Aus Le Monde diplomatique: Der Staat bin ich
In der Türkei konzentriert sich die Macht in den Händen einer einzigen Person. Wie Präsident Erdoğan mit seiner Beratungsresistenz sein Land ruiniert.
Eine der meist gebrauchten Floskeln des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ist die Zurechtweisung: „Benimm dich!“ Sie trifft zumeist türkische Oppositionspolitiker, zuweilen aber auch ausländische Kritiker wie den früheren deutschen Außenminister Sigmar Gabriel oder den Grünen-Politiker Cem Özdemir. Und sogar die Ratingagentur Standard & Poors versuchte Erdoğan mit diesem Spruch in die Schranken zu weisen.
Als allerdings am 21. Dezember 2018 der 77-jährige Theaterschauspieler Müjdat Gezen im Fernsehen dieselben Worte an die Adresse Erdoğans richtete, fühlte der sich beleidigt. Schon am nächsten Tag verkündete der Präsident, man werde Gezen für seine Frechheit bestrafen. Einen Tag später nahm die Polizei den Schauspieler fest und führte ihn dem Richter vor.
Manchmal gibt Erdoğan der Justiz sogar die einzelnen Schritte vor. So geschehen im Fall Özgür Özel. Der Vizefraktionschef der Republikanischen Volkspartei (CHP), die im Parlament die stärkste Opposition bildet, hatte am 16. Dezember Verteidigungsminister Hulusi Akar kritische Fragen zu dessen Rolle als Generalstabschef zur Zeit des Putschversuchs vom Juli 2016 gestellt. „Wir werden ihm die nötige Lehren über die Justiz erteilen“, erklärte Erdoğan im Pluralis Majestatis, noch ehe der Staatsanwalt eine Anklageschrift hätte schreiben können. Und er verkündete auch gleich das Urteil: „Erst (zahlt er) Entschädigung, dann (bekommt er seine) Strafe.“
Doch nicht nur Polizei und Justiz stehen bereit, auf einen Wink des Präsidenten loszuschlagen. Nur vier Tage nachdem Müjdat Gezen im Fernsehen Erdoğans Lieblingsfloskel benutzt hatte, erließ der „unabhängige“ Rundfunkkontrollrat (RTÜK) für das Programm, in dem Gezen aufgetreten war, ein befristetes Sendeverbot, was der erste Schritt zur vollständigen Schließung des Fernsehkanals sein könnte. Und falls Justiz und Polizei – oder gar der Präsident selbst – einmal einen Kritiker überhören, springt die regierungsnahe Presse ein – die inzwischen 90 Prozent der Medienmacht repräsentiert – und schreit Zeter und Mordio, bis die Behörden aktiv werden.
Mit diesen Beispielen ist die Machtfülle Erdoğans noch keineswegs erschöpfend beschrieben. Sechs Monate nach dem 24. Juni 2018, dem Datum des offiziellen Übergangs zum Präsidialsystem, ist der Präsident nicht nur unumschränkter Herrscher über die Exekutive und bestimmt nicht nur weitgehend das Handeln der Justiz.
Er setzt seinen Willen auch im Parlament und in den Kommunalverwaltungen durch und bedient sich dafür seiner „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP). Die AKP ist zwar immer noch unangefochten die größte politische Partei, doch faktisch ist sie zu Erdoğans Wahlkampfmaschinerie degradiert, die der Präsident nach Belieben anwerfen und wieder abstellen kann.
Rechtsextremer Bündnispartner
Seit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 24. Juni 2018 verfügt die AKP nur noch im Verein mit der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) über die absolute Mehrheit in der Großen Nationalversammlung. Dort blockieren AKP und MHP gemeinsam immer wieder die Einsetzung von Untersuchungskommissionen. So haben sie im Juli und im Oktober 2018 erfolgreich verhindert, dass die Verbindungen von AKP-Politikern und AKP-nahen Unternehmern zur Gülen-Bewegung aufgedeckt werden, die Erdoğan für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich macht.
AKP und MHP haben bereits vor der letzten Wahl kooperiert, insbesondere wenn es um die Aufhebung der Immunität kurdischer Abgeordneter ging. Am 20. Dezember 2018 beantragte die Staatsanwaltschaft, die Immunität von 68 Abgeordneten der oppositionellen CHP aufzuheben. Das ist fast die halbe Fraktion, der jetzt Haftstrafen zwischen einem und vier Jahren drohen, gefolgt von einem Verbot politischer Betätigung. Und was wird den Parlamentariern vorgeworfen? Das Re-Tweeten einer Erdoğan-Karikatur, wegen der im letzten Sommer vier Studenten vier Wochen lang im Gefängnis saßen.
In der heutigen Türkei können oppositionelle Parlamentarier sich nicht mehr darauf verlassen, dass sie ihre von der Verfassung garantierten Rechte ausüben können. Mittlerweile können selbst Äußerungen im Parlament strafrechtliche Ermittlungen nach sich ziehen. Das musste im letzten November der Abgeordnete Cihangir Islam von der religiös-konservativen Glückseligkeitspartei (SP) erfahren, nachdem er die AKP beschuldigt hatte, jahrelang Stellen in Justiz, Polizei und Geheimdienst mit Anhängern des Predigers Fethullah Gülen besetzt zu haben.
Auf der lokalpolitischen Ebene sieht es ganz ähnlich aus. Drei Monate vor den Kommunalwahlen, die für den 31. März 2019 geplant sind, lebt rund die Hälfte der Bevölkerung in Städten und Landkreisen, deren Bürgermeister und Landräte nicht gewählt wurden. In den mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebieten hat die Regierung den nach dem Putschversuch verhängten Ausnahmezustand dazu benutzt, 90 Bürgermeister durch „Treuhänder“ des Innenministeriums zu ersetzen. Und im September 2018 drängte Erdoğan die AKP-Bürgermeister der Metropolen Ankara und Istanbul wie auch mehrerer anderer Städte zum Rücktritt und setzte Nachfolger ein, die der AKP bei den Kommunalwahlen bessere Resultate bringen sollen.
Im Oktober 2018 setzte das Innenministerium 259 gewählte Ortsvorsteher von Dörfern und Stadtteilen (Muhtare) ab, und zwar wiederum vor allem in den kurdischen Gebieten. Für keine dieser Amtsenthebungen musste sich die Regierung um Gerichtsurteile bemühen. Es reichte die Behauptung, die gewählten Repräsentanten seien eine Gefahr für die nationale Sicherheit.
Die Frage liegt auf der Hand, weshalb Erdoğan überhaupt noch Kommunalwahlen abhalten lässt. Der Präsident hat bereits im September 2018 angekündigt, auch neu gewählte Bürgermeister würden durch Treuhänder ersetzt, wenn sie Terrororganisationen nahestehen. Dieser Vorwurf kann heute fast jeden treffen. Zumal die AKP und ihr rechtsextremer Bündnispartner den Wahlkampf nicht mit lokalen Themen und Problemen bestreiten. Vielmehr deklarieren sie den Kampf um die Rathäuser – wie schon die letzten Wahlen auf nationaler Ebene – als Überlebenskampf der türkisch-muslimischen Nation gegen ihre Feinde.
Die große Ernüchterung
Mit diesem Topos hat Erdoğan auch schon die Einführung des Präsidialsystems propagiert: Ein frommes Volk steht auf gegen eine entfremdete Elite, von der es jahrzehntelang beherrscht wurde, und zwar mit Hilfe des Militärs, einer permanenten, säkularen Gehirnwäsche und einer Verfassung, die nur den Interessen dieser Elite diente. Laut Erdoğan wurden alle bisherigen Verfassungen vom Westen in die Türkei „exportiert“, sind also „nicht auf diesem Boden gewachsen“. Weshalb sie auch nicht „die Werte der Nation“ repräsentieren. Aus demselben Grund können die bestehenden Gesetze auch keine absolute Gültigkeit beanspruchen.
Was die Gewaltenteilung betrifft, so dient sie nach Erdoğans Lesart nur dazu, die Rechte und den Handlungsspielraum der vom Volk gewählten Regierung zu beschneiden. Dagegen kann es echte Demokratie nur geben, wenn ein vom Volk direkt gewählter Präsident die Werte der Nation verkörpert, wenn seine Herrschaft den Willen des Volkes vollkommen repräsentiert und er genau deswegen seine Macht mit niemandem teilen muss. Erst unter einer solchen Regierungsform findet die Türkei zu ihrer natürlichen Stärke und kann erneut zur Führungsmacht der (sunnitischen) Muslime aufsteigen.
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique. LMd liegt immer am zweiten Freitag des Monats der taz bei und ist einzeln im taz-Shop bestellbar: Gedruckt oder digital (inklusive Audio-Version). Das komplette Inhaltsverzeichnis der aktuellen Ausgabe finden Sie unter www.monde-diplomatique.de.
Das erklärt, so Erdoğan, warum das missgünstige Ausland – primär der Westen – ihn unbedingt zu Fall bringen will. Und zwar mithilfe einer „fünften Kolonne“, zu der er alle oppositionellen Kräfte zählt: So werden die oppositionellen Parlamentarier als vaterlandslose Gesellen und Helfershelfer von Terrororganisationen diffamiert, die sich der wahren, durch AKP und MHP verkörperten Nation entgegenstellen.
Inzwischen hat der Staatspräsident seine Herrschaft weiter ausgebaut als jeder zivile türkische Politiker vor ihm. Doch zu welchem Zweck? Hat Erdoğan bislang auch nur eines seiner erklärten politischen Ziele erreicht? Heute ist die Frage, welche inhaltlichen oder zukunftsweisenden Vorstellungen er mit seiner Politik verfolgt, vollkommen hinter den Kampf um den Machterhalt zurückgetreten.
Eine transformative politische Agenda, wie sie die AKP anfangs verkündet hat, existiert nicht mehr. Vergessen sind Themen wie Demokratisierung oder die EU-Mitgliedschaft, von denen Kritiker des Staatspräsidenten ohnehin annehmen, dass sie immer nur taktisch gemeint waren. Aber auch politische Ziele, die sich nahtlos mit der muslimisch-konservativen Identität der AKP und ihrer neuerdings nationalistischen Orientierung decken, wurden nicht erreicht.
Das gilt zumal für die Außenpolitik. Von der Vision, die Türkei als bestimmende Macht im Nahen Osten zu etablieren, ist genauso wenig geblieben wie von der Hoffnung, das Kurdenproblem durch die Einbindung der Kurden in eine stärker muslimisch geprägte türkische Nation zu lösen. Gescheitert ist auch die Strategie, in Ägypten und in Syrien der AKP verwandte Gruppierungen der Muslimbruderschaft an die Regierung zu bringen. Von einer türkischen Politik, die weit nach Osten ausgreift, kann keine Rede mehr sein: Heute beschränkt sich die Nahostpolitik Ankaras wieder – wie zu den Hochzeiten kemalistischer Herrschaft – auf das engstirnige Ziel, eine kurdische Selbstverwaltung in den Nachbarstaaten zu verhindern.
Staatlicher Druck auf Säkulare
Ein weiteres erklärtes Ziel wird durch die Wirtschaftskrise zunichte gemacht: Schon heute ist klar, dass die Türkei 2023, zum 100. Jahrestag der Gründung der Republik, nicht zu den zehn führenden Industrienationen zählen wird. Auch das Bemühen, die Bevölkerung in eine einheitliche, fromme muslimische Nation zu überführen, wird erfolglos bleiben – trotz allen staatlichen Drucks auf die säkularen Teile der Gesellschaft.
Enttäuscht wurden auch die Erwartungen vieler konservativer AKP-Wähler, Korruption und Nepotismus würden sich von selbst erledigen, wenn einmal fromme Muslime an der Regierung sind. Es ist deshalb kein Wunder, dass sich bei Wählern wie Mitgliedern der Regierungspartei eine große Ernüchterung breitmacht und ihre Dynamik nachgelassen hat.
Bei den Präsidentschaftswahlen vom 24. Juni 2018 konnte Erdoğan zwar schon im ersten Wahlgang mit 52,6 Prozent die absolute Stimmenmehrheit erringen. Doch anders als bei seiner ersten Wahl zum Staatspräsidenten im August 2014 war er 2018 auch auf jene Wählerinnen und Wähler angewiesen, die bei der gleichzeitig abgehaltenen Parlamentswahl ihr Kreuz bei der rechtsextremen MHP gemacht hatten – da kam die AKP nämlich nur noch auf 42,6 Prozent der Stimmen.
Es ist daran zu erinnern, dass der Gipfel der Wählergunst für die Erdoğan-Partei nunmehr bereits sieben Jahre zurückliegt: Im Juni 2011 hatte sie mit 49,8 Prozent fast jeden zweiten Wähler überzeugen können. Bei den Kommunalwahlen im März 2014 sackte sie auf 43,6 Prozent ab, bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 sogar auf 40,9 Prozent. Deshalb sind die 42,6 Prozent der letzten Wahl kein Ausreißer, sondern eine Bestätigung des negativen Trends.
Für die anstehenden Kommunalwahlen zeigen Umfragen die AKP landesweit deutlich unter 40 Prozent. Die Opposition hat offenbar Chancen, die Metropolen Ankara und Istanbul zu erobern, wenn die CHP und die erst im Oktober 2017 gegründete nationalkonservative säkular-kemalistische „Gute Partei“ (Iyi Parti, IyiP) gemeinsam antreten.
Von der Schwäche der AKP konnte in letzter Zeit fast ausschließlich das rechtsextreme Lager profitieren. Zwar stagnierte die MHP bei den letzten Parlamentswahlen mit 11,9 Prozent, doch die von der Ex-MHPlerin und früheren Innenministerin Meral Akşener angeführte IyiP erreichte auf Anhieb 10 Prozent. Die IyiP hat sich von der MHP abgespalten, teilt aber die Ideologie und Politik der extremen Nationalisten und lehnt nur die Alleinherrschaft Erdoğans ab.
Innere Logik des Systems
Damit sind heute circa 20 Prozent der türkischen Wähler mehr oder weniger starke Anhänger einer rechtsextremen Partei. Auch dies verweist auf einen Misserfolg der Erdoğan-Politik: Die Radikalisierung und Polarisierung entlang ethnischer und religiöser Identitäten, die der Staatspräsident seit den Gezi-Protesten von 2013 und verstärkt seit dem Abbruch der Friedensverhandlungen mit der PKK im Frühjahr 2015 betreibt, hat seiner eigenen Partei nur kurzfristig genutzt. Langfristig stärkt sie das rechtsradikale Lager.
Das Bündnis von AKP und MHP hat seinen Ursprung im gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016. In den Jahren davor war MHP-Chef Devlet Bahçeli einer der schärfsten Kritiker Erdoğans und seines Plans, ein Präsidialsystem einzuführen. Aus der Sicht Bahçelis untergrub Erdoğan damals die Fundamente des türkischen Staats. Dass dieser mit der PKK verhandelte, den Kurden kulturelle Rechte gewährte und ihnen größere lokale oder gar regionale Selbstbestimmung zugestehen wollte, lief für Bahçeli auf „Landesverrat“ hinaus, denn damit werde der unitäre und ethnisch-türkische Charakter der Republik unterhöhlt.
Ein Dorn im Auge war ihm auch, dass Erdoğan und seine AKP mit der klandestinen Gülen-Bewegung paktierten und deren Kader in Polizei, Geheimdienst und Justiz einschleusten. Indem Gülens Gefolgsleute die Mammutprozesse gegen das türkische Militär vorantrieben, legten sie laut Bahçeli die Axt an einen Grundpfeiler des Staats.
Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden die Karten neu gemischt. Die AKP und Erdoğan waren geschwächt, ihr Bündnis mit Gülen war bereits im Dezember 2013 endgültig zerbrochen. Jetzt sah sich die Regierung gezwungen, Gülen-Anhänger aus der Verwaltung zu drängen, was der MHP die Chance bot, eigene Kader unterzubringen. Denn Erdoğan war aufgrund der Schwäche seiner eigenen Partei auf die Rückendeckung der MHP im Parlament, aber auch bei Wahlen angewiesen.
Das ist der Hintergrund für Bahçelis Kehrtwende im Oktober 2016. Jetzt wurde der MHP-Chef vom schärfsten Kritiker des Präsidialsystems zu seinem eifrigsten Verfechter. Damit hat sich aber auch die Bedeutung und innere Logik des Präsidialsystems gewandelt: Von Erdoğan war es ursprünglich als Vehikel gedacht, durch die dramatische Anhebung der präsidentiellen Befugnisse die alte kemalistische Elite zu entmachten und den Staat in seinem Sinn zu transformieren. Jetzt machte das Bündnis von AKP und MHP das Präsidialsystem zum Mittel der Restauration des alten Staats, wenn auch in islamisierter und radikalisierter Form.
In Erdoğans Kampagne wurde die Notwendigkeit des Systemwandels auch mit der Behauptung begründet, die Wirtschaft der Türkei kranke daran, dass die politischen Entscheidungswege zu lang seien. Deshalb müsse man die Macht in einer Hand konzentrieren, auch um zu verhindern, dass Berufsverbände, Umweltschützer und die Opposition ständig Großprojekte blockieren, die für die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei unverzichtbar seien.
Explosiver Mix
Es war deshalb keine Überraschung, dass Erdoğan sofort nach seiner Wiederwahl auch in der Wirtschaftspolitik die Zügel in die Hand nahm. In seiner neuen, im Juli 2018 berufenen Ministerriege fehlte Mehmet Şimşek, der frühere Finanzminister und Vizeministerpräsident, der bei internationalen Anlegern als verlässlich und berechenbar galt. Stattdessen berief Erdoğan seinen Schwiegersohn Berat Albayrak zum Minister für Finanzen, dem auch die Kontrolle über die Staatskasse obliegt.
Dass der junge Mann unter Kuratel des Präsidenten steht, machte eine Episode im Oktober 2018 deutlich: Nachdem Albayrak einen Beratervertrag mit McKinsey abgeschlossen hatte, ohne seinen Schwiegervater zu fragen, musste er den Vertrag unverzüglich wieder auflösen.
Im September 2018 machte sich der Präsident selbst zum Chef des türkischen Staatsfonds. Der im August 2016 gegründete Fonds verwaltet die Anteile des Staats an elf großen Unternehmen und soll die Finanzierung von Megainfrastrukturprojekten sichern. In seiner neuen Rolle kann Erdoğan jetzt auch Entscheidungen über Privatinvestitionen treffen. Sein Stellvertreter an der Spitze des Fonds heißt Berat Albayrak.
Ein entscheidender Schritt zu Erdoğans persönlichem Regiment auch in der Finanz- und Wirtschaftspolitik ist ein Dekret vom 10. Juli 2018, wonach der Präsident den Chef der „unabhängigen“ Zentralbank ernennen kann. Weitere finanzpolitische Befugnisse sieht eine Gesetzesvorlage vor, die im Dezember 2018 den Haushaltsausschuss des Parlaments passiert hat. Sie ermächtigt den Präsidenten, auf Antrag einzelner Kommunen aus einem Extrahaushalt die Finanzierung „besonderer Projekte“ zu übernehmen. Damit erhält Erdoğan vier Monate vor den Kommunalwahlen die Befugnis, AKP-regierten Kommunen nach Belieben Gelder zuzuschanzen.
Türkische Ökonomen, die nicht der AKP nahestehen, diagnostizieren einen explosiven Mix: Der besteht erstens aus der Unberechenbarkeit wirtschaftspolitischer Entscheidungen; zweitens der Intransparenz der staatlichen Mittelvergabe, die zur Korruption einlädt; drittens der langjährigen Konzentration auf überdimensionierte Infrastrukturprojekte, die viertens auf Kosten der Investitionen in den produktiven Sektoren gehen. Es ist die Kombination dieser vier Faktoren, die den Wirtschaftskurs der AKP so problematisch macht.
Die strukturellen Schwächen der türkischen Wirtschaft sind altbekannt. Die wichtigsten Stichworte sind: eine chronisch niedrige Sparquote, die Abhängigkeit der Industrie von importierten Halbfertigprodukten, geringe Produktivität und Wertschöpfung und – als Resultat all dieser Faktoren – die starke Abhängigkeit von internationalen Finanzmärkten. Vor diesem Hintergrund müssen willkürliche politische Entscheidungen und ein Diskurs, der internationale Anleger verschreckt, gravierende Folgen haben.
Die große Bereicherung
Das zeigte sich im Verlauf der aktuellen Krise am Schicksal der türkischen Währung. Im April 2018 kostete ein US-Dollar 4 Türkische Lira (TL). Als die Lira unaufhaltsam fiel, reiste Erdoğan nach London. Dort traf er sich am 13. Mai im Bloomberg-Büro mit potenziellen Investoren, denen er seine Wirtschaftsphilosophie und seine Pläne für die Zukunft erläuterte. Dabei kündigte er an, dass er nach den Wahlen vom 24. Juni im Rahmen des neuen Präsidialsystems noch stärker als bisher die Politik der türkischen Zentralbank bestimmen werde. Zudem proklamierte er als sein zentrales finanzpolitisches Ziel einen realen Zinssatz von null Komma null Prozent. Zuvor hatte er seinem verblüfften Publikum erklärt, dass die Zinsen die Inflationsrate bestimmen und nicht umgekehrt, wie es die herrschende Finanztheorie lehrt.
Die Anleger lernten daraus zwei Dinge: Erstens, dass Erdoğan eine kaum verbrämte islamische Sichtweise auf die Wirtschaft hat, die den Zins verteufelt. Und zweitens die Erkenntnis, dass Erdoğan künftig noch weniger berechenbar agieren würde. Einer seiner Zuhörer kommentierte wenige Tage später: „Ich sehe keine Hoffnung. Es scheint ganz so, als würde er auf niemanden mehr hören.“
Nach diesem 13. Mai verlor die Lira binnen 24 Stunden 4 Prozent ihres Werts. Der Dollarkurs stieg auf 4,5 TL, und dieser Trend setzte sich noch über Wochen fort. Zu einem ähnlichen Kursausschlag kam es am 10. August 2018, als sich Erdoğan weigerte, den willkürlich verhafteten US-Prediger Andrew Brunson, der da schon seit fast zwei Jahren im Gefängnis saß, zu entlassen. Als Trump daraufhin die Verdoppelung von Zöllen auf Stahl und Aluminium aus der Türkei anordnete, verlor die Lira an einem Tag 11 Prozent ihres Werts und der Dollarkurs kletterte auf über 7 Lira.
Was die beiden Faktoren Intransparenz plus Korruption und Konzentration auf überdimensionierte Infrastrukturprojekte anbetrifft, so besteht zwischen beiden eine enge Beziehung. Die AKP hat sich ihre eigene Klasse von Bauunternehmern herangezogen. Die werden mittels Privatisierungen staatlicher Unternehmen und Zuteilung öffentlicher Aufträge großzügig gefördert, wofür sie sich mit Parteispenden revanchieren.
Um diese Vorteilsgewährung großen Stils juristisch abzusichern, wurde seit dem Machtantritt der AKP das Gesetz über öffentliche Ausschreibungen 53-mal geändert. Die ständig neuen Ausnahmeregelungen führten zu einer Intransparenz, die vor allem die Public-private-Partnership (PPP) Projekte kennzeichnet. Auf diese Weise werden den an PPP beteiligten Unternehmen auf Kosten der Steuerzahler weit überhöhte Renditen garantiert.
Besonders großzügig sind die Kalkulationen zum Wohle der ausführenden Privatfirmen bei drei Prestigeprojekten der AKP-Regierung ausgefallen. Sowohl die dritte Brücke über den Bosporus (Yavuz-Sultan-Brücke) als auch der Eurasien-Straßentunnel unter dem Bosporus (Avrasya Tüp Tüneli) und die 2016 eröffnete Brücke über den östlichen Ausläufer des Marmara-Meers (Osman-Gazi-Brücke) werden wesentlich weniger genutzt als projektiert.
Die Zahl der Fahrzeuge, die diese Verkehrswege kostenpflichtig nutzen sollten, wurde bei der Yavuz-Sultan-Brücke um zwei Drittel, beim Eurasien-Tunnel um 50 Prozent und bei der Osman-Gazi-Brücke um rund 60 Prozent zu hoch angesetzt. Die Differenz bezahlt der Staat, der den Unternehmen eine Rendite auf Basis von wahrscheinlich bewusst überzogenen Projektionen zugesagt hatte. 2018 zahlte der türkische Staat den Unternehmen im Rahmen solcher PPPs 7,4 Milliarden US-Dollar. Bis Ende 2021 soll diese Summe auf 44,5 Milliarden US-Dollar ansteigen.
Mit Einführung des Präsidialsystems und der weiteren Konzentration der Macht in den Händen einer Person werden sich diese Tendenzen weiter verstärken. Auch deshalb ist nicht zu erwarten, dass die Türkei in den nächsten Jahren politisch zur Ruhe kommen und wirtschaftlich einen neuen Aufschwung erleben wird.
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