Aus Le Monde diplomatique: Wir sind nie demokratisch gewesen
Politisch, ökonomisch, sozial: In der Industriegesellschaft herrscht das Regime der Grenzen. Es schließt Menschen aus oder ein.
So zerrissen und gespalten sich die gegenwärtige Gesellschaft zeigt, in der Sorge um die Demokratie erscheint sie innerlich verbunden. Dass es um die demokratischen Verhältnisse nicht gut bestellt sei, ist der Tenor des politischen Diskurses von rechts wie von links.
Die Rede von „postdemokratischen“ Zuständen gehört zum Basisrepertoire der linken Kritik am Neoliberalismus, aber auch die AfD wirbt neuerdings mit der rechten Anverwandlung des Willy-Brandt-Slogans „Mehr Demokratie wagen“. Und sozialwissenschaftliche Beobachter, die den Rechts-links-Gegensatz für überholt erklären, beschuldigen die jugendliche Klimaaktivistin Greta Thunberg der Demokratieverachtung: Aus ihrer unbedingten Forderung nach einer ökologischen Kehrtwende spreche die autoritäre Missachtung der Alltagssorgen von Otto Normalflieger.
Als Gegenhorizont dieser vielstimmig artikulierten Besorgnisse wird häufig jenes goldene Zeitalter beschworen, in dem die demokratische Welt angeblich noch in Ordnung war. Jene bundesrepublikanischen Jahrzehnte, als die Leute wählen gingen, um ihre Stimme den Volksparteien der Mitte zu geben – und als die Tarifpartnerschaft von Kapital und Arbeit verlässlich für geordnete sozialmarktwirtschaftliche Verhältnisse sorgte.
Dann aber kam die demokratische Ordnung durcheinander. Schuld waren, je nach Krisenerzählung, die Globalisierung und die Wirtschaftseliten, die Fluchtmigration und Angela Merkel, oder aber die neuesten sozialen Bewegungen mit ihren gesellschaftlichen Umgestaltungsfantasien. Und alle zusammen ließen sie das grüne Gras der korporativ-inklusiven Schönwetterdemokratie seligen Angedenkens verdorren.
Grenzregime, das Berechtigungen selektiv zuweist
Mit dem seligen Angedenken ist das freilich so eine Sache: Meistens hat das, was im Nachhinein als makellos erscheint, bei genauerem Hinsehen allerhand Macken. Das gilt auch für jene gute alte Demokratie, die heutzutage gern hochgehalten wird und wahlweise gerettet oder wiederhergestellt werden soll. In Wirklichkeit hat es sie gar nicht gegeben.
Genau genommen kann man sagen: Wir sind nie demokratisch gewesen. Jedenfalls dann nicht, wenn man unter Demokratie eine gesellschaftliche Lebensform versteht, in der für alle Bürger und Bürgerinnen die gleiche Teilhabe an der politischen Gestaltung ihrer eigenen Lebensbedingungen gewährleistet ist. Von einem solch substanziellen Demokratieverständnis waren die realen gesellschaftlichen Verhältnisse selbst in ihren besten, vorpostdemokratischen Zeiten weit entfernt.
Seit jeher – und bis heute – ist die Demokratie der westlichen Industriegesellschaften vielmehr geprägt und umgeben von einem Grenzregime, das politische, ökonomische und soziale Berechtigungen äußerst selektiv zuweist. Von einem Regime, das für die einen Berechtigungsräume öffnet, die es anderen verschließt. Diese Grenzlinien zwischen mehr, weniger und gar nicht Berechtigten verlaufen vornehmlich entlang dreier Achsen.
Die Grenzen der Demokratie werden zuallererst von „oben“ gezogen: von den Auserwählten, die gesellschaftliche Herrschaftspositionen bekleiden. Dass diesen Herrschenden daran gelegen ist, das Fußvolk von den Möglichkeiten politischer Mitsprache und ökonomischen Erfolgs, sozialer Teilhabe und persönlicher Selbstbestimmung fernzuhalten, ist durchaus nachvollziehbar.
Das Bemühen der Herrschenden
Machen wir uns nichts vor: Die Vorstellung tatsächlicher Volksherrschaft macht die „oberen Zehntausend“ gruseln. Nicht ohne Grund gab es gegen das wahlpolitische Prinzip des „One man, one vote“ erbitterten Widerstand. Und nicht zufällig musste selbst noch in etablierten Demokratien jahrzehntelang für das Frauenwahlrecht gekämpft werden. Wobei anzumerken ist, dass es auch bei uns noch kein Wahlrecht für die vielen Millionen ausländischer „Mitbürger“ gibt, deren Entrechtung heute kaum jemand als skandalös empfindet.
Zugleich haben die ökonomisch Herrschenden nie einen Zweifel daran gelassen, wer in dieser Gesellschaft nach wessen Pfeife zu tanzen hat: Wer kein Kapital besitzt, sondern lohnabhängig ist, verfügt in dem zentralen Lebensbereich – dem der vergesellschafteten Arbeit – über herzlich wenige Möglichkeiten zur Gestaltung der eigenen Lebensumstände. Im Normalbetrieb einer kapitalistischen Ökonomie gilt es bis heute als selbstverständlich, dass die Demokratie vor den Werkstoren, Bürotürmen und virtuellen Arbeitswelten haltmacht.
Die Begrenzung von Berechtigungsräumen in modernen Demokratien erschöpft sich allerdings nicht im Bemühen der Herrschenden, die gesellschaftlichen Gestaltungschancen der Beherrschten zu beschneiden. Quer zu dem, was man als die Logik der Klassengesellschaft bezeichnen könnte, liegt die Logik der Konkurrenzgesellschaft, liegen die vielfältigen Arten der Grenzziehung, zu denen die Beherrschten selbst durch die Gesetze der Marktökonomie gezwungen sind.
Auf den mittlerweile in sämtlichen Lebenssphären etablierten Marktplätzen kämpfen die Besitzlosen um Teilhabe, tobt der alltägliche Wettbewerb um den Rest vom Kuchen und ein paar relative Privilegien. Hier kämpfen alle um die attraktiven Positionen in der materiellen und symbolischen Statushierarchie: Männer, die Frauen, Einheimische, die Zugewanderte oder Junge, die Alte draußen halten wollen (und umgekehrt). All das gehört in der Konkurrenzgesellschaft zum demokratischen Gang der Dinge: Berechtigung erscheint als knappes Gut, und wer es einmal in den Kreis der Berechtigten geschafft hat, übernimmt fraglos die Überzeugungswelt der Etablierten. Das hab ich mir verdient! Das Boot ist voll!
Genau dies ist freilich auch – und erst recht – die kollektive Parole, mit der die Bürger und Bürgerinnen demokratischer Gemeinwesen das Berechtigungsbegehren Außenstehender abzuwehren, ja möglichst schon im Keim zu ersticken trachten. Wenn auch noch „Dahergelaufene“ (im wahrsten Sinne des Wortes) Einlass in die heiligen Hallen der Staatsgesellschaft begehren und den Raum demokratischer Berechtigung mitbevölkern wollen, dann zeigen sich die Grenzen der Demokratie ganz schnell und überdeutlich. Dann nämlich wird diesen Möchtegernen klargemacht, dass sie im Haus der Demokratie, das angeblich „für alle offen“ ist, unerwünscht sind.
Keine Grenzen der Naturbeherrschung
Und diese Botschaft geht keineswegs nur von den Unterprivilegierten aus, von den objektiv oder subjektiv „Abgehängten“ der Marktgesellschaft. Vielmehr ist es das quer zu Klassenlagen und Statuspositionen sich konstituierende „Wir“ der nationalen Berechtigungsgemeinschaft, das den ungebetenen Gästen in bemerkenswertem sozialem Einklang die Türe weist. Dieses „Wir“ versteht in Sachen Öffnung keinen Spaß und gebietet: Ihr müsst leider draußen bleiben.
Als Klassen-, Konkurrenz- und national organisierte Gesellschaft ist die moderne Demokratie mithin ein vielschichtiges Arrangement der sozialen Begrenzung von Berechtigungsansprüchen. Dabei sind die Mitglieder des Gemeinwesens, über alle inneren Spaltungen und Differenzen hinweg, vereint nicht allein im Willen zur Abschließung des nationalen Berechtigungsraums nach außen. Das moderne demokratische Grenzregime basiert auch auf dem gesellschaftlichen Konsens, dass es keine Grenzen der Naturbeherrschung gibt.
Noch grundsätzlicher formuliert: Das gesamte demokratische Berechtigungsarrangement setzt voraus, dass sich die Gesellschaft permanent und unaufhörlich natürliche Ressourcen einverleiben und die Rückstände ihres Verbrauchs bedenkenlos entsorgen kann. Dies ist gleichsam eine weitere, vierte Achse demokratischer Öffnungs- und Schließungspraktiken: Die Bürger und Bürgerinnen finden sich, so ungleich ihre Berechtigungspositionen auch sein mögen, in der wechselseitigen Zuerkennung gleicher Rechte auf Naturentrechtung zusammen. Peinlich, aber wahr: Die gemeinsame Ermächtigung zur uneingeschränkten Inanspruchnahme der gesellschaftlichen „Umwelt“, die selbstverliehene ökologische Lizenz zum Töten, ist die implizite Geschäftsgrundlage der modernen Demokratie.
Was gegenwärtig geschieht und die kapitalistischen Demokratien des Westens ebenso aufwühlt wie ihre einst hoffnungsfrohen Nachahmersysteme im Osten Europas, ist die Tatsache, dass dieses demokratische Grenzregime zunehmend offensichtlich wird. Und dass es sich gerade in seiner Offensichtlichkeit zunehmend als unhaltbar erweist.
Genau dieser Umstand, die Gleichzeitigkeit vielfältiger demokratiepolitischer Erschütterungen, ist die Krisensignatur unserer Zeit. Wer diese auf den aufhaltsamen Aufstieg des „Rechtspopulismus“ reduzieren will und nach jedem einschlägigen Wahlerfolg in die wohlfeile, parteiübergreifende Sorge um die Demokratie einstimmt, mag sich zwar automatisch auf der richtigen Seite wähnen, hat aber die Tiefe der Zeitenwende nicht begriffen.
Hauptsache, es bleibt, wie es war
Denn die Grenzen der so lange so gut funktionierenden demokratischen Schließungen werden immer deutlicher sichtbar. Sie zeigen sich im rechtspopulistischen Establishment-Bashing wie in der linkspopulären Skandalisierung des „einen Prozent“ der Superreichen; in den erkennbar wahnwitzigen Auswüchsen der sozialen Statuskonkurrenz wie in der erschreckenden Selbstverständlichkeit eines ungeschminkten Alltagsrassismus; in den humanitären Kosten der polizeilich-militärischen Abschottungspolitik wie in den spürbaren ökologischen Folgen des global verallgemeinerten Wachstumskapitalismus.
Es ist die dunkle Ahnung, dass die Grenzen des demokratischen Grenzregimes tatsächlich erreicht sein könnten, die den Herren und Hütern, den großen und kleinen Profiteuren, den politischen Apologeten und intellektuellen Verteidigern dieses Regimes gleichermaßen Sorge bereitet.
Dabei geht es auf den vielen Stufen der Sozialhierarchie all den selbsterklärten Sorgeberechtigten darum, ihre bedrohte materielle oder symbolische Vorrangstellung zu sichern. Einheimische und Alteingesessene, „alte weiße Männer“ und die „hart arbeitende Bevölkerung“, der luxurierende Geldadel und die wohlbestallten Deutungseliten – sie alle verteidigen, jeweils mit ihren Mitteln, den Status quo einer Demokratie, die sich in ihrer Berechtigungslogik als multipel geschlossene Gesellschaft erweist.
All diese Gruppen wenden sich auf jeweils ihre Weise – ob per sozialmedialer Hetze oder eloquenter Diskurspolitik – gegen jede Regung einer systemüberschreitenden, der sozialen Entgrenzung und ökologischen Begrenzung der Demokratie verschriebenen Fantasie. Hauptsache, man bleibt unter sich – und alles bleibt so, wie es war.
Man kann über diese vielstimmige und vielförmige Herrschaft des demokratischen Ressentiments verzweifeln, achselzuckend hinweggehen oder in Rage geraten. Aber egal wie man sich dazu verhält, der Blick auf die geistige Situation der Zeit vermittelt eine Lehre, und die lautet: So sehen Krisen aus. Allerdings muss die Krise dessen, was wir „Demokratie“ zu nennen uns angewöhnt haben, nicht das Schlechteste sein.
© LMd, Berlin
Leser*innenkommentare
88181 (Profil gelöscht)
Gast
Also ich bin ganz zufrieden mit der guten alten repräsentativen Demokratie.
Warum sollte man ausgerechnet einem Volk, das bei Landtagswahlen mit 25% eine Nazi-Partei wählt, mehr Partizipation geben?
Was bitte soll dabei herauskommen?
Die Demokratie ist eine bürgerliche Herrschaftsform und sicherlich nicht die schlimmste.
TazTiz
Trotz Abitur, Hochschulstudium, Promotion und beruflicher und sozialer Teilhabe - Ich verstehe diesen Text nicht.
Ich höre nur ein Raunen von wegen wir hätten keine Demokratie, weil „die da oben“ es sowieso nicht zulassen würden.
Karl Kraus
@TazTiz "Trotz Abitur, Hochschulstudium, Promotion und beruflicher und sozialer Teilhabe - Ich verstehe diesen Text nicht." Das stimmt mich bedenklich...
Devil's Advocate
@TazTiz Manchmal hört man nur, was man hören will.
Auch wenn der Artikel m.E. nicht sonderlich gut geschrieben ist: Die Krise der Demokratie (für manche sind es Krisen) ist real. Wie man das Ausmaß bewertet, ist wieder Ansichtssache.
Rolf B.
@TazTiz Wenn Sie nur dieses Raunen hören, hat Ihnen in der Tat Hochschulstudium, Promotion und beruflicher und sozialer Teilhabe nicht viel genützt.
85198 (Profil gelöscht)
Gast
Solche Texte sind bitter nötig. Danke.
Es ist aber Vorsicht angesagt bei der Vorstellung, das gegenwärtige Regime durch eine wie auch immer geartete "wahre" Demokratie zu ersetzen.
Derrida hatte im Diskurs mit Habermas schon vor geraumer Zeit vorgeschlagen, eine sprachliche Verschiebungvorzunehmen. Nach seiner Analyse "ist" Demokratie nicht. Wir "haben" zu keinem Zeitpunkt jemals Demokratie, weil das Ideal gleicher politischer Teilhabe für alle voraussetzt, dass alle den konkreten gesellschaftlichen Verfahren zur politischen Entscheidungsfindung zustimmen.
Derrida hält es für gefährlich (für apokalyptisch), der Verführung durch Habermas zu folgen und anzunehmen, ein solcher idealer Zustand könne in der konkreten Welt jemals erreicht werden.
Deswegen wäre es ehrlicher, zu sagen, dass Demokratie "wird" und nicht "ist".
Oder sie "wird" eben nicht!
Es gibt in der Gesellschaft demokratisierende und entdemokratisierende Tendenzen. Historisch gesehen gibt es Phasen, in denen die eine oder die andere Tendenz überwiegt. In den westlichen Gesellschaften überwiegt schon seit geraumer Zeit die entdemokratisierende Tendenz, auch wenn in vielen Staaten die demokratisierende Tendenz nicht stillgestellt ist (z.B. wurde in der BRD die Homoehe eingeführt).
Anstatt also zu fragen, wie "die wahre Demokratie" aussieht (und schlimmstenfalls auch noch darauf zu antworten), stellt sich die Frage anders:
Was kann konkret für eine Demokratisierung getan werden? Also: Wie können mehr Menschen einbezogen werden, wie kann gesellschaftliche Gestaltungsmacht gerechter verteilt werden, etc ?
Karl Kraus
@85198 (Profil gelöscht) Das finde ich eine gute Herangehensweise. So wird sicher gestellt, dass nicht wiederum zu einem bestimmten Zeitpunkt der Prozess stillgestellt wird mit der Begründung, man habe ja jetzt das Ideal erreicht, ab jetzt könne man sich zurück lehnen.
Rolf B.
@85198 (Profil gelöscht) Denken Sie bitte mal über Ihre Aussage nach:
"Anstatt also zu fragen, wie "die wahre Demokratie" aussieht (und schlimmstenfalls auch noch darauf zu antworten), stellt sich die Frage anders:
Was kann konkret für eine Demokratisierung getan werden?"
Wenn ich mich fragen soll, was konkret für eine Demokratisierung getan werden sollte, muss ich wissen, was mehr Demokratie bedeutet. Wenn ich das vorher nicht diskutiere bzw. beantworte, kann ich auch keinen Weg finden zur Demokratisierung.
76530 (Profil gelöscht)
Gast
@Rolf B. Anschließe mich.
Wer sein Ziel nicht kennt, für den ist kein Weg der Richtige.
Lowandorder
…ok - vllt mal nicht so schmallippig - aber geklaut by -
“Das Donnern dieser Wasserfälle gleicht dem tosenden Lärm, mit dem die mächtigen Wogen der Demokratie sich an den Küsten brechen, wo die die Könige sich behaglich ausstrecken.“
unterm—— wer hier an öh z.B. doch -
Heiligendamm denkt & weiß - is von -
Genau - Oskar Wilde - sieht das Mühlrad von B.B. im Unterschlag sich drehn.
(aus Kerstin Decker - “Oskar Wilde für Eilige“ - die&der gerade inne taz - wa! schmerzhaft & seit längerem fehlen!) 😈
Ende der Werbeeinblendung
Lowandorder
@Lowandorder btw für Klangästheten - klar die - 🌊 -
Niagarafälle warn‘s. 🤓
Uranus
Danke für den Artikel. Der Analyse stimme ich zu einem sehr großen Teil zu. Zum letzten Satz: Sicherlich geht es noch schlimmer. Aber es ginge in Hinsicht von Teilhabe und Mitbestimmung auch besser. Und mit besser meine ich nicht unbedingt den Parlamentarismus als Form der Mitbestimmung ...
hedele
Aber wenn man Kapitalismus und Demokratie, die ja auch vor der Fr Revolution alte Vorgänger in den Kommunalverfassungen des Mittelalters mit ihren Konsuln hat, jetzt so sehr miteinander verquirlt wie der Autor, erscheint es nur logisch, dass man das eine nur mit dem anderen abschaffen kann. Das ist genau das Gegenteil von dem, was ich mir eigentlich vorstelle. Die Demokratie sollte doch den ungezügelten Kapitalismus und unseren nun schon augenfälligen Rückfall in die Klassengesellschaft verhindern!
Karl Kraus
@hedele Die Verquirlung geschieht politisch und ideologisch, nicht durch den Autor. Das ist ja Teil der Kritik.
Rolf B.
Ein zentraler Satz ist für mich:
"Wer diese auf den aufhaltsamen Aufstieg des „Rechtspopulismus“ reduzieren will und nach jedem einschlägigen Wahlerfolg in die wohlfeile, parteiübergreifende Sorge um die Demokratie einstimmt, mag sich zwar automatisch auf der richtigen Seite wähnen, hat aber die Tiefe der Zeitenwende nicht begriffen."
Das ist genau der Windschatten der AfD, hinter dem sich die Parteien verstecken und ihre teils reaktionären Geschäfte machen. Das ist quasi die Verweigerung, in die "Tiefe der Zeitenwende" zu blicken und diese zu diskutieren. Diese Diskussion wird verweigert. Das würde nämlich bedeuten, die Mitschuld anzuerkennen über die zunehmende Entdemokratisierung der Gesellschaft und dem allgemeinen Rechtsruck. Selbst diejenigen, die sich selbst als linksliberal verstehen, spielen dieses Spiel mit, weil es so bequem ist und diese unerträgliche Selbstvergötzung ermöglicht, stets die Guten zu sein.
Wir müssen nicht nur mehr Demokratie wagen, wir müssen wesentlich mehr darüber diskutieren, wer uns mehr Demokratie verweigert. Und wir müssten darüber diskutieren können, wie wir uns eine demokratische, soziale und gerechte Gesellschaft der Zukunft vorstellen, die Grenzen sprengt zwischen den Herrschenden und ihren etablierten Milieus, also den Stützpfeilern der Herrschenden und den Menschen, denen quasi essentielle Dinge wie Bildungsgerechtigkeit verweigert wird.
Das kann eigentlich nicht gelingen, solange sich die Etablierten mit einem Teil der Meinungsbilder verschanzen und von oben herab auf den Rest der Gesellschaft blicken.
Wir brauchen dringend mehr kritische Stimmen.
Devil's Advocate
@Rolf B. Wer sind denn die "Etablierten" und die "Herrschenden"?
90118 (Profil gelöscht)
Gast
@Rolf B. volle zustimmung, das würde ich nicht anders formulieren, deshalb unterschreibe ich hiermit virtuell diesen kommentar!
07324 (Profil gelöscht)
Gast
@Rolf B. Aber auch in der Frage nach unserem Gesellschaftssystem wird statt Lösungen zu suchen und daran zu arbeiten, eben daran gearbeitet wie man dieses System weiter erhalten kann. Der Erhalt des Status Quo wird als zentrales Problem unserer Zeit angesehen. Wenn man die Aussagen und Wünsche der Innenminister hört, dann stellt sich für mich China immer als Vorbild für ein Europa heraus.
Bevölkerungskontrolle wird die Lösung sein. Da finden sich natürlich auch viele Rechtspopulisten wieder. Der Gedanke an Freiheit des Individuums und der Wunsch nach Gleichheit rutscht natürlich so noch mehr in den Hintergrund. Wer gesellschaftliche Grenzen zieht und ohne Skrupel verteidigt, kann nicht an einer gerechten Gesellschaft, lokal oder global, interessiert sein.
sachmah
Völliger Blödsinn. Wie jede linke und rechte Demokratie-Kritik. Es steht jedem frei, sich in der Politik zu engagieren. Wenn man es nicht schafft, eine signifikante Anzahl Anhänger hinter sich zu versammeln, liegt das nicht einfach nur an den bösen Eliten, Klüngel und was auch immer. Meistens in den Spiegel schauen, dort ist das Problem. Damit meine ich jetzt nicht das Aussehen.
Und: Netzwerke gehören eben zum Spiel. Aus Einzelindividuen nur temporäre Zweckgemeinschaften zu bilden mag zwar ideal erscheinen, dass scheitert in der Praxis aber in Null Komma Nichts. Es ist völlig unberechenbar und keine Basis für solide nachhaltige Politik. Schon alleine da jeder Meinungsbildungsprozess ab der Bestellung von Büromaterial Wochen in Beschlag legen würde.
Mir steht sie jedenfalls bis oben hin, die linke und rechte Demokratie-Kritik. Immer dieses "ich darf nicht mitreden" nur weil nicht jeder sagt "Au ja vielen Dank für deine wertvolle Anregung. Die setzten wir gleich auf TOP1. Alles andere kann warten " Da die Kritik überhand nimmt hoffe ich, dass wir Restdemokraten genügend firepower besitzten werden um Staat und Demokratie zu verteidigen.
Devil's Advocate
@sachmah Ich stimme zu, dass sehr linke wie sehr rechte die Probleme - abgestimmt auf ihre Ideologie (z.B. "Kapitalismus als größtes Übel" oder "der einfache Deutsche mit gesundem Menschenverstand wird nicht vertreten") - verzerren und daher nur bedingt gute Lösungen liefern.
"Völliger Blödsinn" ist allerdings mindestens genauso falsch. Mehrere Politikwissenschaftler beschreiben die Krise(n) der Demokratie schon länger. Auch andere Sozialwissenschaften beschäftigen sich mit der Krise der Demokratie als einen wichtigen Erfolgsfaktor für Rechtspopulisten. Die deutsche Demokratie hat viele Probleme, die niemand adressieren will (Einfluss der Wirtschaft auf Politik; ausufernder Neoliberalismus; lange gesellschaftliche Debatten werden übersprungen, weil Entscheidungen "alternativlos" sind; Parteien sind sehr hierarchisch; die deutsche Politik und Demokratie wirken immer noch ahnungslos im Umgang mit den sozialen Medien und Web 2.0 allgemein; der Sozialstaat scheitert die Schere zwischen Arm und Reich aufzuhalten; viele Menschen haben Verlustängste; usw.). Das sind reale Probleme. Und diese Probleme werden nicht hinreichend adressiert. Wundert es Sie dann, dass es Demokratie-Kritik gibt?
Sie verweigern das Gespräch über Probleme, weil Sie sie nicht sehen (wollen). Dann ist es verständlich, dass manche Linke sowie Rechte sich radikalisieren. Nicht, dass davon etwas besser würde.
Lowandorder
🛀 - Ach was! 🗽 🗽 🗽
APO Pluto
@Lowandorder Nur das Wachstum kennt keine Grenzen und nur im Konsum sind wir frei.
Oder so.
Elroy Banks
Eine rein parlamentarische Demokratie hat Grenzen, weil sie ausschliesslich von den gewählten Vertretern bestimmt wird und der Einzelne nur noch alle vier oder fünf Jahre als "Wahlvieh" partizipieren darf.
Besser geeignet wäre die direkte Demokratie, wie sie hier in der Schweiz praktiziert wird. Es finden regelmässig Volksbefragungen zu aktuellen Themen statt. Gerade im Bereich bezahlbarer Wohnraum hat sich dadurch einiges getan.
Durch die Zweitwohnungsinitiative konnten die Schweizer beispielsweise 2012 darüber abstimmen, ob der Anteil Zweitwohnungen stark begrenzt werden soll. Die Mehrheit war dafür. Die Zersiedelungsinitiative, nach der keine Häuser mehr in Naturschutzgebieten, unbesiedelten Wäldern oder Bergen mehr gebaut werden dürfen, wurde dagegen 2019 abgelehnt. Im Februar 2020 findet eine landesweite Abstimmung darüber statt, ob mehr bezahlbare Wohnungen gebaut werden müssen.
Die Ergebnisse der Volksabstimmungen müssen von der Politik zwingend umgesetzt werden.