Artenschutz für Wildtiere: Wo sind die Feldhamster hin?
Die Hamster auf dem Gelände der Göttinger Universität sind vom Aussterben bedroht. Nun wurden sie nach Berlin ins Fortpflanzungsexil gebracht.
Ehrenamtliche Artenschützer*innen versuchen nun in Berlin die letzte verbliebene Möglichkeit, um den Fortbestand zu sichern: die Erhaltungszucht. Danach sollen die Tiere wieder angesiedelt werden. Wo man das tut, ist noch zu verhandeln. Eigentlich müssten sie in ihr angestammtes Gebiet auf dem Nordcampus zurück. Doch dort ist es den Feldhamstern bisher nicht gut ergangen.
Als der in den 1970ern entstandene Nordcampus 1998 besser an den ÖPNV angebunden werden sollte, was neue Straßen für Busse notwendig machte, wiesen Institutsarbeiter und Göttinger Naturschutzverbände die Behörden auf die deutschlandweit größte Feldhamsterkolonie hin. Auf die Rote Liste der gefährdeten Tierarten war der Hamster in Niedersachsen 1993 gesetzt worden. Prinzipiell genießt der bedrohte Feldhamster somit den höchsten rechtlichen Schutz. Es ist streng verboten, in seinem Habitat zu bauen.
Beweismaterial wurde gesammelt
Was folgte, war ein Rechtsstreit zwischen Artenschützer*innen, der Universität und der Stadt, die von nichts gewusst haben wollte. Falsch!, stellte sich heraus. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, Beweismaterial wurde gesammelt. 1998 verzögerten die Göttinger Nager den millionenschweren Bau des neuen Biozentrums, während die Universität, um die Gemüter zu besänftigen, einen Forschungsauftrag zum Feldhamster veranlasste: „Naturschutzfachliche Grundlagen eines Managementkonzeptes zum langfristigem Erhalt des Feldhamsters im Nordbereich der Universität Göttingen“. Der Bericht scheint verschollen.
In früheren Jahren wurden noch um die 100 Baue nachgewiesen. Eine Zählung der Universität ergab 2021 nur noch 13 Baue. Es ist unklar, wie viele Exemplare es noch gibt. Die kleine Feldhamstergemeinschaft in Göttingen ist hochgradig gefährdet. „Die Zahl ist so gering, dass man jedes Jahr gebibbert hat. Nur ein Fuchs hätte einmal querlaufen müssen und der letzte Göttinger Feldhamster wäre Geschichte gewesen“, sagt Reiners, der wissenschaftlicher Leiter des deutschlandweiten Projektes „Feldhamsterland“ ist, das von der Deutschen Wildtierstiftung koordiniert und vom Bundesumweltministerium noch bis 2023 gefördert wird.
Populationsschwankungen durch natürliche Fressfeinde seien zwar normal, aber in so schwachem Zustand ist eine Art nicht mehr überlebensfähig, so Reiners. Das Schwächeln des Göttinger Vorkommens liegt auch an der Verarmung der genetischen Vielfalt der Tiere, die mittels Hamsterhaarprobe vom Senckenberg Institut festgestellt wurde.
Dieses sogenannte „bottle neck syndrom“ habe zur Folge, dass Erbkrankheiten auftreten und das Geschlechterverhältnis des Nachwuchses bei neuen Würfen unausgewogen ist, erklärt Nina Lipecki, die 2017 die AG Feldhamsterschutz gründete und stellvertretende Landrätin für die Grünen in Hildesheim ist. Vom Aussterben bedrohte Tierarten bekämen schnell genetische Probleme aufgrund der Inzuchtpaarung, die durch die Verinselung der einst zusammenhängenden Vorkommen bedingt ist.
Hilfe vom Artenspürhund
Von Göttingen aus leben die nächsten Hamster im Raum Hannover sowie in der Hildesheimer und Braunschweiger Börde. Das Straßennetz und die zunehmende Versiegelung von Böden erschweren Begegnungen zwischen den Feldhamstern, die ohnehin Einzelgänger sind. Um das Erbgut und somit die Überlebenschancen der Tiere zu verbessern, wurden im April drei Exemplare aus der Hildesheimer Börde und fünf weitere der Göttinger Verbliebenen eingefangen und nach Berlin transportiert. Dabei half ein speziell ausgebildeter Artenspürhund. Man strebt eine Nachzüchtung von 30 bis 50 Tieren an.
Der Europäische Gerichtshof hat das Recht des Wühlers auf seinen Lebensraum erst vergangenes Jahr nochmals gestärkt. Selbst ungenutzte Ruhe- und Fortpflanzungsstätten dürfen nicht bebaut werden, wenn die hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Tiere zurückkehren könnten. „Aber ein Feldhamster hat noch nie ein Bauvorhaben verhindert“, sagt Biologe Reiners. Es gibt Ausnahmegenehmigungen, die dann zumindest Kompensationsmaßnahmen erfordern. Das Argument: Das öffentliche Interesse überwiege. Naturschutzrechtliche Interessen müssen sich unterordnen.
Um trotzdem bauen zu können, verpflichtete sich die Universität noch vor der Jahrtausendwende in einem städtebaulichen Vertrag zu sogenannten CEF-Maßnahmen (continuous ecological functionality). Wenn sie an neuer Stelle Lebensraum schafft, darf sie ihn an anderer Stelle zerstören. Daher wurden Ausgleichsflächen geschaffen, die so bewirtschaftet werden, dass sie dem Feldhamster gerecht werden. „Zusätzlich wurden Wanderkorridore durch den Nordbereich der Universität eingerichtet, die dem Migrationsbedürfnis der Tiere Rechnung tragen sollen“, sagt Oberbürgermeisterin Petra Broistedt (SPD).
Weiterhin werden die Hamster mit kleinflächigen Zwischenbiotopen unterstützt, auf denen sie sich vorübergehend aufhalten können, um von da den Sprung in das nächste Revier zu schaffen. Die Wirksamkeit der Maßnahmen wird durch ein jährliches Monitoring von einem unabhängigen Gutachterbüro überwacht.
„Aber natürlich kann man schlecht mit den Hamstern reden und sagen, könnt ihr bitte da rübergehen, euer neuer Lebensraum ist da drüben, der ist viel besser“, sagt Feldhamsterschützer Reiners. Ob so eine Umsiedlung funktioniert, wisse kein Mensch. Die Sterbeziffer solcher Umsiedlungsaktionen werde gar nicht bilanziert. In der Praxis verliere man einen Großteil des Bestandes. Künftig möchte die Tierärztliche Hochschule Hannover ein „Gesundheits-Monitoring“ durchführen, sagt eine Sprecherin vom dortigen Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung.
Rechtlich gesehen trägt die Universität oder die Stadt Göttingen nicht die alleinige Verantwortung für den Erhalt einer Art. Die liegt nicht beim Eingreifer, sondern beim Land Niedersachsen. Dieses muss garantieren, dass die Gesundheit der Population erhalten bleibt.
Streng geschützt
Das Bundesnaturschutzgesetz, das den Artenschutz regelt, unterscheidet zwischen „besonders geschützt“ und „streng geschützt“. Letzteres ist der Hamster.
Doch das Einhalten der Richtlinie zum Erhalt wildlebender Tiere und ihrer Lebensräume, die 1992 von der EU verabschiedet wurde, scheitere durch Vollzugsdefizite im Naturschutz, sagt Tobias Reiners. „Das ist ein politisches Versagen und das der Behörden.“ Hätte man mehrere gesunde Populationen, könnte man den Verlust einer noch eher verschmerzen, argumentiert er.
Das Ministerium für Umwelt sagt, das Land Niedersachsen tue etwas für die Tiere, indem Landwirt*innen ein finanzieller Ausgleich angeboten werde, wenn sie feldhamsterfreundlich wirtschaften, also Schonstreifen am Rande der Felder anlegen. Dahinter steht ein Förderprogramm der EU. Ab 2023 beginnt eine neue Förderperiode von Maßnahmen, die auf die Stabilisierung der Hamsterpopulation abzielen.
Ein Erfolg der Göttinger Naturschutzverbände ist die Zusammenarbeit mit den Gärtner*innen der Universität. Sie kümmern sich vor Ort um den Feldhamsterschutz und gehen so mit gutem Beispiel in puncto Artenschutz voran.
Denn die Universität Göttingen ist weiterhin im Siedlungsgebiet der Feldhamster baulich aktiv. Als die Universität 2012 ein neues Chemikalienlager errichtete, wurde wegen nur einem Hamsterbau extra eine meterweite Nische im Bauzaun eingefügt. Das Gebäude wurde schließlich allerdings ohne hamsterschonenden Schlenker gebaut, berichten die Göttinger Artschützer*innen.
Erst 2019 wurde ein neues Studentenwohnheim errichtet. Weiterhin ist ein Praktikumsgebäude für die organische und anorganische Chemie geplant. Zeitnah soll ein runder Tisch einberufen werden, bei dem die Frage der Wiederansiedlung verhandelt wird. Die ist für nächstes Jahr geplant. Es muss nur noch ein Gebiet gefunden werden, das den Bedürfnissen des Feldhamsters entspricht. Vor allem tiefe Böden sind für die Tiere wichtig.
Immerhin vermeldete der Berliner Tierpark in der vergangenen Woche den ersten Hamsternachwuchs. Dem Vernehmen nach sind die Kleinen wohlauf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen