Pessimistische Sätze: Radikal einen Mittelweg suchen
Radikal daherreden kann jeder, zynisch sein kann Söder, heulen und davonrennen die FDP. Das reicht aber nicht.
Wie konnte es dazu kommen, dass das „Wir schaffen das“-Prinzip für viele Leute offenbar zu einer unerträglichen Zumutung geworden ist? Darüber sprach ich in dieser Woche mit Jagoda Marinić, Schriftstellerin und Public Intellectual. Im Gespräch sagte sie sinngemäß, es sei auffällig, dass bei vielen Deutschen die Sätze grundsätzlich nach unten gehen, also im Negativen enden. Das trifft selbstverständlich speziell auf unsereins zu, die kritischen Milieus. Unsere beliebtesten Sätze werden mit einer Drohung eingeleitet und enden in einer Apokalypse. Wenn nicht sofort dies und das aufhört oder gemacht wird, dann… ist die Menschlichkeit am Ende, haben die Nazis gesiegt, ist die Klimakatastrophe nicht mehr aufzuhalten.
Da müssen wir raus. Das zentrale Versprechen der Moderne ist, dass wir etwas schaffen können. Um das einzulösen, müssen wir erstmal anfangen, unsere Sätze zu einem guten Ende zu bringen, sonst können wir auch in der Realität nichts Gutes anpeilen und schaffen.
Jetzt wird man verständlicherweise einwenden: Hä, wo alles immer schlimmer wird mit Erderhitzung, Fossilismus, Kriegen, Terror, Trump, AfD, BSW und so weiter?
Gerade deshalb. Der Dagegen-Impuls ist notwendig zum Aufrütteln, aber er reicht nicht. Es wird da regressiv, wo er nur dazu dient, durch einen klassischen Antagonismus oder eine anachronistische Denkfigur eine Welt von gestern zu suggerieren, in der man sich auskennt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Was meine ich damit? Zum Beispiel sollen die Grünen gerade in eine nicht mehr existierende Bundesrepublik zurückgeschubst werden. Deshalb wird jetzt auch mit den alten Begrifflichkeiten hantiert, „Realo-Putsch“, „linker Flügel“, „Mitte“ als Schimpfwort. Es wird getan, als sei es moralische Verwerfung, Hybris oder einfach Irrsinn, den gemäßigt progressiven Teil der liberaldemokratischen Gesellschaft zu repräsentieren und seine Anschlussfähigkeit an den gemäßigt konservativen Teil herstellen zu wollen zum Zwecke einer Mehrheits-Allianz für Zukunftspolitik.
Die Partei ist erwachsener geworden
Letztlich steht dahinter die große Sehnsucht, zurück in den gemütlichen fossil-emanzipatorischen Sozialdemokratismus zu können, in dem alles klar schien und jeder seine Rolle hatte. Die Konservativen von Union und SPD hielten den Laden mit den politischen Mitteln und fossilen Energien des 20. Jahrhunderts am Laufen, die „Progressiven“ hatten die Kritik- und Sprechrolle: Zu wenig Gerechtigkeit, zu wenig Emanzipation.
Stimmt ja auch. Nur dass die veränderte physikalische Realität durch die Erderhitzung einen fundamentalen Change bedeutet, der nicht in das alte Lagerdenken einzupreisen ist und auch nicht auf eine Nazistory zu reduzieren. Eine gute neue Geschichte, die gerade erst entsteht, ist schwer zu erzählen, das merken auch wir Medien im Moment. Viele mediengesellschaftliche Erörterungen, Moralanfälle, Personalisierungs-, Macht- und Heimatfilm-Inszenierungen gehen nicht nur an der Realität der Geschehnisse bei den Grünen vorbei, sondern vor allem an den zentralen Fragen.
Ich hoffe, ich ersticke nicht mal an dem Satz, aber: In den letzten Jahren konnte man nicht mehr ignorieren, dass die Partei erwachsener wurde und bereit, sich unangenehmer staatspolitischer Verantwortung zu stellen (Ukraine, Bundeswehr). Radikal daherreden kann jeder, zynisch sein kann Söder, heulen und davonrennen kann die FDP, aber radikal einen Mittelweg suchen und beschreiben, der die zweifelnden, nörgelnden, nostalgischen und die aufbruchbereiten Teile einer Gesellschaft in die gemeinsame Richtung einer ordentlichen Zukunft bewegt, das ist doch mal ein interessanter und lösungsorientierter Politikansatz.
Manche nennen das ja neuerdings „Habeckismus“.
Leser*innenkommentare
tomás zerolo
Was ich Habeck (und noch viel mehr Özdemir) krumm nehme ist, dass sie in das allgemeine Gejaule über Migration einstimmen und das Nicht-Problem [1] zum Problem reden.
Ansonsten... ah, ja. Die Mitte. Nur die Egozentriker*innen wähnen sich ständig in der Mitte.
[1] www.theguardian.co...008-research-shows
starsheep
„Habeckismus“. Ist das anstgeckend?
Meister Petz
„Nur dass die veränderte physikalische Realität durch die Erderhitzung einen fundamentalen Change bedeutet, der nicht in das alte Lagerdenken einzupreisen ist“ - frei nach Willem Zwo: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Batterien!“
Perkele
Nun will ich nicht gleich hier ein ABER einbringen - doch es erscheint mir nötig. Nach rechts, oder wie man beschönigend gerne sagt: in die Mitte streben viele, wenn nicht gar alle - zumindest bei Selbstdarstellung. Doch wo ist die linke, sozialkritische Variante? Weg? Nicht mehr nötig? Oder was??
Lowandorder
Danke “ …das merken auch wir Medien im Moment…“ - 🥳🙀😂 -
You made my day - da kann ich amüsiert kopfschüttelnd Musikmachen gehn!
&
Bis zum nächsten Mal. Shure.
“Wir“ - Peter Unfried - kennen keine Parteien mehr!
Na Mahlzeit - SM “Es ist vollbracht!“
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& für Peterchens 🌑fahrt
ditte => images.app.goo.gl/YsqLJTBDiMZqDTwi6
always at your servíce - Gellwelle
Tom Farmer
Ich würde das mal anders ausrichten, das Fehlende:
Neu und längst überfällig wäre: Mal konkret werden.
Vor lauter Müsste Könnte Sollte... wird alles inhaltlich verwässert bis es so verdünnt ist, dass niemand mehr weiß wer eigentlich was will.
Früher war das eher so (also bei uns im Betrieb): Einer sagt was schlaues, einer was dummes. Danach wird analysiert was nun denn daraus folgt und was welchen Vor- oder Nachteil hat. Dann wird entschieden, Nachteile dabei möglichst umschifft
Heute sagt man 'sowohl als auch', und am besten sollte man erstmal zuwarten und untereinander abstimmen. Das Abstimmen passiert nur nie, weil ja niemand in der Lage ist mal seine eigene Position in verständlichen Worten zu bestimmen, gar zu artikulieren für andere. Wachsweich gehts dann weiter im Diskurs, möglichst niemandem wehtun, schon gar nicht persönlich daran beteiligt sein. Usw. Usw. Und so eiert man dann von harmloser Sprechblase zu wohlmeinendem Verständnis für alles und nix.
2024 halt.
Bambus05
So weit die positive Ausdeutung des Habeckismus...natürlich kann man das typisch deutsch auch als freiwillige Selbstzersäbelung der eigenen Grundsätze deuten, die so lange stattfindet, bis einen auch der Söder-Markus toll findet und Schwarz-Grün doch nach der nächsten Bundestagswahl geht.
Das Problem: Grüne ohne öko, ohne links sind einfach eine CDU ohne Krawatte und mit einem Drei-Tage-Bart wie der Robert oder Kretschmann in BaWü. Wirkt alles netter, von der Politik her der Abschluss der Einheitsbreiisierung.
Die Grünen probieren was, so fair muss man sein, trotzdem machen sie sich in ihrem Bemühen, die letzten roten Linien abzuräumen überflüssig.