piwik no script img

Immer wieder zurück geschickt

Die Bürgerschaft debattiert über die Verantwortung für den Mord an Morsal O. Die Opposition spricht von Verschleierung. Der Bruder des Opfers drohte schon 2006 mit der Tötung seiner Schwester

VON KAIJA KUTTER

In der aktuellen Stunde der Bürgerschaft stritten Opposition und Regierungsparteien am Donnerstag über den Mord an der 16-jährigen Morsal O. Während CDU und GAL dem Senat eine besonnene und angemessene Reaktion bescheinigten, fuhr vor allem die SPD einen aggressiven Angriff: Nach allem, was man wisse, sei Morsal von ihrer Familie „bedroht, geschlagen und misshandelt worden“, sagte die SPD-Abgeordnete Carola Veit: „Und es gab nicht mal eine Fallkonferenz. Man hat nicht mal gefragt, ob man den Eltern das Sorgerecht entzieht und stattdessen Morsal immer wieder zur ihrer Familie geschickt“.

Auch Christiane Schneider von der Linken kritisierte die Behörden. So müsse man sich angesichts der bekannt gewordenen Kette von Gewalttaten an dem Mädchen fragen, warum nicht die Staatsanwaltschaft von sich aus die Strafverfolgung aufgenommen habe.

Der für Jugendhilfe verantwortliche Senator Dietrich Wersich (CDU) weilte gestern auf einer Jugendministerkonferenz, weshalb Bildungssenatorin Christa Goetsch (GAL) für den Senat das Wort ergriff. Morsal sei zwischen staatlichen Hilfsangeboten und der Bindung an die Familie „zerrissen“ gewesen, so Goetsch. Es sei den sie betreuenden Menschen nicht gelungen „eine stabile Bindung aufzubauen“. Künftig werde man im Falle von Gewalt in patriarchalen Familien Kinder auch frühzeitiger von Familien trennen.

Der SPD-Rechtsexperte Andreas Dressel warf Schwarz-Grün vor, keine Schwachstellenanalyse zu betreiben und stattdessen „heiße Luft“ zu verbreiten. Besonders ärgere ihn, dass drei kleine Anfragen seiner Fraktion zum Thema vom Senat zurückgehalten würden. Die Welt hatte gestern die Entwurfsfassung einer der Antworten veröffentlicht, die der Senat aus Datenschutzgründen zurückhielt. „In der Opposition“, sagte Dressel zu Goetsch, hätte ich von ihnen eine andere Rede gehört.“

Die CDU-Politikerin Bettina Machaczek erwiderte die SPD-Attacken so: „Warum haben Sie keine bessere Idee, als auf uns einzuschlagen und so zu tun, als hätte dies unter ihrer Regierung nicht passieren können.“ Ihre Fraktionskollegin Vivian Spethmann warf der SPD gar vor: „Sie profilieren sich zu Lasten des Opfers.“ Daran, dass in den 90ern zu SPD-Zeiten „Gräueltaten“ vor Frauenhäusern stattfanden, erinnerte aber auch Nebahat Güçlü (GAL).

Doch die SPD beharrte auf ihrer Linie. Bereits zuvor hatte ihr Jugendpolitiker Thomas Böwer gegenüber der taz den Vorwurf erhoben, der Senat verschleiere in dem Fall: So hatte CDU-Senator Dietrich Wersich am Dienstag erklärt, mit Rücksicht auf den „Sozialdatenschutz“ könnten weder die Presse noch das Parlament eine Chronologie mit Einzelheiten erhalten. Genau diese Einzelheiten allerdings möchte die Opposition erfahren, um Schwachstellen der Behörden aufzuklären. „Es ist weder Morsal noch anderen Opfern gedient, wenn der Senat sich hier hinter dem Sozialdatenschutz verschanzt“, sagte Böwer.

In einer schriftlichen Anfrage hatten Böwer und die Abgeordnete Carola Veit detailliert wissen wollen, seit wann und wie oft Morsal beim Kinder- und Jugendnotdienst war – und wer entschied, dass Morsal O. in der Mordnacht einfach gehen konnte. Für Böwer war dies der kapitale Fehler. Der Notdienst hätte das Mädchen „festhalten“, mit einer nur für sie zuständigen Betreuerin „aus der Stadt“ fahren müssen, findet er. Senator Wersich hatte am Dienstag erklärt, für ein solches Vorgehen hätten die juristischen Voraussetzungen gefehlt: „Wir hätten eine solche Unterbringung vor Gericht nicht durchsetzen können.“

Dem schwarz-grünen-Senat wirft Böwer vor, dass er im geschlossenen Heim Feuerbergstraße sehr wohl Jungen einsperre, die gleichen Grundlagen nicht nutze, um Mädchen zu schützen. „Es wurde ja nicht einmal versucht, den Fall vors Familiengericht zu bringen“, sagt er. Die Prügel, die das Mädchen seit ihrem 14. Lebensjahr bezogen habe, hätten Anlass für einen Sorgerechtsentzug sein müssen.

Teile der zuvor verwehrten Chronologie standen gestern übrigens im erwähnten Welt-Artikel. Demnach begann die Eskalation in Familie O. bereits vor zwei Jahren: Am 1. November 2006 soll der nun zum Täter gewordene Bruder damit gedroht haben, er werde Morsal töten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen