Aus Le Monde diplomatique: Schwester Roboter
Japan automatisiert Dienstleistungen. Es will den Bevölkerungsrückgang und Arbeitskräftemangel ausgleichen – ohne Einwanderung.
Er ist nicht zu übersehen: Auf der künstlichen Insel Odaiba in der Bucht von Tokio steht ein riesiger Roboter – die Nachbildung einer Figur aus dem Science-Fiction-Universum Gundam – und blickt aus 18 Meter Höhe auf die japanische Hauptstadt. So stellen sich die Westler Japan gern vor: als Land der Roboter.
Die japanische Robotik beherrscht mit einem Drittel der globalen Exporte zwar den Weltmarkt für die Massenindustrie (Automobil, Luftfahrt, Chemie), doch im Dienstleistungsektor sieht es ganz anders aus. Japan interessierte sich schon früh für Robotik, setzte aber zunächst vor allem auf die Nutzung in den Bereichen Rüstung, Logistik oder Landwirtschaft. Soziale Roboter, die pflegen, empfangen oder assistieren, kamen nebenbei auch auf den Markt; manche erhielten sogar, zur Steigerung ihrer Geschicklichkeit oder um den Kontakt mit ihnen angenehmer zu machen, ein menschliches Aussehen.
Asimo, der erste Prototyp eines humanoiden Roboters, wurde 2000 von Honda präsentiert und ist der weltweit erfolgreichste zweibeinige Roboter. Doch trotz dieser Meisterleistung und der Entwicklung zahlreicher Modelle steckt der japanische Markt für Dienstleistungsroboter noch in den Kinderschuhen. Zwar setzen sich einfache Haushaltsroboter – Staubsauger, Rasenmäher – langsam durch, aber in diesem Sektor hat das US-Unternehmen iRobot immer noch die Nase vorn.
Nachdem Japan sich bei der digitalen Revolution (Flachbildschirme, Smartphones und so weiter) von seinen Konkurrenten aus den USA und Südkorea hat abhängen lassen, ist es nun fest entschlossen, sich die Chancen der Dienstleistungsrobotik nicht entgehen zu lassen. Denn in diesem Markt steckt ein gewaltiges Wachstumspotenzial: Die Zahl der weltweit verkauften Dienstleistungsroboter stieg allein 2014 um 28 Prozent und lag bei 4,7 Millionen Exemplaren.
„Roboterrevolution“ statt Einwanderung
Für ihre „Roboterrevolution“ hat die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt einen Fünfjahresplan aufgestellt. Japan will mit der Robotik auf den Bevölkerungsrückgang reagieren, der das Land belastet. Nach wie vor sperrt sich die Regierung gegen eine aktive Einwanderungspolitik; stattdessen will sie dem Arbeitskräftemangel (im Baugewerbe kommen drei freie Stellen auf einen Arbeitssuchenden) mit Robotern begegnen.
„Wir müssen den Einsatz von Robotern auf alle Bereiche unserer Wirtschaft und Gesellschaft ausdehnen“, verkündete Premierminister Shinzo Abe im Mai 2015. Dennoch sind für den Zeitraum von 2015 bis 2020 lediglich Investitionen von 100 Milliarden Yen (970 Millionen Dollar) für öffentlich-private Kooperationen vorgesehen, während Südkorea 2,6 Milliarden Dollar in den Sektor stecken will.
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique. LMd liegt immer am zweiten Freitag des Monats der taz bei und ist einzeln im taz-Shop bestellbar: Gedruckt oder digital (inklusive Audio-Version). Das komplette Inhaltsverzeichnis der aktuellen Ausgabe finden Sie unter www.monde-diplomatique.de.
Der Großteil der Projekte wird im Rahmen des I-RooBo-Network-Forums realisiert, das aus großen Unternehmensgruppen und etwa 300 spezialisierten Start-up-Firmen besteht.
Nach der Atomkatastrophe 2011 taten sich die drei Giganten der Auto- und Elektronikbranche, Toshiba, Hitachi und Mitsubishi, mit iRobot und BMW unter Koordination des in Tokio ansässigen International Research Institute for Nuclear Decommissioning (Irid) zusammen. Das Ziel war, Roboter zu entwickeln, die die Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi inspizieren und, wenn möglich, die geschmolzenen Brennstäbe entfernen sollten.
Kameras in Augen und Armen
Angesichts der hohen Gefahr von Erd- und Seebeben in Japan entwickelte das staatliche Forschungszentrum National Institute of Advanced Industrial Science and Technology (Aist) den Humanoiden HRP-2, der nach 2011 zum HRP-2 Kai („kai“ bedeutet „verbessert“) wurde. Der zweibeinige, 1,72 Meter große Roboter ist mit 3-D-Kameras ausgestattet, kann sich in Trümmern bewegen, in die Hocke gehen, eine Tür öffnen und sogar ein Ventil aufdrehen. Dennoch: „In einer realen Situation wird der Roboter frühestens in 10 bis 15 Jahren einsetzbar sein. Jede einzelne seiner Bewegungen erfordert eine Vielzahl von Computerbefehlen. Mit seinem Gleichgewicht und seiner Gestik klappt es zwar schon gut, aber er ist noch nicht schnell genug, um in einer Umgebung, die er in Echtzeit entdecken und analysieren muss, einen Menschen zu retten“, erklärt Projektleiter Kanehiro Fumio vom Aist.
Der Plan von Premierminister Abe sieht vor, mittlere, kleine und auch sehr kleine Unternehmen mit „kollaborativen“ Arbeitsrobotern, sogenannten Cobotern, auszustatten, die vielseitig einsetzbar und preisgünstiger sind als die traditionellen Industrieroboter. Sie können repetitive Aufgaben mit geringer Wertschöpfung übernehmen.
ist Journalist. Er arbeitet für France24 und Les Echos.
Schon 2013 hatte die Technologiefirma Kawada den leistungsstarken humanoiden Zweibeiner Nextage präsentiert. Mit Kameras in seinen Augen und Armen ist der Roboter imstande, elektronische Geräte (zum Beispiel Ladenkassen) sehr präzise zusammenzubauen. Innerhalb von drei Jahren wurden 200 Exemplare zu einem Preis von rund 65 000 Euro an japanische Fabriken verkauft. „Nextage ersetzt nicht den Arbeiter, sondern koexistiert mit ihm und kommt am Ende der Montagestraße zum Einsatz“, erklärt Fujii Hiroyuki von Kawada. Mensch und Maschine arbeiten Seite an Seite, und nicht selten bekommt der Roboter von seinen Kollegen einen menschlichen Vornamen.
Den größten Roboter-Industriepark der Welt besitzt übrigens China: Es hat nach Zahlen der International Federation of Robotics allein im Jahr 2015 rund 65 000 Roboter importiert. China will auch die eigene Produktion von Industrierobotern innerhalb der nächsten fünf Jahre verdreifachen. Seit das Unternehmen Midea mit dem deutschen Roboterbauer Kuka einen der weltweiten Branchenführer aufkaufte, ist China in die obere Liga der Branche aufgerückt. Doch viele Patente auf einzelne Bauteile sind im Besitz Japans.
Ein Humanoide und ein Dinosaurier
Japan spezialisiert sich indessen auf Roboter mit ganz besonderen Fähigkeiten: Das spektakulärste Projekt, das die Regierung fördern will, sind interaktive Empfangsroboter (Auskunft, Verkauf, Rezeption). Der führende japanische Telekommunikations- und Medienkonzern Softbank hat in seinen Läden den Humanoiden „Pepper“ installiert, einen Roboter mit kindlichem Aussehen, der in der Lage ist, Mimik und Stimme eines Menschen zu erfassen und daraus bestimmte Informationen herauszufiltern. In Japan hat er sich innerhalb eines Jahres 10 000-mal verkauft. Inzwischen ist er in 70 Ländern im Einsatz, auch in Europa: Seit Juni steht er als Rezeptionist in zwei belgischen Krankenhäusern.
Im Hotel Henn-na in der Nähe von Nagasaki werden die Gäste schon seit einem Jahr von einem Humanoiden und einem Dinosaurier empfangen, die an der Universität von Osaka entstanden sind. Und im Shoppingcenter Aqua City auf Odaiba erhalten die Tokioter Besucher Auskunft von der dreisprachigen, latexhäutigen Roboterdame Junco Chihira, die Toshiba entwickelt hat.
So eindrucksvoll diese Schöpfungen auch sind, es fällt schwer, darin mehr als Pilotprodukte zu sehen. Die Hersteller versprechen ab 2017 leistungsfähigere Prototypen. Die künstliche Intelligenz der Humanoiden soll noch erhöht werden, denn sie können ihre Umgebung zwar analysieren, doch ihre Algorithmen verleihen ihnen nicht die Fähigkeit des Denkens, so dass sie nur bestimmte programmierte Gesten und Worte hervorbringen können.
Dabei werden in Japan vor allem in der Pflege Roboter dringend gebraucht. 26 Prozent der japanischen Bevölkerung sind heute älter als 65 Jahre. Der Anteil könnte bis 2060 auf 40 Prozent steigen. Während die Zahl pflegebedürftiger alter Menschen stetig zunimmt, fehlten nach offiziellen Studien 2013 etwa 1,7 Millionen Pflegekräfte, 2025 könnten es 2,5 Millionen sein. Dieses Defizit könnten Roboter ausgleichen, indem sie beschwerliche Tätigkeiten übernehmen und dabei helfen, dass alte Menschen im Alltag möglichst autonom bleiben. Der Plan von Premier Abe sieht vor, dass die Kosten für die Roboternutzung von einer besonderen, vor Kurzem geschaffenen Versicherung für pflegebedürftige alte Menschen abgedeckt werden.
Noch zu schwer und ungeschickt
Zurzeit aber sind die Roboter noch zu teuer und zu behäbig, um sie in großem Maßstab einzusetzen. Der Roboterbär Riba zum Beispiel, der im Forschungsinstitut Riken entwickelt wurde und in den westlichen Medien für viel Aufmerksamkeit sorgte, kam nie auf den Markt. Er sei noch zu schwer und zu ungeschickt, um Patienten sicher tragen zu können, sagt Dr. Toshiharu Mukai: „Es handelt sich um ein Forschungsprojekt, das im März 2015 beendet wurde. Riba wurde niemals in einer realen Situation im Krankenhaus benutzt.“
Einige Prototypen haben allerdings ihren Dienst im wirklichen Leben angetreten. Toyota brachte nach zehn Jahren Entwicklungsarbeit 2013 mehrere Modelle der Serie „Partner Robots“ auf den Markt, darunter den HSR (Human Support Robot), einen sprechenden Roboter mit beweglichem Arm, der über ein Tablet gesteuert wird und der in der Lage ist, einem bettlägrigen Patienten einen Gegenstand zu bringen, eine Tür zu öffnen und Vorhänge auf- und zuzuziehen. Er ist heute in 34 medizinischen Einrichtungen im Einsatz – das ist wenig. „Der Roboter darf auf keinen Fall den Patienten verletzen. Er muss eine echte Ergänzung zum menschlichen Helfer sein. Es dauert, bis dieses Ziel erreicht ist“, meint Akifumi Tamaoki, Leiter des Projekts „Partner Robot“ in Hirose.
Die internationale Norm ISO 13482, auf Initiative Japans 2014 eingeführt, ist die Grundlage für die Zertifizierung von Pflegerobotern. Sie könnte Schwung in die noch wenig entwickelte Branche bringen: 2015 wurden durch den Verkauf von Pflegerobotern 166 Millionen Dollar erwirtschaftet, was einem Marktanteil von nur 4,5 Prozent am gesamten japanischen Markt mit Dienstleistungsrobotern entspricht. Nach dem Fünfjahresplan von Abe soll diese Zahl bis 2020 auf 500 Millionen Dollar steigen, Experten sprechen von 4 Milliarden Dollar bis 2060.
Panasonic hat im April 2016 das ISO-Zertifikat für den Roboter Hospi erhalten, der selbstständig Medikamente verteilt. Viele Forschungsprojekte konzentrieren sich auf externe anatomische Stützroboter, die bei der Lähmung von Gliedmaßen, eingeschränkter Beweglichkeit oder im Rahmen einer Reha die Motorik der Patienten unterstützen. Nur einige dieser „Exoskelette“ wurden bis jetzt in Japan verkauft, der globale Absatz soll sich bis 2025 allerdings vervierfachen.
Exoskelette helfen beim Gehen
Auch Toyota, Panasonic, Honda und der Gigant der industriellen Robotik, Yaskawa, haben damit begonnen, Dienstleistungsroboter herzustellen und ein Leasing-System für medizinische Einrichtungen aufzubauen. Doch als Erstes hat das kleine Unternehmen Cyberdyne (entstanden an der Universität Tsukuba) mit seinem Roboteranzug HAL (Hybrid Assitive Limb) den Weltmarkt erobert. Das Gerät empfängt Signale vom Gehirn und erfasst, welche Bewegungen der Träger ausführen will. HAL hilft nicht nur alten oder behinderten Menschen, sondern kann auch bei Arbeitsabläufen assistieren. Am Flughafen von Haneda wurde er versuchsweise eingesetzt, um das Verladen von schwerer Fracht zu erleichtern.
Das Fujita Health University Hospital, eins der führenden Krankenhäuser des Landes, nutzt in großem Umfang Exoskelette, die Patienten beim Gehen helfen, allerdings noch unter Aufsicht des menschlichen Personals. „Es gibt auch Exoskelette, mit denen man Gleichgewichtsübungen durchführen kann, was von älteren Menschen sehr geschätzt wird“, erzählt Krankenhausdirektor Saitoh Eiichi. Damit können die Patienten trainieren, indem sie in einer Robotervorrichtung auf einem Laufband ähnlich wie bei der Nintendo-Spielkonsole Wii kontrolliert die Bewegungen einer Ski-, Tennis- oder sonstigen Sportsimulation ausführen.
Inzwischen sind sogar „emotionale Roboter“ zur Behandlung von Kognitions- und Verhaltensstörungen auf dem Markt. Sie entwickeln eine Beziehung zum Patienten und sollen etwa bei Alzheimerkranken zur Linderung von Demenz, Angst und Isolation eingesetzt werden. Dahinter stecken die Ideen der Tiertherapie – ohne die mit einem lebenden Tier verbundenen Risiken. Der Roboter Paro beispielsweise, der einem Robbenbaby nachempfunden ist, wurde mit Sensoren und einem künstlichen Fell ausgestattet und reagiert, wenn er vom Patienten gestreichelt wird: Er quiekt, schließt die Augen, bewegt die Flossen. Tausende Exemplare wurden bereits verkauft, auch nach Europa und in die USA.
Allem Anschein nach wird die Branche zukünftig mehr an Robotern arbeiten, die klein, preisgünstig und mit anderen Geräten kompatibel sind. Nao, ein Humanoid von Softbank, und Sato von NTT zum Beispiel können den Nutzer daran erinnern, den Blutdruck zu messen oder seine Medikamente einzunehmen. Aber es wird wohl noch ein paar Jahre dauern, bis man sie in Privathaushalten sieht. Die Hindernisse sind technischer und finanzieller, nicht jedoch psychologischer Art. Laut einer Studie der Regierung stehen in Japan 65,1 Prozent der Patienten Robotern positiv gegenüber und betrachten sie als Lebensbegleiter.
Die Seelen von Objekten und Orten
Roboter sind in der japanischen Kultur fest verankert. Das zeigen schon die Mangas: Die Anime-Serie über den Androiden Astro Boy entstand bereits in den 1960er Jahren. Und schon in der Edo-Zeit (1603–1868) gab es kleine, federbetriebene Puppen, die Tee servierten. Hinzu kommt, dass in der Vorstellungswelt des Schintoismus bestimmte Tiere oder Objekte und Orte in der Natur eine Seele besitzen. Sie werden kami genannt. Der Berg Fuji gehört dazu, die Hirsche im Park der Stadt Nara – und möglicherweise ja auch Roboter.
Nun will Japan also die wirtschaftliche Schlacht um die Dienstleistungsroboter gewinnen und dabei die Humanoiden als Aushängeschilder nutzen. Bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio sollen sie zeigen, was sie können. „Wir bereiten eine Olympiade für Roboter vor“, verkündet Satoshi Kochiyama, Projektleiter in der Robotik-Abteilung von Nedo. „Das Ziel ist, die Integration der Roboter in die Gesellschaft zu beschleunigen, indem wir der Bevölkerung klarmachen, dass wir sie brauchen.“ Doch um dem demografischen Ungleichgewicht entgegenzuwirken, ist sicher mehr nötig – angefangen bei einer Einwanderungspolitik und der Beschäftigung von Frauen.
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