Drei Personen stehen nebeneinander in einer Wohnung.

Foto: Tina Eichner

Krise in der Gefängnispsychiatrie Berlin:Er hat nicht gelebt

Ümit Vardar starb nach 27 Jahren im Maßregelvollzug. Die Zustände dort gelten schon lange als untragbar. Seine Familie verklagt nun das Land Berlin.

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16.8.2024, 12:00  Uhr

Er war ein schöner Mann. Damals, bevor er ins Berliner Krankenhaus des Maßregelvollzugs kam. Alle sollen das sehen. Aysel Vardar hat ein Foto ihres Sohnes an ihre Bluse geheftet, als sie am 14. Mai dieses Jahres vor einem Gerichtssaal des Landgerichts Berlin in Charlottenburg wartet. Auf dem Foto hat Ümit verwuschelte Haare, einen Dreitagebart, dreht den Kopf zur Seite und blickt direkt in die Kamera.

Ümit Vardar starb 2017 im Alter von 52 Jahren im Vivantes-Klinikum in Berlin-Neukölln. Davor war er im Maßregelvollzug untergebracht, der Gefängnispsychiatrie. Vardar hatte 1988 seinen Vater bedroht, 2.000 D-Mark von ihm verlangt und eine Ärztin geschlagen. Ein Gericht erklärte Ümit Vardar 1989 der versuchten räuberischen Erpressung, der Bedrohung und der Körperverletzung für schuldig. Weil ein Gerichtsgutachter ihm eine paranoide Schizophrenie attestierte und er wegen der wiederholten Gewalttaten für weiterhin gefährlich galt, kam er nicht ins reguläre Gefängnis, sondern in den Maßregelvollzug.

Aysel Vardar, randlose Brille, die Haare streng zu einem Zopf gebunden, hat das Land Berlin verklagt. Vertreten wird sie von ihren verbliebenen Söhnen, Atilla und Mesut, Zwillinge, Rechtsanwälte. Ümit war im August 2017 aus dem Krankenhaus des Maßregelvollzugs entlassen worden und kam in eine Krisenunterkunft. Nur wenig später hörte er auf zu essen, zu trinken, zog sich in eine Ecke zurück und klagte über Schmerzen. Am 18. Oktober wurde er in die Notaufnahme eingeliefert, wo man zwei Hirntumore bei ihm entdeckte. Er starb am 5. November 2017.

Vor Gericht geht es um die Frage, seit wann Ümit die Tumore hatte und ob sie von den Medikamenten, die er im Maßregelvollzug bekommen hat, ausgelöst worden sein können.

Die Probleme sind seit Jahren bekannt

Das Krankenhaus des Maßregelvollzugs (KMV) in Berlin steht seit Jahren in der Kritik. Zu wenig Personal, zu wenige Angebote, überfüllte Zimmer. Mit Stand 8. August waren laut Berliner Senat 611 Pa­ti­en­t*in­nen im KMV untergebracht, obwohl es regulär nur 549 Betten gibt. Zusätzlich sind 15 Pa­ti­en­t*in­nen im Justizvollzugskrankenhaus und in Gefängnissen untergebracht. Wann diese ins KMV übersiedelt werden können, ist laut Senat nicht absehbar.

Die taz hat gemeinsam mit Frag den Staat zu den Zuständen im Maßregelvollzug recherchiert: mit Pa­ti­en­t*in­nen und Angehörigen gesprochen, Kommissionsberichte gelesen, Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz gestellt. Daraus ergibt sich folgendes Bild: Der erhebliche Personalmangel führt zu Unterversorgung und mangelhafter Dokumentation. Nicht immer scheinen medizinische Problemlagen richtig erkannt zu werden. Die Menschen sind frustriert, werden teils aggressiv und gewalttätig. Auch gegen Pflegepersonal.

Dabei kennt auch der Senat die Probleme seit Jahren. 2018 setzte die Senatsverwaltung für Gesundheit eine Kommission ein, die seitdem jährlich die 16 Berliner psychiatrischen Kliniken und das KMV besuchen und Missstände dokumentieren soll. Bereits in ihrem ersten Bericht von 2020 schreiben die Ex­per­t*in­nen von „mangelhaften räumlichen Bedingungen und einer „defizitären Personalsituation“ im KMV, teils verschärft durch die Pandemie. Gesetzliche Vorgaben könnten nicht eingehalten, therapeutische Maßnahmen nicht durchgeführt werden. Es gebe „sichere Hinweise auf teilweise erhebliche Einschränkungen von Persönlichkeitsrechten“.

Zwei Hände halten ein Schwarz-Weiß-Foto in die Kamera, auf dem das Gesicht eines jungen Mannes zu sehen ist

Attila Vardar zeigt ein Foto seines verstorbenen Bruders Ümit Foto: Tina Eichner

Der Bericht von 2021 bestätigt den Eindruck. Als „sehr problematisch“ wird darin zudem die Lage von zwei Pa­ti­en­t*in­nen eingeschätzt, „die seit mehreren Monaten in den Isolationszimmern untergebracht sind“. Nach den Mindestgrundsätzen der Vereinten Nationen für die Behandlung von Gefangenen gilt eine Einzelhaft an mehr als 15 aufeinander folgenden Tagen als Folter. Die Isolationsmaßnahmen im KMV würden regelmäßig geprüft. „Eine Regel- oder Höchstdauer, die als angemessen gilt, existiert nicht“, schreibt der Berliner Senat, „besondere Sicherungsmaßnahmen sind spätestens alle 14 Tage zu überprüfen.“

Der geplante Doppelbericht der Kommission für 2022 und 2023 ist noch nicht veröffentlicht. Dass sich drei Jahre später nichts verbessert hat, zeigen allerdings mehrere Entwicklungen in den ersten Monaten dieses Jahres. Im Januar schrieb der Personalrat des KMV einen Brandbrief an die Senatsverwaltung für Gesundheit. Im Februar demonstrierten Angehörige „gegen die menschenunwürdigen Zustände im Krankenhaus des Maßregelvollzugs Berlin“. Im März folgten Proteste von Beschäftigten. Im April schließlich reichte der ärztliche Leiter des KMV, Sven Reiners, seine Kündigung ein.

Mehr Medikamente als notwendig

Personalmangel und Überbelegung, das sind die Kernprobleme, von denen auch zwei Angehörige von Pa­ti­en­t*in­nen der taz berichten. Laura Kaiser (Name geändert) klagt: „Die Pa­ti­en­t*in­nen haben keinerlei Privatsphäre. Das wirkt sich auch auf die Psyche aus.“ Gespräche mit Psy­cho­lo­g*in­nen sowie Ergo-, Sport- oder Arbeitstherapie gebe es zwar, aber nicht genug, und oft fielen die Angebote aus. Das führe erstens zu Langeweile und Frust. Zweitens sei es Voraussetzung für die Entlassung, Angebote wahrzunehmen. Gebe es diese aber de facto nicht, verzögere sich die Entlassung. „Das darf so nicht sein“, kritisiert Kaiser.

Eine andere Angehörige bestätigt den Eindruck. Die Konsequenz sei, so habe sie das bei ihrer Tochter erlebt und von anderen Angehörigen erfahren, dass „die Leute mit Medikamenten vollgepumpt“ würden „in einem Ausmaß, das mit der Krankheit nicht gerechtfertigt werden kann“.

Die taz hat darüber auch mit Sven Reiners gesprochen, bis Ende Juni Chefarzt im KMV. Er sagt: „Die Dosen an Antipsychotika im KMV wären wahrscheinlich sehr viel niedriger, wenn es ein besseres Therapieangebot gäbe und kleinere, helle, freundliche Stationen.“ Das Gleiche gelte für andere Medikamente wie Beruhigungsmittel. „Um es zugespitzt zu sagen: Die Patienten bekommen Medikation für ihre Krankheit, aber viel höhere Dosen als notwendig, damit sie die Umstände in der Klinik ertragen können.“

Auch im Gerichtsverfahren um Ümit Vardar spielen Medikamente eine Rolle: Ob der Verstorbene mehr Mittel erhalten hat als notwendig, ob die Dosen zu hoch waren, der Zeitraum zu lang.

Streit mit den Eltern

Geboren wurde Ümit Vardar in der Türkei, zog als Kind mit seinen Eltern nach Deutschland. Nach dem Hauptschulabschluss versuchte er sich als Gärtner. Die Eltern wünschten sich, dass er Koch wie der Vater würde. Nirgends blieb er lange. Ihn interessierte vor allem Musik. „Er liebte Elvis“, erzählt seine Mutter Aysel Vardar Ende Juli in ihrer Wohnung in Berlin-Reinickendorf. Er sang, spielte Gitarre, übersetzte Songtexte. Später, in der Klinik, schrieb er eigene Gedichte auf Türkisch, Deutsch und Englisch und unterschrieb sie mit „Mr. Hope“ – die englische Übersetzung seines türkischen Vornamens: Hoffnung.

Mitte der 80er, Ümit war etwa 20 Jahre alt, lebte er weiterhin in der elterlichen Wohnung, blieb aber immer länger fort, so erinnert sich Aysel Vardar. Einmal fand sie in seiner Kleidung Drogen, er habe benommen gewirkt. Immer wieder sei er mit dem Vater aneinandergeraten, aggressiv geworden. Sein Bruder Atilla stellt pantomimisch dar, wie Ümit einmal den Tisch im Wohnzimmer angehoben und in Richtung seiner Mutter geworfen habe. Der Vater schmiss Ümit aus der Wohnung. Es folgten Aufenthalte in Psychiatrien wegen „Streitigkeiten und Tätlichkeiten“ gegen die Eltern, wie es im Urteil vom Januar 1989 heißt. Etwaige Diagnosen zu dem Zeitpunkt sind darin nicht festgehalten.

Ende Januar 1988 fordert Ümit durch die geschlossene Wohnungstür 2.000 D-Mark von den Eltern. Er wolle nach Alaska auswandern. Der Vater öffnet nicht. Zwei Tage später kommt Ümit zurück, fordert wieder Geld, droht, den Vater umzubringen. Der weist ihn wieder ab. Ümit wartet im Hausflur, als der Vater die Wohnung verlässt, mit einem Pflasterstein und einer abgebrochenen Flasche in der Hand. Der Vater beruhigt ihn, ruft die Polizei. Ümit wird vorläufig festgenommen.

Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im KMV liegt derzeit bei sechseinhalb Jahren. Ümit Vardar blieb 27 Jahre.

Ein paar Tage später, wieder frei, geht Ümit ins Krankenhaus am Urban und bittet um Aufnahme. Die diensthabende Ärztin will zunächst mit ihm reden. Doch stattdessen schlägt Ümit sie mit der Faust.

Die Mutter erklärt seine Reaktion Jahre später so: Ümit habe keine Bleibe gehabt, hätte auf der Straße schlafen müssen. Er ging ins Krankenhaus, wo er die Ärztin kannte, und bat um Hilfe. Die bekam er nicht, wie er es sich vorstellte, und er wusste nicht, was tun.

Ein Jahr später wird er verurteilt. Ein Aufenthalt im Maßregelvollzug wird auf unbestimmte Zeit verhängt, muss aber regelmäßig gerichtlich überprüft werden. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im KMV liegt derzeit bei sechseinhalb Jahren. Ümit Vardar blieb 27 Jahre.

In einer Stellungnahme an die Staatsanwaltschaft von 2016 schreibt das KMV, Vardar nehme an Therapien teil, seine „kontinuierliche Einbindung“ sei jedoch nicht möglich, immer wieder lehne er seine Medikation ab. 2015 und 2016 habe es Schlägereien mit Mitpatienten gegeben, in beiden Fällen sei er isoliert worden. Versuche, ihn in ein „geeignetes psychiatrisches Pflegeheim“ zu vermitteln, in dem der „engmaschig betreut“ werden könne, seien an seiner Ablehnung gescheitert. Die Familie sagt: Erst ab 2012 – da war er bereits über 20 Jahre im KMV – seien ihm solche Angebote unterbreitet worden. Medikamente habe er wegen der Nebenwirkungen abgelehnt.

1990 zieht Familie Vardar nach Reinickendorf, wo das KMV liegt, um näher bei Ümit zu sein. Der ruft täglich zu Hause an. Spielt am Telefon mit der Gitarre vor, fragt: „Mama, ist das gut?“. „Er hat immer nach Bestätigung gesucht“, erzählt Aysel Vardar. Als ihr Sohn Atilla Fotos von Ümit holt, wendet sie sich ab, mit Tränen in den Augen. Als sie sich wieder etwas gefasst hat, sagt sie: „Er hat nicht gelebt.“ Die ganzen Jahre in der Psychiatrie – ein richtiges Leben sei das nicht gewesen.

Seitenweise Medikamentenlisten in den Akten

Bei Schizophrenie werden vor allem Antipsychotika verschrieben. Sie lindern die Symptome einer Psychose und mildern Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Bei starker Unruhe und Schlafstörungen bekommen die Pa­ti­en­t*in­nen Schlaf- und Beruhigungsmittel.

In den Gerichtsakten im Fall Vardar finden sich seitenweise Medikamentenblätter. Über die Jahre bekommt er mal Haloperidol, mal Melperon, mal Levomepromazin. Familie Vardar hat für die Gerichtsverhandlung einen Pharmakologen um ein Gutachten gebeten. Sie will erstens wissen, ob die in Ümits Akten beschriebenen Verhaltensweisen wie Aggressivität oder Lähmungserscheinungen schon 2015 oder 2016 auf die Hirntumore hätten hinweisen können. Zweitens, ob die Tumore von den Medikamenten ausgelöst worden sein können und drittens, ob die Medikamente, die Ümit erhielt, dazu geführt haben können, dass die Hirntumore nicht entdeckt wurden.

Ein Beruhigungsmittel steht besonders häufig in den Akten: Tavor. Zuletzt bekam Ümit Vardar dieses Medikament von August 2013 bis 2016 durchgängig. Selbst bei chronischen Erkrankungen empfiehlt der Hersteller die Gabe nicht länger als zwei Wochen, zumindest müsse dann ein Arzt neu entscheiden. In seinem Gutachten schreibt der Pharmakologe, bei Pa­ti­en­t*in­nen mit Schizophrenie hätten Studien eine erhöhte Sterblichkeit ausgemacht. „Warum [bei Vardar] Tavor über Jahre hinweg als Dauertherapie erforderlich war“, gehe aus der Dokumentation des KMV nicht hervor.

Tavor werde in Form von Injektionen auch eingesetzt, um Epilepsien zu behandeln. Daher, so der Pharmakologe, sei anzunehmen, dass die Dauertherapie mit Tavor in Tablettenform bei Ümit Vardar „geeignet gewesen wäre, mögliche Symptome eines Hirntumors, nämlich epileptische Anfälle, zu unterdrücken bzw. zu verschleiern“.

Das Berliner Landgericht beanstandet die Tavor-Therapie nicht: Die Tagesdosen hätten die empfohlenen Mengen nicht überschritten. Außerdem habe die Familie nicht ausreichend dargelegt, ob Ümit tatsächlich gesundheitliche Nachteile entstanden seien.

Drei Personen stehen auf einem Balkon und sprechen miteinander.

Aysel Vardar und ihre beiden Söhne Mesut und Attila verklagen das Land Berlin auf Schadensersatz Foto: Tina Eichner

Dass im KMV nicht gerade wenig Tavor ver­geben wird, zeigen Daten der Senatsverwaltung für Gesundheit, die Frag den Staat und der taz exklusiv vorliegen. Demnach gab das KMV im Jahr 2015 etwa 1.300 Euro für 23.035 Milligramm Tavor aus. 2016 waren es etwa 1.700 Euro für 20.225 Milligramm. Im Jahr 2023 waren es etwa 2.200 Euro für 22.910 Milligramm.

Von dieser Menge hätte je­de*r Pa­ti­en­t*in 13 bis 65 Tage damit behandelt werden können – je nach Dosierung. Wie viele Pa­ti­en­t*in­nen tatsächlich Tavor erhielten, ist natürlich nicht bekannt. Sollten beispielsweise nur 100 Pa­ti­en­t*in­nen das Medikament bekommen haben, dann hätten sie 80 Tage bis zu einem Jahr damit behandelt werden können.

Fast ein Viertel der Stellen fehlt

Sven Reiners war von 2021 bis Juni 2024 Chefarzt am KMV – nach der Entlassung von Ümit Vardar. Er kündigte, weil er die „menschenunwürdigen“ Zustände „nicht mehr verantworten“ konnte, wie er der taz Anfang August am Telefon sagt. Auch für den Fall Vardar findet er harte Worte: „27 Jahre in der forensischen Psychiatrie wegen ‚räuberischer Erpressung‘: Das ist ein Skandal.“

Die Zustände des KMV in den vergangenen Jahren habe er mehrfach gegenüber der Senatsverwaltung für Gesundheit angeprangert und die Senatorin – erfolglos – um ein Gespräch gebeten. „Der Personalmangel ist so eklatant, da hilft auch eine Stellenaufstockung nicht“, sagt er der taz. Zwei Pflegekräfte müssten alleine eine Station, die eigentlich für 36 Patienten ausgelegt ist, mit bis zu 50 Personen betreuen. Bei solchen Bedingungen „werden die Patienten krank und die Mitarbeiter auch“ – weshalb viele neue Mitarbeitende gleich wieder kündigten.

Was es brauche, sei ein Neubau. „Eine moderne Klinik, mit höchstens 20 Patienten pro Station.“ Klar gehe das nicht von heute auf morgen. „Aber man hätte schon vor drei Jahren anfangen können, den Maßregelvollzug in Berlin neu zu denken.“ Das sei nicht geschehen.

Auch Berlins frühere Landesbeauftragte für Psychiatrie, Luciana Degano Kieser, hat ihr Amt im Juni 2023 niedergelegt, weil sie die Situation im Maßregelvollzug nicht verantworten wollte. Der taz und Frag den Staat sagt sie im August 2024: „Menschenwürde und Patientenrechte werden im Berliner Maßregelvollzug nur unzureichend eingehalten.“ Eine Besserung sei nicht absehbar gewesen. Es fehlten eine Strategie und zumindest mittelfristige Planung. „Die Situation war für mich ethisch nicht mehr tragbar und fachlich nicht mehr zu verantworten“, sagt Degano Kieser heute. Sie war lediglich ein halbes Jahr im Amt, seit ihrem Weggang ist die Position nicht besetzt. Aktuell läuft das Auswahlverfahren.

Konkret fehlen im KMV derzeit fast ein Viertel aller Stellen, 144,8. Das Krankenhaus sei „hochgradig bemüht, hier Personal zu finden“, schreibt die Senatsverwaltung auf Anfrage von taz und Frag den Staat und verweist auf den bundesweiten Fachkräftemangel. Tatsächlich verfehlt einer aktuellen Studie zufolge mehr als die Hälfte aller psychiatrischen Einrichtungen in Deutschland die Mindestvorgaben für das Fachpersonal. Die gesetzlichen Krankenkassen fordern, mehr Menschen ambulant statt stationär zu versorgen. Eine Lösung für den Maßregelvollzug wäre das nicht.

Stattdessen soll das Berliner KMV mehr Betten bekommen. Bis 2025 will der Senat dafür dessen Budget um 20 Millionen Euro auf 89,2 Millionen Euro aufstocken. Während die Gesundheitssenatorin im Februar der taz noch sagte, die neuen Plätze würden „auf jeden Fall noch in diesem Jahr“ bezugsfähig, heißt es aus der Senatsverwaltung auf Nachfrage im August nur noch, das solle „so schnell wie möglich“ geschehen.

Zur Aussage Sven Reiners, die Zustände seien „menschenunwürdig“, erklärt der Senat allgemein, die Situation sei für alle Beteiligten belastend, die Sorgen und Probleme würden „sehr ernst genommen“, seien außerdem „erkannt, benannt und werden konsequent in Angriff genommen“.

Mit richtiger Diagnostik und Befund hätte der Tod vermutlich nicht verhindert, die Lebenserwartung aber verlängert werden können.

Zum Fall Ümit Vardar äußert sich die Senatsverwaltung „aufgrund des Datenschutzes“ nicht. Das Landgericht verkündet sein Urteil am 4. Juni: Das Land Berlin muss den Angehörigen ein Schmerzensgeld von 35.000 Euro zahlen. Mit­ar­bei­te­r*in­nen des KMV hätten den Patienten „fehlerhaft behandelt“: Der Patient sei „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ bereits im Juni 2017 am Tumor erkrankt gewesen. Mit richtiger Diagnostik und Befund hätte der Tod vermutlich nicht verhindert, die Lebenserwartung aber verlängert werden können. Ansonsten weist das Gericht die Klage überwiegend ab.

Es ist nur kleiner Erfolg für die Familie. Die hatte ein Schmerzensgeld von 280.000 Euro gefordert. Aysel Vardar geht in Berufung.

Für die Recherche stützen wir uns unter anderem auf exklusive Dokumente, die wir per Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz erhalten haben. Frag den Staat hat sie veröffentlicht. Die Recherche von Frag den Staat finden Sie hier.

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