Doomscrolling in Krisenzeiten: Tyrannei der Aktualität

In Krisenzeiten klagen Menschen über die Nachrichtenflut. Ist das weinerlich oder ist der Medienkonsum tatsächlich problematisch?

Eine Frau liegt im Bett und starrt auf ihr Handy

Doomscrolling verschafft einigen manch schlaflose Nacht Foto: Andrey Popov/Panthermedia/imago

In den sozialen Medien kursiert schon seit Längerem der Ausdruck „Doomscrolling“. Das Wort doom bedeutet auf Deutsch so viel wie Verderben oder Untergang. Wer Doomscrolling betreibt, rollt also die niemals endenden Feeds der sozialen Medien auf der Suche nach schrecklichen Dingen ab. Und da die Aufmerksamkeitslogik von Twitter nicht anders funktioniert als die der etablierten Medien, kann man sich darauf verlassen, dass man auf der Suche nach Nachrichten, die vom Verderben erzählen, reichlich fündig wird.

Gerade in Momenten, in denen ein krisenhaftes Ereignis die internationale Berichterstattung komplett beherrscht wie etwa der russische Einmarsch in die Ukraine, wird im Internet besonders stark über die eigene Unfähigkeit geklagt, auch einmal wegzuschauen. Doomscrolling erscheint dann vor allem als Symptom einer krankhaften Form von Medienkonsum, das es den Befallenen unmöglich macht, sich von den sich abspulenden Schreckensnachrichten los­eisen zu können.

Dieses Phänomen kennen natürlich auch Menschen, die sich nicht den ganzen Tag im Internet aufhalten. Die Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel schreibt in ihrem Buch „Wie wir die Welt sehen – Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien“, dass wir in Momenten der Angst dazu tendieren, immer mehr beängstigende Informationen zu sammeln. Sie nennt das die „Angst-Nachrichten-noch-mehr-Angst-noch-mehr-Nachrichten-noch-viel-mehr-Angst-Spirale“.

Diese Spirale lässt sich durch gedruckte Zeitungen genauso in Gang halten wie durch das Fernsehen. Die Autorin hat aus Krisen- und Kriegsgebieten berichtet. Sie war Politik­redakteurin der Zeit und als Reporterin in Kabul. Und doch habe sie irgendwann selbst aufgehört, Nachrichten zu lesen. Und in diesem Moment sei die Welt um sie herum besser geworden.

Aspekte, die Hoffnung machen

Das Buch versteht sich als Plädoyer für eine Berichterstattung, die nicht allein im Negativen aufgeht. Sie fordert, dass Medien dafür sorgen sollten, ihre Re­zi­pi­en­t*in­nen nicht in die Verzweiflung zu treiben. Die Formel, die sie dafür findet, ist „Scheiße plus X“, also eine Erzählung, die zwar die Augen nicht vor dem Schrecklichen verschließt, allerdings bewusst nach den Aspekten sucht, die Hoffnung machen.

Einem Appell wie dem von Wurmb-Seibel möchte man unmittelbar zustimmen, zumal sie vor allem Vorschläge macht, wie man bessere Geschichten erzählen kann. Gleichzeitig regt sich in Bezug auf die allgemeine Klage über die Flut schlechter Nachrichten auch ein gewisses Unbehagen. Denn diese Klage läuft Gefahr, in einen medialen Wellnessdiskurs auszuarten, der die Frage nach dem angemessenen Medienkonsum zu einer individuellen Entscheidung der eigenen Lebensführung macht. Ist es nicht Ausdruck eines Privilegs, sich den News entziehen zu können, die andere am eigenen Leib erfahren müssen?

Zum Medienwandel der Digitalisierung gehört auch eine kulturelle Angst vor einem neuen Aktualitätsregime – eine Angst, die darauf beruht, dass wir angeblich in einer Zeit der absoluten medialen Beschleunigung und Unübersichtlichkeit leben. Diese Gegenwartsdiagnose lasse sich auch und gerade auf die Massenmedien übertragen, die sich durch die Digitalisierung endgültig einer Tyrannei der Aktualität verschrieben hätten.

Gefühl der Überforderung

Lothar Müller merkt in seinem Essay „Deadline – Zur Geschichte der Aktualität“ an, Aktualität habe „die letzte Beschleunigungsstufe erreicht“. Menschen konsumieren Nachrichten nicht mehr im Rhythmus der Erscheinungsdaten von Medien, etwa einer Tageszeitung, sondern immer und überall. Es gibt keinen Moment mehr, in dem Gegenwart nicht irgendwo erfahren werden kann.

Das Gefühl der Überforderung lässt sich als kulturelle Malaise vermarkten. Bücher wie Rolf Dobellis „Die Kunst des digitalen Lebens – Wie Sie auf News verzichten und die Informationsflut meistern“ sind Ausdruck eines Wellnessdiskurses, der als Reaktion auf die ­Always-on-Probleme der Digitalisierung entstanden ist. In einem Werbetext zum Buch heißt es: „Wir sind immer bestens informiert und wissen doch so wenig. Warum? Weil wir ständig ‚News‘ konsumieren – kleine Häppchen trivialer Geschichten, schreiende Bilder, aufsehenerregende ‚Fakten‘.“ Der Autor lebe seit vielen Jahren gänzlich ohne News, und man solle es ihm nachtun, sich ausklinken, um ein stressfreies digitales Leben genießen zu können.

Aktualität erscheint hier also nicht als journalistische Tugend, sondern als Laster; „Medienfasten“, das Innehalten und Warten dagegen als Mittel gegen die gehetzte Echtzeitberichterstattung. Es geht aus dieser Perspektive darum, mehr, nicht weniger zeitliche Distanz zwischen dem*­der Re­zi­pien­t*in und dem Ereignis zu schaffen.

Ein Zuviel an Nachrichten

Die Kritik an der medialen Beschleunigung ist nicht neu und keine Erfindung des Internetzeitalters. Lothar Müller weist darauf hin, dass die Klage, über ein Viel-zu-schnell und Viel-zu-viel, über die Tyrannei der Aktualität, seit Beginn der Zeitungsgeschichte im 17. Jahrhundert eine Rolle spielte: „Man verschlang nun nicht nur im Rhythmus der ‚Messekataloge‘ die neuen Bücher, sondern im schnelleren Rhythmus der periodischen Presse die Neuigkeiten.“ Di­e*Der Zei­tungs­le­se­r*in erscheint also schon seit Beginn der modernen Mediengeschichte als unbelehrbarer Vielfraß, als unverbesserlicher Gegenwartsjunkie, dem es nie aktuell genug sein kann und den man mittels Diät erziehen muss.

Im Zeichen schrecklicher Ereignisse erscheint dieser Belastungsdiskurs, der ein Zuviel an Nachrichten zum Ausgangspunkt einer auf Achtsamkeit und Konzentration ausgerichteten Form von self care machen möchte, allerdings auch ambivalent und wird – gerade jetzt wieder – zum Gegenstand heftiger Kritik. Diese Spannung kommt in einem Tweet zum Ausdruck, der in der Anfangsphase des Ukrainekriegs riesige Resonanz gefunden hat. Man sieht hier eine Frau in einer sehr gepflegten Wohnung der kreativen Oberschicht an einem Schreibtisch stehen. Der Kommentar dazu ist ein fiktives Zitat, das ihr in den Mund gelegt wird: „I’m tired of living through ­historic events“ („Ich bin es leid, historische Ereignisse zu durchleben“).

Was hier aufs Korn genommen wird, ist die angebliche Wehleidigkeit eines Mediendiskurses, der das eigene Leiden an einer tyrannischen Gegenwart inszeniert, während man in der warmen schönen Wohnung an seinem Laptop steht. Ist Doomscrolling also nur Ausdruck einer privilegierten Weinerlichkeit, die sich dem Leid anderer Menschen nicht aussetzen will?

Man kann den Begriff durchaus so verstehen. Allerdings steckt darin auch die Kritik an einem Medienkonsum, der sich auf eine fast pornografisch anmutende Art an den Schreckensnachrichten der Gegenwart berauscht. Unser Medienkonsum folgt verschiedenen Motiven, und neben dem Informationsbedürfnis steht immer auch, oft uneingestanden, die Gier nach spannenden Geschichten. Diese Gier erzeugt wiederum eine Nachfrage, die dann von atemloser Nonstop-Berichterstattung befriedigt werden kann. Dieser Mechanismus scheint tatsächlich zerstörerisch und hochgradig reformbedürftig zu sein – nicht weil er uns so schwer belastet, sondern weil er dem Ereignis und den realen Leiden, die es verursacht, nicht gerecht wird.

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