Armen-Ambulanz in der Corona-Krise: Mehr Andrang, weniger Personal
In der Ambulanz für Menschen ohne Krankenversicherung ist seit Corona mehr Andrang denn je. Es fehlt jedoch an Pflegefachkräften.
Die anderen gehen nach und nach in die Praxis im ersten Stock. Im Wartezimmer darf wegen Corona immer nur eine Person sitzen. Dort liegen auf einem Tisch Obst, abgepackter Saft und Müsliriegel für die Männer bereit und in einem Schrank gespendete Kleidung. Vor Corona hätten sie zudem Kaffee angeboten, sagt Olga Merker, und auch mal ein Schwätzchen gehalten mit den Patient*innen. „Da konnten wir auch was für die Seele der Menschen tun“, beschreibt die Mittvierzigerin diesen nicht unwichtigen Teil ihrer Arbeit. Seit der Pandemie ist alles anders: überall Abstand und Distanz, mehr Patient*innen, weniger Mitarbeiter*innen.
Seit 1992 gibt es die „Caritas-Ambulanz für Wohnungslose“, wie sie offiziell heißt. Eigentlich sei es eher eine Praxis „für Menschen ohne Krankenversicherung“, sagt Projektleiter Martin Weber. Nicht wenige, die herkommen, arbeiteten „schwarz“, ohne Versicherung, etwa Polen und Rumänen auf Baustellen – mit entsprechenden Verletzungen wie Schnittwunden vom Fliesenlegen. Andere kommen her, weil sie „papierlos“ sind, sprich: keine Aufenthaltserlaubnis haben und deshalb keine Krankenversicherung.
Seit Corona werden es mehr. In früheren Jahren habe man etwa 5.000 Behandlungen pro Jahr gehabt, sagt Weber, in diesem seien es jetzt schon 8.000. „Und unsere Hauptsaison im Winter fängt erst an.“ Der Grund für den erhöhten Zulauf: Viele andere medizinische Ambulanzen und Anlaufstellen für Wohnungslose beziehungsweise Menschen ohne Krankenversicherung haben ihr Angebot wegen Corona verringert oder sogar ganz eingestellt.
Offene Sprechstunde trotz Corona
„Im ersten Lockdown haben fast alle außer uns dichtgemacht“, sagt der Projektleiter. Und die größte medizinische Einrichtung dieser Art, die „Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung“, bietet pandemiebedingt nur noch Termine nach Vereinbarung. Zur Caritas dagegen kann man spontan kommen, jeden Wochentag von 10 bis 15 Uhr.
An diesem Morgen hört man kurz vor zehn beim Warten vor dem Eingang vor allem Polnisch. Etwas abseits steht ein junger Mann, der aussieht, als verstehe er diese Sprache nicht. Ein Flüchtling aus Sudan, wie er sich vorstellt, seit 2013 lebt er am Görlitzer Park. Seit einiger Zeit leide er unter chronischen Bauchschmerzen und Schlaflosigkeit und war schon öfter hier. Vor sieben Jahren habe er sein Asylheim und -verfahren in Stuttgart hinter sich gelassen. „Ich wollte in die Hauptstadt, mich der Flüchtlingsbewegung anschließen“, sagt er auf Englisch, seinen Namen will er nicht nennen.
In der Ambulanz muss niemand seinen Namen sagen. Etwa 90 Prozent der Patient*innen seien Ausländer, berichtet Martin Weber. Es kämen aber auch Deutsche, die es aufgrund von psychischen oder Drogenproblemen nicht zurück ins Gesundheitssystem schaffen.
Die Krankheiten entsprechen den Lebenslagen: Viele offene Wunden, meist an Beinen, die beim Leben auf der Straße schlecht heilen; viele Infekte, Lungenentzündungen, Hautkrankheiten aller Art, im Winter Erfrierungen. 30 bis 40 Patient*innen habe er pro Schicht, berichtet Holger Bandmann, der Arzt, der an diesem Tag Dienst hat. „Manche müssen wir auch ins Krankenhaus einweisen.“ Dann wird es oft kompliziert: Krankenhäuser nehmen ungern Patient*innen ohne Gesundheitskarte – wenn die Verletzung oder die Krankheit nicht lebensgefährlich ist, müssen sie das auch nicht. Mit manchen Krankenhäusern gebe es aber Kooperationen, erklärt Holger Bandmann.
Angst vor Corona erschwert Ehrenamt
Bandmann und seine Ärzte-Kolleg*innen arbeiten ehrenamtlich für das Projekt. „Vor Corona waren wir neun, seither sind sechs Kolleg*innen zeitweise nicht mehr gekommen“, erzählt er. Die meisten seien älter und hätten verständlicherweise Angst vor Ansteckung. „Inzwischen sind wir aber wieder mehr.“
Zu den Ärzt*innen kommen: eine ebenfalls ehrenamtliche Medizinstudentin sowie eine Pflegefachkraft, eine Verwaltungsangestellte und der Projektleiter. Die Stellen werden vom Land bezahlt. Alle weiteren Kosten – für Miete, Material und Medikamente, manchmal für Heimreisen von Patient*innen, die dies wünschen – müssen durch Spenden beschafft werden.
Eine weitere Stelle für eine Pflegefachkraft – die Mitarbeiterin ist in den Ruhestand gegangen – kann Weber seit einem halben Jahr nicht besetzen. Es habe nur wenig Bewerbungen gegeben, darunter keine passende. Für Menschen, die zuvor im Krankenhaus gearbeitet haben, sei der Job oft nichts: die speziellen Patient*innen, die meist kein Deutsch können – zum Glück sprechen die Mitarbeiter*innen viele Sprachen –, die vielen chronischen Erkrankungen, „die man nicht lehrbuchartig behandeln kann. Hier muss man improvisieren, hier ist es nicht so geordnet.“
Dazu kommt: „Schon vor Corona gab es einen Mangel an Pflegefachkräften. Seither“, so Webers Einschätzung, „gibt es noch mehr Zurückhaltung, den Job zu wechseln.“ Zumal große Krankenhäuser, etwa Vivantes, Boni zahlten. „Da können wir nicht mithalten.“ Immerhin: Die Caritas zahle wie Tarif, „sogar besser, wir haben mehr Feiertage“. Schließlich ist die Caritas ein katholischer Arbeitgeber.
Noch keinen Plan für die kalte Saison
Webers aktuelle Hoffnung: Seit Montag ist die Stellenausschreibung im U-Bahn-TV „Berliner Fenster“. „Alles andere“ – Krankenhäuser, Schwesternschulen, Online-Jobportale – habe er schon abgeklappert, sagt er. Wenn es jetzt wieder nichts wird mit der Pflegefachkraft, könnte es in der Ambulanz personaltechnisch bald eng werden. Und dann könnte es passieren, dass die Praxis auch mal einen Tag zubleiben muss. „Das kam schon vor“, sagt Weber, allerdings vor Corona. „Bislang konnten wir die fehlende Stelle ehrenamtlich ausgleichen.“
Aber wenn nicht mindestens vier Mitarbeiter*innen da sind, dürfe er schon aus Sicherheitsgründen gar nicht öffnen – falls es mal Ärger mit aggressiven, vielleicht betrunkenen Patient*innen gibt. Das kommt laut Weber allerdings selten vor. „Die meisten warten geduldig, auch wenn sie jetzt draußen stehen müssen.“
Doch was, wenn es bald richtig kalt wird im Hinterhof? Könnte man einen Pavillon aufstellen, mit Heizpilz als „Warteraum“? Das wolle der Vermieter nicht, sagt Weber und zuckt mit den Schultern. Man wird sehen, was der Coronawinter noch für Ideen bringt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin