Auf gewalttätige Sprache folgt Gewalt: „Rechte haben eine Deutungshoheit“
Daniel Trepsdorf leitet ein Demokratiezentrum in Westmecklenburg. Der rassistisch motivierte Angriff auf zwei Mädchen aus Ghana verwundert ihn nicht.
taz: Herr Trepsdorf, am Freitag wurden zwei ghanaische Mädchen und ihr Vater in Grevesmühlen von Jugendlichen aus rassistischen Motiven angegriffen. Ist das ein neues Niveau der Gewalt?
Daniel Trepsdorf: Unsere Beratungsorganisation, das Demokratiezentrum Westmecklenburg, ist viel in Verwaltungen, Vereinen und Schulen unterwegs. Dort haben wir in den letzten fünf Jahren sowohl qualitativ als auch quantitativ eine gesteigerte gewaltaffine Sprache wahrgenommen, insbesondere in sozialen Netzwerken. Gerade in Chat-Gruppen von Klassen etwa, also von Jugendlichen und damit der Tätergruppe, bemerken wir eine Verrohung und Enthemmung des Sprachgebrauchs. Erst verändert sich die Sprache der Menschen, dann das Denken und zuletzt eben auch das Handeln. Was in Grevesmühlen zutage getreten ist, ist nur die Spitze des Eisbergs.
Welche Gestalt hat dieser veränderte Sprachgebrauch?
Wir beobachten eine Enthemmung in Sachen Rassismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Abwertung vulnerabler Gruppen. Gerade in der Jugendkultur scheint da ein Zivilisationsbruch stattzufinden.
Woher kommt diese Entwicklung?
Wir müssen uns da insbesondere auch das Auftreten der AfD und anderer rechter Akteure anschauen. Dort wird immer ein klares Feindbild konstruiert. Es gibt eine Schuldzuweisung, Minderheitsgruppen werden diffamiert, um die eigene Gruppe aufzuwerten. Dazu gehören biologistische, nationalistische und rassistische Konnotationen. Sie sind schuld und wir sind die Guten.
Und diese Narrative bleiben bei Jugendlichen verstärkt hängen?
Das funktioniert besonders, wenn Kinder und Jugendliche nicht genug sensibilisiert sind, in der Schule etwa auch die Werteerziehung zu kurz kommt. Demokratie muss man lernen, wie der kürzlich verstorbene Soziologe Oskar Negt stets betonte. Dazu gehört auch auch das Einüben einer kommunikativen und empathischen Praxis. Wie wollen wir miteinander umgehen? Das muss erprobt werden. Wenn das in der Schule nicht passiert und der elterliche Küchentisch als Instanz zur Sozialisation auch noch ausfällt, ist gewalttätiger Kommunikation und gewalttätigen Übergriffen Tür und Tor geöffnet.
Bei der Kreistagswahl am vorvergangenen Wochenende wurde die AfD in Nordwestmecklenburg mit 25,4 Prozent stärkste Kraft.
Wenn wir nach der Wahl auf die Deutschlandkarte gucken, ist der Osten wieder sehr blau/braun geworden. Wir müssen aber auch den grundsätzlichen Diskurs weiterführen, dass seit der Wende dort etwa Biografien entwertet wurden. Heute schlägt der demographische Wandel besonders durch, viele Menschen wandern ab. Ländliche Räume wie Nordwestmecklenburg sind sozio-ökonomisch strukturell degradierte Regionen.
Wir müssen die politische Situation dort also kontextualisieren?
Ja. Die Menschen nehmen von Kindesbeinen an ein Gefühl des Abgehängtseins mit. Nach wie vor bilden wir den Lohnkeller der Republik. Circa 75.000 Rentner*innen in Mecklenburg-Vorpommern, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben, bekommen weniger als 1.000 Euro Rente. Das erzeugt Frustration. Da fehlt es auch an einem Konzept zur Entwicklung des ländlichen Raums. Und wer bleibt zurück? Das sind vor allem völkische und ultranationalistische Gruppen. Sie füllen den Leerraum, der sich politisch ergibt.
In Nordwestmecklenburg sind rechte Akteur*innen gut vernetzt. Das Thinghaus in Grevesmühlen etwa war lange ein Zentrum nationalistischer Gruppen in Norddeutschland.
Die Region Westmecklenburg war nach der Wende immer ein Laboratorium für rechtsextremistische und völkische Kräfte, die vielfach auch aus dem Westen gekommen sind. Die Lebenshaltungskosten waren niedrig, man konnte günstig Wohnraum erwerben, Netzwerkaktivitäten waren stark ausgeprägt.
Leiter des Demokratiezentrums Westmecklenburg und ehrenamtlicher Vorsitzender des Kulturausschusses der Landeshauptstadt Schwerin für die Linke.
Welche Ziele verfolgen sie dort?
Rechte prägen in den Gemeinden den Diskurs, haben eine Deutungshoheit. Die ländliche Gesellschaft ist sehr viel homogener und kommt mit weniger Widerspruch aus. Es geht Rechtsextremist*innen nicht darum, die absolute Mehrheit zu gewinnen, sondern um die Deutungshoheit. Das ist etwas, was zum Beispiel ein Sven Krüger par excellence betreibt.
Sven Krüger ist ein bekannter Neonazi aus dem nahegelegen Jamel, der kürzlich bei der Gemeinderatswahl in Gägelow die meisten Stimmen aller Kandidat*innen holte.
Er und andere Akteur*innen bringen genau diese Agenda nach vorne. Klare Feindbilder, anschlussfähig sein bis in die Mitte der Bevölkerung und auch Lügen und Halbwahrheiten zu verbreiten, insbesondere beim Thema Flucht und Asyl, wo sie permanent mit der Angst spielen. Das verfängt gerade im ländlichen Raum, insbesondere wenn Menschen betroffen sind. Das hat sich etwa gezeigt in der Auseinandersetzung in Upahl.
2023 wurde in dem 500-Einwohner-Ort gegen eine Unterkunft für bis zu 400 Geflüchtete protestiert.
Vor Kurzem ist dort etwa ein Fernfahrer an einer Tankstelle mutmaßlich an einer Herzattacke gestorben. Sofort machte sich das Gerücht breit, ein Geflüchteter hätte ihn umgebracht. Es werden gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausgespielt und ein Keil in die Dorfgemeinschaften getrieben.
Gibt es dort trotzdem Menschen, die sich diesen Entwicklungen entgegenstellen?
Die Polizei hat nach dem mutmaßlich rassistischen Angriff auf zwei Mädchen aus Ghana in Grevesmühlen ein Hinweisportal freigeschaltet.
Zeug:innen können sich unter mv.hinweisportal.de melden und gegebenenfalls Bilder und Videos hochladen. Alternativ können sie sich telefonisch an den Kriminaldauerdienst in Wismar unter ☎ 03841-20 31 56 oder an jede andere Polizeidienststelle wenden.
Eine inzwischen eingerichtete Ermittlungsgruppe arbeite „mit Hochdruck“ und werte bereits erstes Bildmaterial aus, teilte das Polizeipräsidium Rostock mit.
Die gibt es, von der jungen Generation und auch aus der Mitte der Gesellschaft. Es ist wichtig, dass es Bündnisaktivitäten gibt, dass Menschen sich zusammenfinden. Diesen aktiven Teilen der Zivilgesellschaft muss auch eine Wertschätzungskultur entgegengebracht werden. Auch in Grevesmühlen oder Upahl haben Sportvereine oder Feuerwehr mit einem demokratischen, menschenrechtsorientierten Bekenntnis von sich reden gemacht. Die meisten Bewohner*innen in Grevesmühlen reagierten betroffen auf den Angriff am vergangenen Wochenende.
Wie steht es also um das demokratische Miteinander?
Die Kapillargefäße des demokratischen Miteinanders im ländlichen Raum sind noch nicht verstopft, aber sie müssen durch gute Rahmenbedingungen offengehalten werden. Sonst droht mit Blick auf Hass und Hetze der Infarkt. Rechtsextremismus und Menschenverachtung haben Ursachen. Niemand wird als Rechtsextremist geboren. Jetzt müssen wir uns kritisch angucken, an welchen gesellschaftlichen Stellschrauben wir nachjustieren müssen. Und das müssen wir konsequent tun. Wenn wir es vernachlässigen, dann werden aus jugendlichen Gewalttätern die rechtsextremen Terroristen von morgen.
Update: Am 17. Juni hat die Polizei Rostock ihre Angaben zu dem mutmaßlich rassistischen Angriff teilweise revidiert. Nach der Auswertung von Hinweisen Anwohnender stelle sich der Sachverhalt inzwischen anders dar, so die Polizei. Demnach soll das achtjährige Mädchen keine, wie zuvor angegebene, körperliche Verletzungen erlitten haben, die auf die zuvor geschilderte Tathandlung hindeuteten. Weitere Angaben zum Tathergang und die Verletzungen des Vaters der Kinder wurden nicht revidiert.
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