Ende der telefonischen Krankschreibung: Von wegen blaumachen
Finanzminister Lindner plädiert für ein Aus der telefonischen Krankschreibung. Doch diese ist nicht das Problem. Der Kapitalismus ist es.
E s ist alles nicht so einfach, wie Christian Lindner glaubt. Ja, in den vergangenen Jahren war die Zahl der durchschnittlichen Fehltage deutscher Beschäftigter so hoch wie noch nie. Ja, es ist einfacher, sich telefonisch krankzumelden, als zur Ärzt*in zu gehen. Das heißt aber noch lange nicht, dass seit der Einführung der telefonischen Krankschreibung Menschen im großen Stil blaumachen.
Laut Robert Koch-Institut gab es 2023 mehrere Phasen mit besonders vielen Atemwegserkrankungen. Und da Krankmeldungen mittlerweile elektronisch von den Praxen übermittelt werden, kommen bei den Krankenkassen auch die an, die sonst nie den Weg zu ihnen gefunden hätten. Finanzminister Lindner möchte die Maßnahme trotzdem überprüfen, die Korrelation ist ihm wohl Grund genug. Damit ist er auf Linie mit der Bundesvereinigung der Arbeitgeber. Die wollen am liebsten direkt zurück zum bewährten Verfahren. Lieber die Arztpraxen zu Krankheitskontrolletis machen, als das Gesundheitssystem ein bisschen entlasten.
Doch selbst wenn die Bundesregierung aus Versehen ein Werkzeug geschaffen hat, mit dem sich Beschäftigte für maximal fünf Tage (länger geht’s eh nicht) der Monetarisierung ihrer Arbeitskraft entziehen können – wäre das wirklich so schlimm? Es gibt Situationen, in denen Leute gar keine andere Wahl haben, als sich krankzumelden. Zum Beispiel, wenn das Kind schon wieder was aus der Kita anschleppt, aber die Kinderkrankentage aufgebraucht sind und man noch dazu alleinerziehend ist. Oder wenn die pensionierte Mutter gestürzt ist und kurzfristig gepflegt werden muss, aber der Arbeitgeber die beantragte Pflegezeit aus „dringenden betrieblichen Gründen“ ablehnt. Oder wenn Menschen am Arbeitsplatz gemobbt werden und einfach nicht mehr können.
Abgesehen von diesen erforderlichen Notlügen nehmen sicherlich mehr Leute mit Hustenanfall aus dem Bett am Meeting teil, als zu schwänzen um am See zu liegen. Mehr als ein Viertel der Beschäftigten geht häufig oder sehr häufig trotz Krankheit zur Arbeit, 30 Prozent helfen im Homeoffice mit Medikamenten nach, um weiter zu funktionieren. Das ergibt eine Studie der Techniker Krankenkasse.
Dass Deutschland sich in einer Wirtschaftskrise befindet, liegt also ganz bestimmt nicht an den faulen Arbeitnehmer*innen, die Lindner nun per Wachstumsinitiative zur Disziplin rufen müsste. Im Gegenteil. Wir leben in einem System, das Burn-out und Depressionen fördert, weil immer mehr geleistet werden muss – oder wir das von uns denken, schließlich hat sich das Streben nach Selbstoptimierung längst in uns eingeschrieben.
Es braucht oft nicht mal einen stressigen Chef, damit wir unsere Arbeitskraft immer effizienter ausbeuten. In einer Umfrage der Kaufmännischen Krankenkasse gab mehr als die Hälfte der Befragten an, sich bei der Arbeit häufig unter Druck zu fühlen. Zwei Drittel sagen, dass es unter anderem ihre Erwartungen an sich selbst sind, die sie so sehr stressen. Man könnte auch einfach sagen: Kapitalismus macht krank.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Und nach Feierabend geht’s direkt weiter. Auch die Freizeit will schließlich maximierend verwertet sein. „Wir selbst sind der Kapitalismus“, schreibt der Autor Timo Daum. Also optimieren wir unsere Gefühle, unseren Körper und die Erziehung unserer Kinder. Wenn sich angesichts dessen Menschen mit der Krankschreibung via Telefon ein paar Tage Pause verschaffen von Verwertungslogik und Funktionieren-Müssen, ist das wirklich keine besonders große Revolte gegen den Optimierungswahn. Aber ein guter Anfang.
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