Deutschlands Türkeipolitik: Vorsichtige Annäherung am Bosporus
Scholz und Erdoğan leiten mit ihrem Treffen eine Wende in der deutsch-türkischen Politik ein: von Distanz zu engerer Kooperation.
Schon in seinem Eingangsstatement stellte Erdoğan zufrieden beim Thema Waffenverkäufe fest, dass sich die Beziehungen beim Rüstungsexport normalisiert hätten. Bereits zwei Wochen vor dem Besuch von Scholz in Istanbul berichtete der Spiegel, dass der Bundessicherheitsrat Waffenexporte an die Türkei im dreistelligen Millionenbereich genehmigt habe. Die Bundesregierung dementierte diesen Bericht nicht.
Beziehung beim Rüstungsexport normalisiert
Auf Nachfragen sagte Scholz dazu: „Die Türkei ist Mitglied der Nato. Es ist ganz normal, dass wir an unseren Nato-Bündnispartner Waffen liefern.“ Tatsächlich geht es nicht nur um ein paar Ersatzteile für Kriegsschiffe oder U-Boote wie in den letzten Jahren, sondern auch um ein Juwel der europäischen Rüstungsindustrie: den Eurofighter. Das Kampfflugzeug wird von Großbritannien, Italien, Spanien und Deutschland gebaut und kann auch nur mit Zustimmung aller vier Länder exportiert werden. Frühere Anfragen der Türkei scheiterten schon im Vorfeld, weil Deutschland klargemacht hatte, dass es auf keinen Fall zustimmen werde. Das ist jetzt anders. Den Verkauf von insgesamt 40 Eurofightern an die Türkei verhandelt zwar Großbritannien, doch Scholz machte klar, dass Deutschland dem nicht mehr im Weg stehen würde. „Wir warten die Verhandlungen mit Interesse ab“, sagte er.
Auch sonst waren sowohl von Scholz wie von Erdoğan bislang ungewohnte Töne zu hören. „Unsere bilateralen Beziehungen sind sehr gut“, stellten beide fest, was auch durch die bekannten Meinungsverschiedenheiten über Israel und den Krieg im Nahen Osten offenbar nicht beeinträchtigt wurde. Obwohl Erdoğan mehrfach den israelischen „Völkermord“ im Gazastreifen beklagte, begnügte Scholz sich damit, festzuhalten, das Deutschland da bekanntermaßen eine andere Position habe und man sich trotzdem gemeinsam darauf konzentrieren wolle, für einen Waffenstillstand und längerfristig eine Zweistaatenlösung zu werben. Erdoğan wiederum wollte deutsche Waffenlieferungen an Israel nicht kommentieren und redete stattdessen lieber darüber, welche furchtbare Zerstörung die von den USA an Israel gelieferten modernen F-35 Kampfbomber im Gazastreifen und im Libanon anrichten würden.
Wie man aus Kreisen der Kanzlerdelegation hören konnte, hofft Scholz sehr darauf, dass Erdoğan bei der Vorbereitung echter Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine eine wichtige Rolle spielen könnte. Bei aller Beteuerung über die ungebrochene Unterstützung der Ukraine durch Deutschland hat Scholz doch in den letzten Wochen auch mehrfach anklingen lassen, dass es Zeit würde, sich auch um Verhandlungen ernsthaft zu bemühen. Das Thema dürfte auch bei seinem Gespräch mit US-Präsident Joe Biden in Berlin unmittelbar vor seinem Abflug nach Istanbul eine Rolle gespielt haben. Es scheint so, dass Deutsche und Amerikaner sich einig sind, dass man Erdoğan da in Zukunft noch brauchen wird.
Der Schwenk in der deutschen Türkeipolitik ist enorm
Obwohl die Frage der Abwehr und Abweisung von Flüchtlingen einer der Hauptgründe gewesen sein dürfte, warum Scholz gerade jetzt unbedingt für ein paar Stunden nach Istanbul kommen wollte, hielten sich doch beide Seiten darüber sehr bedeckt. Scholz sagte, dass Deutschland und die EU insgesamt die Türkei bei der Unterbringung von bald 4 Millionen syrischen Flüchtlingen weiterhin finanziell unterstützen würden, von einem neuen oder auch nur erneuerten EU-Türkei Flüchtlingsdeal war aber nicht die Rede. Lediglich als Scholz gefragt wurde, ob er sich bei der Abschiebung syrischer Flüchtlinge die in Deutschland kriminell geworden sind, Hilfe von der Türkei erwartet, ließ er durchschimmern, dass Abschiebungen nach Syrien ohne die Nachbarländer kaum vorstellbar sind. Auch, wenn beide Seiten bei diesem Thema vage blieben kann sich das bald ändern, sie wollen nämlich wieder regelmäßige Regierungskonsultationen gemeinsam mit diversen Ministern aufnehmen. Die Flüchtlingspolitik wird sicher eine wichtige Rolle spielen.
Der Schwenk in der deutschen Türkeipolitik ist zwar enorm, ganz überraschend kommt er aber nicht. Scholz hatte sich vor seiner Istanbul-Reise in diesem Jahr schon zweimal mit Erdoğan am Rande internationaler Veranstaltungen, zuletzt bei der UNO in New York getroffen. Außerdem war ja schon Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im April dieses Jahres zu seinem „Döner-Gipfel“ in der Türkei. Erdoğan ist so beeindruckt davon, dass er nun Steinmeier seinen Freund nennt. Kurz vor Scholz besuchte dann noch der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil das Land.
Während Scholz sein Verhältnis zu Erdoğan verbesserte, traf sich Klingbeil mit der Oppositionspartei CHP. Die CHP ist nicht nur die sozialdemokratische „Schwesterpartei“ der SPD, sondern könnte auch nach den nächsten Wahlen den Präsidenten und/oder den Ministerpräsidenten stellen. Die beiden Parteien wollen zukünftig enger zusammenarbeiten. Zumindestens dort soll weiterhin über die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und insgesamt über die Stärkung einer „regelbasierten Weltordnung“ geredet werden. Die SPD- Spitze hofft jedenfalls, dass die CHP, sollte sie an die Macht kommen, wieder für eine unabhängige Justiz sorgen wird. Und die jetzigen politischen Gefangenen wie den früheren Vorsitzenden der kurdischen Partei Selahattin Demirtaş und den Menschenrechtler Osman Kavala auf freien Fuß setzen wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Schließung der iranischen Konsulate
Die Bundesregierung fängt endlich an zu verstehen
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los
Unwetterkatastrophe in Spanien
Vorbote auf Schlimmeres
Jaywalking in New York nun legal
Grün heißt gehen, rot auch
Steinmeiers Griechenland-Reise
Deutscher Starrsinn
Extremwetter und Klimakrise
Köln wird so wie heute San Marino