Auf der Balkanroute in die EU: Gevgelija, Symbol der Machtlosigkeit
Von der mazedonischen Stadt aus machen sich jeden Tag Tausende nach Serbien auf. Exjugoslawien ist nur eine Zwischenstation, ihr Ziel ist die EU.
Grenzpolizisten schauen zu, während so viele wie möglich in die Züge steigen, die sie für 10 Euro nach Tabanovce an der serbischen Grenze bringen. Dort angekommen, zeigt man ihnen, in welcher Richtung Serbien liegt – und sie marschieren los.
Die Devise lautet: den Flüchtlingsstrom so schnell wie möglich weiterziehen zu lassen. Alle, die illegal ins Land gekommen sind, werden praktisch aufgefordert, illegal die serbische Grenze zu überqueren.
Den Versuch, Ordnung in das Flüchtlingschaos zu bringen, haben die Behörden längst aufgegeben. Theoretisch sollten Aufenthaltsgenehmigungen für 72 Stunden ausgegeben werden. Doch bei bis zu 2.000 illegalen Grenzübergängen täglich ist nicht einmal das möglich.
Gevgelija ist ein Symbol der Verzweiflung der Flüchtlinge – und der Machtlosigkeit der lokalen Behörden auf dem Balkan. Vor wenigen Tagen brach ein regelrechter Kampf um Zugplätze in Richtung Serbien aus: Mit Messern und Schlagstöcken in der Hand schafften es nur die stärksten, Kinder wurden durch Fenster in die Waggons geworfen und wieder hinaus, wenn die Eltern draußen blieben, Schreie, Tränen, Verwundete.
Einmal in Serbien angekommen, suchen die Erschöpftesten Hilfe in einem Aufnahmelager nahe der Stadt Presevo. Dort werden sie medizinisch versorgt, bekommen Nahrungsmittel und Wasser. Einige werden als Asylanten registriert. Die meisten jedoch ziehen weiter Richtung Ungarn.
Unter den Flüchtlingen hat sich herumgesprochen, dass Ungarn eine Mauer baut. Daher wollen sie so schnell wie möglich weiter – bevor es zu spät ist. Auch das ist eine Grund für die aktuelle Flüchtlingswelle: Schmuggler verbreiten Panik, um noch schneller noch mehr kassieren zu können.
Wäsche trocknet am Baum
Die nächste Station der „Balkanroute“ ist Belgrad. Dort sieht man menschliches Leiden, wie sie die Einwohner aus der Zeit der Balkankriege kennen. Etwa im Park beim zentralen Busbahnhof morgens um 5.30 Uhr.
Tausende schlafen in Zelten, Schlafsäcken und auf dem Rasen. An Bäumen trocknet Wäsche. Dann wachen die Menschen auf und begeben sich auf die Suche nach Wasser und Brot. In einem Nachtclub dürfen sie die Toilette benutzen. Die serbischen Behörden sind so überfordert mit den Flüchtlingsmassen wie die mazedonischen.
Das Innenministerium spricht von über 90.000 Flüchtlingen, die in der ersten Jahreshälfte durch das Land gezogen sind. Mazedonien und Serbien kämpfen mit einer Arbeitslosigkeit von 40 beziehungsweise 30 Prozent und einer tiefgreifenden sozialen Misere. Ohne massive Hilfe der EU und des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR kann die Situation leicht außer Kontrolle geraten.
Die Tageszeitung Vecernje novosti sieht große Interessenunterschiede zwischen Serbien und der EU. Während Belgrad die Flüchtlinge, die ohnehin nicht im Land bleiben wollen, so schnell wie möglich wieder loswerden wolle, erwäge Brüssel, dort „riesige Flüchtlingscamps“ einzurichten.
Nächste Station: Ungarn
Aus Belgrad reisen die Flüchtlinge per Zug oder Bus weiter nach Subotica an der ungarischen Grenze. Auch hier gibt es hauptsächlich provisorische Aufnahmelager, geschlafen wird in Parks, Wäldern oder verlassenen Fabriken. Brutal brennt die Sonne, die Temperatur erreicht fast 40 Grad im Schatten. Am Abend sieht man einzelne kleinere oder größere Gruppen zu Fuß zur ungarischen Grenze gehen.
Manche haben über Strohmänner Kontakt mit ungarischen Schmugglerbanden aufgenommen. Wer kein Geld mehr hat, versucht sein Glück allein. Die meisten wollen nach Deutschland, das „gelobte Land“. Trotz verschärfter Grenzkontrollen gibt es immer noch Schlupflöcher.
Doch, was passiert wenn die „ungarische Mauer“ einmal steht? Zunächst wird es zu einem Flüchtlingsstau in Serbien kommen, meinen Experten. Doch dann werden Tunnel gegraben, der Zaun wird hier und dort durchlöchert. Die Flüchtlinge werden längere und teurere Routen nehmen, über Bosnien und Kroatien oder Bulgarien und Rumänien. Keine Mauer werde der Verzweiflung der Menschen standhalten können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja