Aufarbeitung der Mordserie: NSU-Terror bleibt in Hamburg eine akademische Frage
In Hamburg werden Forscher den Mordanschlag des NSU aufarbeiten. Das sei gut, könne aber keinen Untersuchungsausschuss ersetzen, findet Die Linke.

Wie konnte es sein, dass die Sicherheitsbehörden für die Möglichkeit blind waren, dass die NSU-Mordserie einen rassistischen Hintergrund hatte? Wie konnte es sein, dass sie lieber Wahrsager beschäftigten, als dieser aus heutiger Sicht so naheliegenden Hypothese nachzugehen. Diese Fragen sollen nach dem Willen der Hamburgischen Bürgerschaft wissenschaftlich geklärt werden. Der Auftrag dazu ging kürzlich an ein Forscherteam unter Führung der Universität Bochum.
Der Mord am Hamburger Gemüsehändler Süleyman Tasköprü vor 24 Jahren war der dritte mit der gleichen Pistole. „Ab dem Moment war klar, es handelt sich um einen Serienmord“, sagt Constantin Goschler, Professor an der Uni Bochum, der die Forschungsgruppe koordiert. „Man ging davon aus, dass es weitere Morde geben würde.“ Dabei folgte die Polizei von Anfang an einer falschen Spur, indem sie die Morde mit organisierter Kriminalität in Verbindung brachte und andere Möglichkeiten weitgehend ausblendete.
Die beiden ersten Opfer waren in Nürnberg ermordet worden, sechs weitere Morde über ganz Deutschland verteilt folgten – an türkischstämmigen und einem griechischstämmigen Migranten. Verübt in den Jahren 2000 bis 2006, wurde ihr wahrer Hintergrund erst offensichtlich, als die Gruppe 2011 aufflog. Zwei der Terroristen töteten sich selbst. Ihre Komplizin Beate Zschäpe wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.
Insgesamt 15 parlamentarische Untersuchungsausschüsse (PUA) versuchten, den Hintergrund dieser Mordserie auszuleuchten. Als einziges betroffenes Bundesland verzichtete Hamburg auf einen solchen. Stattdessen verwies die zur Tatzeit und nach dem Auffliegen der Gruppe in Hamburg regierende SPD darauf, dass der Hamburger Mord im Innenausschuss der Bürgerschaft bearbeitet worden sei. Zudem legte der Senat einen 87-seitigen Bericht zu dem Fall vor.
Bloß die AfD stimmte dagegen
Wiederholte Forderungen der Linken und von Teilen der Grünen nach einem Untersuchungsausschuss hatte die SPD abgewiesen. Die jetzt anstehende wissenschaftliche Aufarbeitung bezeichnete Deniz Celik, Bürgerschaftsabgeordneter der Linken, als „faulen Kompromissversuch der Regierungsfraktionen, um ihren politischen Unwillen zur Aufklärung des NSU zu kaschieren“.
Gleichwohl stimmte die Linke für die Ausschreibung – auch wenn eine solche Studie einen PUA nicht ersetzen könne. Lediglich die AfD simmte dagegen.
Constantin Goschler als Sprecher der Forschergruppe freut sich angesichts des langen Streits über die breite Zustimmung der Bürgerschaft. Damit werde die Forschung vom Parteienstreit entlastet. Zwar habe ein PUA gewisse Vorteile, etwa indem er Zeugen vorladen und zwangsweise vorführen könne. Daraus ergebe sich aber auch ein doppelter Nachteil.
Ein gerichtsförmiges Verfahren wie ein Untersuchungsausschuss führe dazu, dass sich Zeugen strategisch verhielten, weil sie sich nicht selbst belasten wollten. Zudem sei das Ergebnis „einer politischen Logik unterworfen“, sagt Goschler. „Das diktiert den Ablauf.“ Sein Forschungsteam hingegen habe keine politische, sondern eine staatsbürgerliche Agenda.
„Nicht nur die Morde selbst, sondern auch der Umgang damit führten zu einem tiefen Vertrauensverlust“, sagt Goschler. Die Angehörigen ermordeter Reeder etwa wären wohl nicht auf eine Verwicklung in organisierte Kriminalität hin verhört worden, wie es den Angehörigen der NSU-Opfer geschah. „Das hat gesellschaftliche Relevanz“, sagt Goschler.
Constantin Goschler, Historiker, Ruhr-Universität Bochum
Den Forschern geht es nicht darum, die Neonazi-Szene in Norddeutschland zu durchleuchten und ein mögliches Unterstützernetzwerk aufzudecken, sondern um die Arbeit der Polizei und des Verfassungsschutzes.
„Wir können nicht die Ermittlungsarbeit, die gegebenenfalls nicht gemacht wurde, nachholen“, sagt Goschler – ebenso wenig wie ein PUA. Die Forscher wollten vielmehr auf die Ermittler selbst schauen, die Kultur der Sicherheitsbehörden, die Brille, mit der sie auf die Mordserie und die Neonazi-Szene blickten.
Im Mittelpunkt stehe das Verwaltungsversagen und die Frage, was sich besser machen lasse, wobei auch die Perspektive der Angehörigen der Mordopfer wichtig sei. „Wir werden nicht den einen Schuldigen finden“, sagt Goschler, eher Entscheidungen, die auch anders hätten getroffen werden können, etwa wofür wie viele Ressourcen eingesetzt werden.
Dabei soll es auch um den Resonanzraum gehen, in dem die Sicherheitsbehörden arbeiten, also deren Wechselspiel mit der Öffentlichkeit, in der von „Dönermorden“ die Rede war. Goschler spitzt es zu: „Jede Gesellschaft hat die Polizei, die sie verdient.“
Um der Vielschichtigkeit ihres Gegenstandes gerecht zu werden, arbeitet die Forschergruppe interdisziplinär. Goschler selbst ist Zeithistoriker und hat eine grundlegende Studie zum Verfassungsschutz mitverfasst. Die Polizeisoziologin Daniela Hunold von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin forscht zu Rassismus in der Polizei.
Bundesanwalt muss Akten freigeben
Charlotte Schmitt-Leonardy ist Expertin für Strafverfahrensrecht. Sie hat sich mit den Problemen großer, komplexer Verfahren befasst wie dem Duisburger Loveparade-Unglück. Zusammengebracht hat die Forschungsgruppe Wolfgang Seibel von der Uni Konstanz, der die Muster erforscht hat, die hinter schwerem Verwaltungsversagen stecken.
Zu den vier erwähnten kommen drei weitere Mitarbeiter, die das Team vervollständigen. Sie alle müssen eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen, weil sie auch auf Verschlusssachen der Behörden zugreifen dürfen. „Die Behörden haben uns uneingeschränkten Zugang zugesichert“, sagt Goschler.
Dabei geht es um Hunderte Akten der Polizei und des Landesamtes für Verfassungsschutz, die mindestens bis zum Abschluss der wissenschaftlichen Aufarbeitung erhalten bleiben sollen. Ein Teil davon muss von der Bundesanwaltschaft freigegeben werden.
Bis die Sicherheitsfreigabe erteilt ist, will das Team sozusagen den Forschungsstand ermitteln und die Ergebnisse der bisherigen 15 parlamentarischen Untersuchungsausschüsse sowie das Internet durchforsten. „Zur Forschung gehört, das Rad nicht neu zu erfinden“, sagt Goschler.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!