Armut in Deutschland: Spardruck trifft auch die Mitte
Die Inflation verschärft die soziale Lage, viele Leute müssen massiv sparen. Steigt die Armutsquote? Das Institut DIW hält das für nicht erwiesen.
Die Organisation will zeigen, was Armut konkret bedeutet und wie sie sich in der aktuellen Lage verschärft. Dazu hat sie neue Daten vorgelegt, die unter anderem aus einer Umfrage vom August 2022 stammen. Demnach „wollten knapp 35 Prozent“ der Geringverdiener „sogar beim Kauf von Lebensmitteln kürzer treten“. Kohlrausch hielt es deshalb für „sehr plausibel“, dass die „wirtschaftliche Polarisierung“ zwischen Leuten mit wenig Geld und Wohlhabenden weiter zunehme. „Der Spardruck reicht deutlich in die Mittelschicht hinein“, sagte die WSI-Direktorin.
Besonders für Privathaushalte, die arm sind oder durch Armut gefährdet, verschärfe sich die Situation momentan. Schon vor Beginn der aktuellen Krise konnten sich gut 14 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze keine neue Kleidung leisten, schreibt das Institut in seinem neuen Bericht zur Verteilung der Einkommen in Deutschland. Fünf Prozent der Armen konnten ihre Wohnungen nicht richtig heizen, und die Hälfte musste auf Urlaubsreisen verzichten.
Diese Prozentangaben beziehen auf den Anteil der Bundesbevölkerung, der weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Das sind ungefähr 1.300 Euro pro Monat für einen Singlehaushalt. Wer weniger hat, gilt als armutsgefährdet oder arm.
Empfohlener externer Inhalt
Prekäre Beschäftigung, Armut, Vertrauensverlust
Der Verteilungsbericht präsentiert weitere eindrucksvolle Zahlen. Während zehn Prozent der Gesamtbevölkerung mit befristeten Arbeitsverträgen arbeiten, sind es unter den Armen über 30 Prozent – ein Hinweis auf den Zusammenhang zwischen prekärer Beschäftigung und Armutsgefährdung. Während Arme durchschnittlich 45 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung haben, sind es unter der Gesamtbevölkerung 66 Quadratmeter.
Diese Situation habe auch Rückwirkungen auf das Vertrauen in die gesellschaftlichen Institutionen, sagte Kohlrausch. „Lediglich 68 Prozent der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, halten die Demokratie für die beste Staatsform, nur 59 Prozent finden, die Demokratie in Deutschland funktioniere gut“, heißt es im Bericht. „Armut und soziale Polarisierung können die Grundfeste unseres demokratischen Miteinanders ins Wanken bringen, vor allem dann, wenn sie sich verfestigen“, sagte die WSI-Direktorin.
Zur Abhilfe forderte sie eine Politik, die einen „höheren Mindestlohn“ anpeile. Die augenblickliche Untergrenze der Bezahlung von zwölf Euro brutto pro Stunde sei zwar ein Fortschritt – dieser reiche jedoch nicht aus. Auch der Regelsatz des Bürgergeldes müsse weiter angehoben werden. Ab kommenden Januar soll er bei 502 Euro für alleinstehende Arbeitslose liegen.
Unterschiedliche Interpretation der Entwicklung
Grundsätzlich beklagt die Hans-Böckler-Stiftung, dass die Armutsrisikoquote – wer weniger Geld zur Verfügung hat, ist armutsgefährdet oder arm – immer weiter ansteige. 2019 habe sie 16,8 Prozent der Bevölkerung erreicht.
Darüber, ob dieser Befund stimmt, läuft allerdings eine wissenschaftlich-politische Auseinandersetzung. Es gibt unterschiedliche Interpretationen der Entwicklung in den vergangenen Jahren. So hat Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) berechnet, dass die Quote 2020 bei 16,2 Prozent lag. Bis 2015 sei sie gestiegen, dann aber nicht mehr, jedenfalls nicht statistisch relevant. Das hänge unter anderem mit der Einführung des Mindestlohns zusammen, so Grabka: „Der Sozialstaat ist erfolgreich.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“