommen, dabei den Kontakt zum Jobcenter abgebrochen und jede Maßnahme abgelehnt haben werden. Wobei man dann auch gleich evaluieren kann, welche Maßnahmen genau verweigert wurden – etwa die vielen unsinnigen Bewerbungstrainings?
Das Ergebnis wird vermutlich undramatisch
Jobcenter-Mitarbeiter:innen kommentieren das neue Gesetz im persönlichen Gespräch sehr unterschiedlich: Die einen fürchten, nun gar keine Einwirkungsmöglichkeit mehr zu haben bei Hartz-IV-Empfänger:innen, die anderen sehen die Aussetzung als Chance, aus der Rolle des Buhmanns herauszukommen, der Langzeitarbeitslose unter Druck setzt und nicht unterstützt.
Womöglich wird das Ergebnis des Großversuchs relativ undramatisch sein. Es könnte sein, dass die Zahl der Hartz-IV-Empfänger:innen zunimmt, die zwar auf Aufforderung zum Jobcenter kommen, dann aber die angebotene Maßnahme oder den angebotenen Job ablehnen und dies auch begründen können. Vielleicht haben die Hilfeempfänger:innen dann aber mehr Möglichkeiten, eigene Vorstellungen einzubringen darüber, welche Weiterbildung sie gerne machen würden, womit sie sich gerne beschäftigen würden, auch wenn die wirtschaftlichen Aussichten dieser Wunschtätigkeiten erst mal nicht umwerfend sind.
Am Ende des Moratoriums zeichnet sich womöglich ein sehr differenziertes Bild. Und das Klischee, dass die Aussetzung der Sanktionen Hunderttausende von schwarzarbeitenden Leistungsempfänger:innen produziere, die steuerzahlende Arbeitnehmer:innen ausnutzen, wird ins neoliberale Märchenreich befördert. Das wäre ein gutes Ergebnis.
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