Ausschuss zu Afghanistan im Bundestag: Berlin und die unterschätzten Taliban
Der Afghanistan-Untersuchungsausschuss deckt erhebliche Defizite im deutschen Engagement auf. An der Loyalität von Ortskräften gibt es keine Zweifel.
In der Sitzung vom vergangenen Donnerstag hörten die elf Mitglieder unter dem Vorsitz von Ralf Stegner (SPD) dazu den letzten afghanischen Außenminister vor den Taliban, Hanif Atmar, an und die frühere Vizeministerin für Flüchtlingsfragen, die Deutsch-Afghanin Alema. Als Dritter sagte der damalige Sicherheitsberater der Deutschen Botschaft, ein Bundespolizist mit dem Decknamen „Fisch“, aus.
Anfang Juli 2021 überrannten die Taliban nach 20-jährigem Guerrillakrieg die erste afghanische Provinzhauptstadt. Schon Wochen später wurde „der Ring um Kabul immer enger“, schilderte „Fisch“ die Situation. Warum sollte das Verhalten der Taliban „in Kabul anders sein als in den Provinzen“, habe er sich gefragt. Er habe „nicht den Eindruck“ gehabt, dass Berlin die „dramatische Lageeinschätzung“ teilte.
Fehleinschätzung der Bundesregierung?
Dahinter verbarg sich offensichtlich eine politische Entscheidung. Die Botschaft sollte überhaupt nicht evakuiert werden, sondern einsatzfähig bleiben. Vor allem der deutsche Afghanistan-Sonderbeauftragte Markus Potzel sei der Überzeugung gewesen, dass es eine „bleifreie Transition“, also eine Machtübernahme der Taliban geben würde und von ihnen keine Gefahr drohe. Zu dieser Auffassung war er durch seine Gespräche mit den Aufständischen in Katar gekommen. Dort bemühten sich Deutschland und die Gastgeber parallel zwischen den Truppenabzugsgesprächen zwischen den USA und den Taliban um Direktverhandlungen.
Zudem sei der BND noch einen Tag vor dem Fall Kabuls davon ausgegangen, dass man noch mindestens vier Wochen Zeit hätte. „Fisch“ sei noch am Tag vor dem Fall Kabuls angewiesen worden, die Botschaft nicht zum noch von US-Truppen gesicherten Flughafen zu verlegen, wie es andere Nationen schon getan hatten.
Als die Situation eskalierte und die USA ihren Abzug vorzogen, evakuierten er und der amtierende Leiter der Botschaft, Jan Hendrik van Thiel, deren Personal eigenständig. Vom Krisenstab im Auswärtigen Amt habe er keine Anweisungen erhalten, weil dort „am Wochenende vielleicht niemand arbeitete.“ Den Ortskräften der Botschaft erlaubte man am Freitag – dem afghanischen „Sonntag“ – vor dem Fall Kabuls, nicht zur Arbeit zu kommen. Nach ihrem weiteren Schicksal fragten die Ausschussmitglieder leider nicht.
Schon durch vorherige Anhörungen im Ausschuss zog sich wie ein roter Faden eine Aussage van Thiels vor der parallelen Enquete-Kommission des Bundestags zum Afghanistan-Einsatz: An der Botschaft „versuchten wir, den krisenfreien Normalbetrieb zu simulieren“. Warum die Bundesregierung in Afghanistan Normalität simulieren wollte, ging aus Alemas Schilderung hervor. Die Bundesregierung habe über mehrere Jahre Druck auf Kabul ausgeübt, abgelehnte Asylbewerber aufzunehmen. Sie habe vergeblich dagegen argumentiert, dass Berlin in Afghanistan immer noch „sichere Gebiete“ erkennen wollte.
Der damalige Innenminister Horst Seehofer (CSU) wollte noch wenige Tage vor Kabuls Fall dorthin einen Abschiebeflug nach Kabul durchsetzen. In einer früheren Anhörung war herausgekommen, er habe bei seinem österreichischen Amtskollegen für eine gemeinsame Abschiebung „im Wort gestanden“, weil Wien zwei afghanische „Schwerkriminelle“ loswerden wollte. Für einen solchen Flug, so ein Ausschussmitglied, gab es aber „keine Rechtsgrundlage“.
Keine Zweifel an Loyalität der Ortskräfte
Wie wichtig war die Frage der Abschiebungen für die Bundesregierung? Laut Atmar sei sie „auf der höchsten Ebene“ vorgetragen worden, also gegenüber dem damaligen Präsidenten Aschraf Ghani. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte das Thema Abschiebungen Ghani gegenüber auch während dessen Berlin-Besuchs im Dezember 2015 angesprochen. „Wir alle glaubten, dass das ein Signal war und sehr wichtig für Deutschland“. Alema sprach von einer „Erpressbarkeit“ Afghanistans, da es von der Militärhilfe der USA und auch „der finanziellen Hilfe Deutschlands“ abhängig gewesen sei.
Schon bei der Anhörung am 18. Januar hatte ein Botschaftsangehöriger eingeräumt, dass Berlins offizielles Argument, eine Evakuierung einer größeren Zahl von Ortskräften würde „ein falsches Signal“ senden und die afghanische Regierung schwächen, „wenig begründet“ gewesen sei. Als Washington und London ihre Ortskräfte mit Charterflügen außer Landes brachten, habe es keine „Verurteilung“ durch Kabul gegeben.
Der AfD-Vertreter im Ausschuss, der 2011 in Afghanistan eingesetzte Bundeswehrgeneral Joachim Wundrak, holte sich eine Abfuhr von „Fisch“. Als er insinuierte, dass sich gefährliche Islamisten unter die zu evakuierenden Ortskräfte mischen könnten, antwortete der Bundespolizist: „Ich zweifle die Loyalität unserer Ortskräfte auf keinste Weise an.“
Ex-Außenminister Atmar lobte das deutsche Engagement in Afghanistan. Deutschland habe „mit der Position der afghanischen Regierung sympathisiert“. Seiner Ansicht nach habe man in Berlin wohl aber „zu großes Vertrauen darin gehabt, dass die Taliban Frieden wollten“. Dieser entscheidende Satz ging dabei fast unter: Berlin habe „alle richtigen Absichten gehabt, aber sehr wenig Einfluss“. Mit dem damaligen Außenminister Heiko Maas (SPD) habe er nur „ein paar Mal“ gesprochen, „nicht so regelmäßig, wie ich es mir vielleicht gewünscht hätte“. Alema zufolge hatte der Gesamteinsatz, also auch Deutschlands Beitrag, in Afghanistan „Warlord-Strukturen in den Streitkräften und im Staat gefestigt“.
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