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Jugendkultur-Konferenz TinconZu schöne neue Welten

Das Smartphone kann einem jungen Menschen die Jugend versauen. Was tun? Ein Besuch bei der Hamburger Ausgabe der Jugendkultur-Konferenz Tincon.

Offenes Gespräch über ein geteiltes Leiden: Matilda (links) und Sammy bei der Konferenz Tincon in Hamburg Foto: Gregor Fischer / Tincon

F omo lautet das Thema, ausgeschrieben „Fear of missing out“. Manche kennen das Phänomen von der Börse, hier geht es vor allem um alte weiße Männer und ihre Angst, starke Kursentwicklungen zu verpassen. Bei Matilda, 26, und Sammy, 34, ist das anders. Sie sitzen auf einer Bühne in einem Zelt auf dem Hamburger Heiligengeistfeld. Die beiden sind Contentcreatorinnen, machen Podcasts und/oder Videos und veröffentlichen sie auf Social-Media-Plattformen wie Instagram oder Tiktok.

Beide leiden unter Fomo und reden offen darüber. Es ist die Hamburger Ausgabe der Konferenz Tincon, die im Rahmen des Reeperbahn Festivals stattfindet, das Gelände nutzt, aber inhaltlich unabhängig agiert. Neben der Bühne stehen Bildschirme, es wird viel gefilmt und im Real Life scheint die Sonne. Sammy nutzt einen Fächer gegen die Hitze.

Bei ihr und Matilda bedeutet Fomo, dass sie ständig Social-Media-Posts ­durchkämmen und mit den Fotos und Videos von Leuten konfrontiert werden, die gerade auf einem Festival feiern, den Sonnenuntergang in Barcelona erleben oder auf einer coolen Party abhängen. Das Leben der anderen scheint so viel aufregender zu sein als das eigene. Alle anderen haben das, was man vermisst. Ständig. Auf die Dauer wird das zum Problem.

Sammy, bekannt für ihren Pod­cast ­sammagehtsnochjunge, redet über Fomo wie über eine Krankheit, von der sie gerne geheilt wäre. Aber das ist schwer. Denn ihre Fomo kommt aus dem Smartphone, und Sammy sagt: „Ich liebe mein Smartphone. Und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte unter zehn Stunden Bildschirmzeit am Tag.“

In der Livesituation vor einem unruhigen Publikum verschwimmt alles ineinander

Matilda sagt, sie sei froh, dass ihre Jugend vorbei sei. Als sie jung gewesen sei, „war Ins­ta­gram noch nicht so übersättigt von Fotos. Jetzt jung zu sein ist nicht so einfach mit Social Media.“ Was tun? Matildas Idee: „Man muss lernen, wie man seinen Algorithmus füttert.“

Der Algorithmus ist das Ins­trument, mit dem Social-Media-Plattformen ihre Use­r*in­nen am Handy halten. Der Algorithmus schlägt Inhalte vor, über die er durch das Nutzungsverhalten in der Vergangenheit weiß, dass sie die Use­r*in­nen interessieren. Diesen Algorithmus will Matilda also gezielt in eine Richtung lenken, die keine Fomo mehr verursacht. „Genau“, stimmt Sammy zu. „Etwas machen, dass man den Content bekommt, der einem guttut.“

Viel Glück!, denkt man sich und fragt sich, ob die Menschen, an die sich die Konferenz richtet, eine Chance haben, das hinzukriegen. Tincon ist eine Konferenz für Schü­le­r*in­nen, die an zwei Vormittagen Vorträge und Workshops besuchen, statt in die Schule zu gehen. 15, 16 Jahre dürften die meisten von ihnen sein. Sie sehen nicht so aus, als wollten sie viel über Algorithmen nachdenken.

Fomo ist einer der Programmpunkte, andere heißen „Das erste Mal allein beim Arzt“ oder „Wie wird man Profifußballerin?“. Die Workshops beschäftigen sich mit Doomscrolling, Fake News oder DJing.

Hinter Tincon steht eine gemeinnützige GmbH, die unter anderem gefördert wird vom Bundesministerium für Jugend. Dass auf dem Konferenzgelände Tiktok einen eigenen Werbestand hat, erschwert die Einschätzung, ob die Veranstalter wissen, was sie tun.

Tiktok verschenkt Popcorn an die Kids, weshalb sich eine Schlange vor der Popcornbude gebildet hat. Nebenan spricht die Wissenschaftsjournalistin Sabrina Patsch in bemerkenswerter Geschwindigkeit darüber, ob es Zeitreisen und Teleportation, Ideen aus Science-­Fiction-Filmen also, wirklich geben kann. In noch größerer Sprechgeschwindigkeit versucht Marie Lina Smyrek ihr ­­Tiktok-Format „sympathisch“ als Liveshow zu inszenieren. Ihre Tiktok-Beiträge leben von Sarkasmus und Ironie. In der Livesituation vor einem unruhigen Publikum verschwimmt alles ineinander, und man fragt sich: Hat sie den Spruch über die Nato ernst gemeint? Oder was?

Und dann sagt sie: „Lasst euch nicht erzählen, dass es schlecht wäre, 18 Stunden am Tag am Handy zu hängen.“ Denn bei ihr habe das zu einer ­Karriere als Contentcreatorin geführt, mittlerweile in Diensten des öffentlich-rechlichen Rundfunks. Die Kids nicken. Und holen neues Popcorn.

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Klaus Irler
Hamburg-Redakteur
Jahrgang 1973, fing als Kultur-Redakteur der taz in Bremen an und war dann Redakteur für Kultur und Gesellschaft bei der taz nord. Als Fellow im Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School beschäftigte er sich mit der digitalen Transformation des Journalismus und ist derzeit Online-CvD in der Norddeutschland-Redaktion der taz.
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