Krieg in Nahost: Kippt die Stimmung gegen Netanjahu?
Israel erlebt die größte Protestnacht seit Kriegsbeginn. Der Mord an sechs Geiseln in Gaza facht die Demonstrationen neu an. Netanjahu: unbeeindruckt.
Der Fund von sechs ermordeten Geiseln in Gaza vor einer Woche hat in Israel etwas in Bewegung gesetzt. Die Hamas hatte die Geiseln hingerichtet, kurz bevor das heranrückende Militär sie befreien konnte. Seitdem ist kaum ein Tag ohne Massenproteste vergangen.
„Das Blut klebt an deinen Händen“, sagte Nissim Kalderon an die Adresse von Regierungschef Benjamin Netanjahu gewandt. Der Bruder des noch immer in Gaza gefangenen 53-jährigen Ofer Kalderon forderte am Samstagabend in Tel Aviv Netanjahus Rücktritt: „Mach Platz für jemanden, der sie zurückbringen kann“, zitiert ihn die Zeitung Haaretz. Einav Zangauker, die Mutter der Geisel Matan Zangauker, sagte auf einer Bühne vor dem Armeehauptquartier: „Solange Netanjahu an der Macht ist, werden wir Geiseln in Leichensäcken zurückbekommen.“
Netanjahu zeigte sich am Sonntagmorgen bei einer Kabinettssitzung unbeeindruckt: „Die große Mehrheit der israelischen Bürger“ stehe hinter Israels Kriegszielen, zitiert die Times of Israel den Regierungschef. Umfragen zeigen, dass die israelische Öffentlichkeit wesentlich gespaltener ist, als Netanjahu Glauben machen will. Eine Befragung des israelischen Demokratie-Instituts ergab im August, dass mehr als die Hälfte der Israelis für ein Abkommen über die Rückkehr der Geiseln und ein Ende des Krieges in Gaza sind.
Werden die Massenproteste etwas ändern?
Dass die Massenproteste nun etwas ändern, ist dennoch unwahrscheinlich. Netanjahu hält, auch unter dem Druck seiner rechtsextremen Koalitionspartner, seit Monaten an Bedingungen wie einer israelischen Präsenz entlang der ägyptischen Grenze zum Gazastreifen fest. Die Hamas hatte eine Einigung unter dieser Voraussetzung mehrfach ausgeschlossen.
Der jüngste Vorstoß der USA, beiden Seiten einen finalen Vorschlag vorzulegen, gerät aber auch angesichts neuer Bedingungen der Hamas ins Stocken. Vertreter der US-Regierung würden laut einem Bericht der Washington Post derzeit die Situation neu bewerten. Die Hamas fordert demnach nun im Austausch für zivile Geiseln die Freilassung palästinensischer Gefangener, die wegen Anschlägen auf Israelis lebenslange Haftstrafen verbüßen. Bisher war diese Bedingung nur für die Freilassung von israelischen Soldaten im Gespräch gewesen.
Indes eskaliert die Lage im besetzten Westjordanland weiter. Am Freitag sollen israelische Soldaten laut Augenzeugen der 26-jährigen US-türkischen Aktivistin Aysenur Ezgi Eygi während eines Protests gegen die Siedlung Eviatar im Dorf Beita in den Kopf geschossen haben. Die Armee teilte mit, die Vorwürfe zu prüfen. Ihre Familie forderte eine unabhängige Untersuchung. Menschenrechtsgruppen werfen der Armee vor, Vorwürfe intern nicht wirksam zu prüfen. In der Vergangenheit hatte demnach nur rund eine von einhundert internen Ermittlungen strafrechtliche Konsequenzen.
Ebenfalls am Freitag wurde im wenige Kilometer südlich von Beita gelegenen Dorf Karijut ein 13-jähriges Mädchen erschossen. Seit dem Hamas-Überfall am 7. Oktober haben israelische Soldaten und Siedler im Westjordanland laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium mehr als 660 Palästinenser erschossen, darunter sowohl bewaffnete Kämpfer als auch unbeteiligte Zivilisten.
Ausweitung des Gaza-Krieges
Im selben Zeitraum wurden mindestens 23 Israelis bei palästinensischen Angriffen getötet. Eine großangelegte Armeeoperation mit Dutzenden Getöteten im Norden des Gebietes schürte zuletzt Ängste vor einer Ausweitung des Gazakrieges auf das Westjordanland.
Auch im Gazastreifen wird weiter gekämpft. Am Wochenende wurden Dutzende Menschen bei Angriffen der israelischen Armee getötet, darunter am Sonntag der Vizedirektor des Zivilschutzes in Nordgaza, Mohammed Morsi. Nach Angaben der Organisation starben er und vier Mitglieder seiner Familie bei dem Luftangriff auf sein Haus im Flüchtlingslager Dschablija.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus