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Proteste in IsraelVielleicht die letzte Chance

Judith Poppe
Kommentar von Judith Poppe

Nach der Nachricht der getöteten Geiseln gehen die Menschen in Israel auf die Straße. Wann stellen sich auch Likud-Abgeordnete gegen Netanjahu?

Einen Tag nach der Entdeckung der Leichen von sechs Geiseln im Gazastreifen gehen die Menschen in Israel auf die Straße Foto: Ilia Yefimovich/dpa

D ie Nachricht von den sechs getöteten Geiseln hat ein Erdbeben in Israel ausgelöst. Wie düster der vergangene Sonntag für viele Israelis war, ist von außen kaum nachzufühlen. Sechs Geiseln, von denen einige in einem Deal als Erste hätten freigelassen werden sollen, wurden stattdessen von der Hamas hingerichtet.

Schon lange zweifelte ein Großteil des Landes an Netanjahus Argumentation, militärischer Druck würde die Geiseln heimbringen. Nun ist es offiziell: Statt sie zu retten, trägt der militärische Druck Mitschuld an ihrem Tod. Sie wurden ermordet, bevor das nah gerückte Militär sie erreichen konnte. Netanjahu bleibt bei seiner Blockadehaltung in Bezug auf einen Deal.

Doch wird die Erschütterung politisch den Wendepunkt bringen, wenn dies auch für Hersh Goldberg-Polin, Carmel Gat und viel zu viele andere Geiseln zu spät käme? Wird dies das Ende Netanjahus sein? Möglichkeiten dafür gibt es: Die Protestbewegung muss lahmlegen, was lahmzulegen ist, zum Beispiel mit dem Generalstreik am Montag. Das Arbeitsgericht in Bat Yam ordnete am selben Tag zwar an, dass der Streik – er sei ein politischer Streik und kein Arbeitsstreik – bereits mittags enden müsse.

Es bräuchte mehr von der Attitüde des Direktors eines liberalen Gymnasiums in Tel Aviv: Keine Rückkehr zum normalen Lernen in der Schule, sagte er, bis die Geiseln zurück sind. Auf parlamentarischer Ebene müssen diejenigen Likud-Abgeordneten, die noch ein Gewissen haben (man vermutet, dass es davon tatsächlich noch eine Handvoll gibt) endlich der Regierung ihre Mehrheit entziehen.

Die Führung der Geheimdienste und des Militärs, die seit Langem mit Netanjahu angesichts seiner Kriegsführungsstrategie über Kreuz sind, sollten zurücktreten und so ein weiteres Erdbeben auslösen – mit mehr Wut und weniger Trauer.

Wie realistisch diese Möglichkeiten sind? Wer traut sich derzeit Vorhersagen zu machen. Wenn das Land nicht von Netanjahu und seinen rechtsextremen Partnern in den Abgrund gezogen werden will, dann hat es jetzt noch eine Chance. Vielleicht ist es die letzte.

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Judith Poppe
Auslandsredakteurin
Jahrgang 1979, Auslandsredakteurin, zuvor von 2019 bis 2023 Korrespondentin für Israel und die palästinensischen Gebiete.
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5 Kommentare

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  • Eigentlich müsste sich Yoav Gallant an die Spitze der Likud-Opposition setzen - sofern es diese überhaupt gibt, was hier ja nur gemutmaßt wird -, um dem Spuk mit Netanyahu ein Ende zu setzen. Das würde der Regierung womöglich die Mehrheit in der Knesset kosten.



    Gallant ist bisher der einzige aus dem Regierungslager, der sich durch moderate, vernünftige Vorschläge hervorgetan hat, zuletzt die nach Räumung des Grenzkorridors zwischen Ägypten und Gaza durch die IDF, um den Weg für eine Freilassung der Geiseln aus Hamas-Hand frei zu machen.



    Netanyahu und seine rechtsextremistischen Partner jedoch haben andere Pläne, das Schicksal der noch lebenden Geiseln ist ihnen gleichgültig.

    • @Abdurchdiemitte:

      "I have ordered a complete siege on the Gaza Strip. There will be no electricity, no food, no fuel, everything is closed. We are fighting human animals and we are acting accordingly."



      -Joav Gallant, 9.10.23

      Ist das wirklich die moderate, vernünftige Stimme in die Sie Ihre Hoffnungen für Israel setzen wollen?



      Ein, voraussichtlich, demnächst international gesuchter Kriegsverbrecher, der seine Feinde als menschliche Tiere bezeichnet.



      Ich kann nur für alle Israelis und ihre Nachbarn hoffen, dass es noch Optionen jenseits des religiös-extremistischen "from the river to the sea" Likud gibt.

  • Der Druck der Zivilbevölkerung ist richtig.



    Die Empörung das zu wenig für die Befreiung der Geiseln politisch erwirkt und zu starr auf den für Punkten des Deals beharrt wurde, welche für Netanjahu und Konsorten elementar waren - vermutlich auch richtig.



    Wichtig zu erwähnen, dass die, die primär an dem Tod der Geiseln schuld sind, die sind, die ihnen feige in den Kopf geschossen haben - m. E. mindestens eine Erwähnung wert.

  • Letzte Chance vor dem Abgrund ?



    Dafür ist es , fürchte ich, zu spät - je nachdem wie man Abgrund definiert. Ultimativer Abgrund wäre vermutlich der offene Krieg zwischen Iran (nicht "nur" Hisbollah) und Israel. Dann bliebe Netanjahu & Konsorten, die USA wäre wohl zwingend Partei und könnte Israel im Wahlkampf nicht "hängen lassen" - wenn auch aus eher innenpolitischen Gründen. dieser Abgrund ist noch ein Stück weit weg.



    Abgrund #2 wäre der Verlust jeglichen Wohlwollens und vor allem Vertrauens in Israels "Demokratie" und "REspekt von Menschenrechten" sowohl bei PolitikerInnen im Rest der Welt als auch bei den Völkern, die dieses Vertrauen einmal hatten (das sind bei weitem nicht alle...) . Das gilt für Staaten mit und ohne der berühmten "Staatsräson. In den Abgrund fält Israel schon eine Weile - und es hat gar nicht mehr den Zugriff auf einen Reißleine für einen Fallschirm. Vielleicht kann ein Geiseldeal in letzter Minute den Aufschlag polstern -that's it.



    Aber Netanjahu wird kaum all den Hass, den er mit seiner Politik des No-Deal auf sich gezogen hat, akzeptieren und den "Erfolg" einer vollständig zerstörten Hamas dennoch nicht bekommen, denn dann hat sie gar nix gebracht.

  • Netanjahu hat keine Interesse an einem "Deal". Langsam, ganz langsam begreift es die restliche Welt und sogar der engste Verbündete nennt namentlich das Problem und sagt "Präsident Netanjahu tue zuwenig für eine Lösung um die Geiseln frei zu bekommen".

    Netanjahu ist der Brandstifter. Er und seine rechtsgerichteten Fanatiker wollen das Ende ihrer Regierung nur hinausschieben. Netanjahu hat nur noch seinen Machterhalt im Blick. Die Menschen in Israel und die Geiseln sind ihm letztlich egal.



    Es ist so bitter.