Historiker über Geschichte der Polizei: „Von Anfang an Akteur im Holocaust“
Ein Demokratiestärkungsprojekt der Polizeiakademie Niedersachsen kooperiert längst mit KZ-Gedenkstätten. Jetzt kam die NS-Pulverfabrik Liebenau hinzu.
taz: Herr Götting, worauf zielt die neue Kooperation der Polizeiakademie Niedersachsen mit der Gedenkstätte Liebenau?
Dirk Götting: Darauf, an einem authentischen Ort die Beteiligung der Polizei am NS-Staat aufzuzeigen. Die 1939 gebaute Pulverfabrik Liebenau beschäftigte 20.000 ZwangsarbeiterInnen – sowjetische Kriegsgefangene, aber auch osteuropäische Häftlinge des „Arbeitserziehungslagers Liebenau“. 2.000 von ihnen starben. Die im Oktober 2023 eröffnete Gedenkstätte liegt in direkter Nachbarschaft unserer Polizeiakademie. Mit den Gedenkstätten Bergen-Belsen und Esterwegen kooperieren wir bereits. Unsere im Juni unterzeichnete Kooperation mit Liebenau soll weitere polizeihistorische Führungen und Workshops erbringen, die zeigen, wie stark auch die ganz normale Ordnungspolizei am NS-Regime beteiligt war. Und nicht nur bei Fluchtversuchen, sondern auch, indem sie KZ und „Arbeitserziehungslager“ wie das Liebenauer bewachte.
64, ist Wissenschaftlicher Direktor und Leiter des Polizeimuseums und der Forschungsstelle für Polizei- und Demokratiegeschichte der Polizeiakademie Niedersachsen.
taz: Und auch Ghettos wie das in Lódż.
Götting: Ja, zu diesem damals größten Ghetto in Polen haben wir im Februar eine Exkursion gemacht. Polizei spielte dort nicht nur bei der Bewachung eine Rolle. In dem damaligen „Warthegau“, und zwar in Poznań (Posen), fanden 1939 auch die ersten „Euthanasie“-Morde an Behinderten in mobilen Gaswagen statt. Der verantwortliche Gestapo-Chef war Polizeibeamter. Er meldete den „Erfolg“ der Kriminalpolizei, die daraufhin vorschlug, auch im Altreich Gas einzusetzen. Damit nicht auffiel, dass damit gemordet werden sollte, hat das kriminaltechnische Institut der Sicherheitspolizei das Gas beschafft. Im Ghetto Lódż war die Kripo zudem maßgeblich daran beteiligt, den Bewohnern Wertsachen abzupressen. Damit will ich sagen: Egal, wo Sie hinfassen – die Polizei ist von Anfang an Akteur auch im Holocaust. Das ist in der Öffentlichkeit und innerhalb der Polizei kaum bekannt.
taz: Ist die Rolle der Polizei im NS-Staat genug aufgearbeitet?
Götting: Die innerpolizeiliche Aufarbeitung hat maßgeblich Wolfgang Kopitzsch, ehemaliger Hamburger Polizeipräsident, initiiert, der 2001 begann, regelmäßige Fahrten zu Täterorten in Polen zu organisieren. 2012 gab es, als Resultat des ersten und einzigen bundesweiten Forschungsprojekts zur Polizei im NS-Staat, eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum. Wir haben sie übernommen und ergänzt um niedersächsische Module, im Hannoverschen Landtag als Wanderausstellung eröffnet. Bis 2017 sind wir damit durch Polizeidienststellen getourt. Ab August werden wir sie in der Gedenkstätte Esterwegen dauerhaft zeigen können. Das sind wichtige Schritte der Veränderung. Denn noch 2012 sagte eine Führungskraft: „Polizei und NS – das ist negative Öffentlichkeitsarbeit.“
taz: Seit wann widmet sich die Polizeiakademie Niedersachsen dem Thema?
Götting: Wir befassen uns seit über 25 Jahren mit der NS-Geschichte der Polizei. Seit 2019 ist polizeiliche Erinnerungsarbeit Teil unserer Initiative zur Demokratiestärkung innerhalb der Polizei. Gemeinsam mit dem Verein „Gegen Vergessen für Demokratie“ haben wir die Initiative „Polizeischutz für die Demokratie“ initiiert. Es geht darum, der aktuellen Polizeikritik, bezogen auf Polizeigewalt, Rassismus und fehlende Demokratiefestigkeit, ein Engagement entgegenzusetzen. Also suchen wir innerhalb der Polizei Menschen, die sich freiwillig einbringen möchten, um auch das historische Selbstverständnis zu schärfen. Diese DemokratiepatInnen initiieren dann beispielsweise Seminare, Vorträge, Gedenkstättenbesuche – alles, damit sie die KollegInnen mitziehen.
taz: Wen erreichen Sie mit Ihrem Projekt?
Götting: Die bundesweite Megawo-Studie zu Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten hat gezeigt, dass neben den wenigen – aber es sind mehr als Einzelfälle –, die ein konstant menschen- und demokratiefeindliches Weltbild haben, es einen relativ großen Kreis derer gibt, die sich zu klassischen Demokratiethemen wie Diversität nicht äußern wollen. Sie sind eine unserer Zielgruppen. Unsere Initiative ist ein KollegInnenprojekt, also bottom-up ausgerichtet. Wir wollen so die Kluft zwischen offizieller Polizei- und interner PolizistInnenkultur – der Cop Culture – verkleinern. Dazu müssen wir uns in der Polizei insgesamt mit Demokratiethemen befassen. Nach der Ausbildung gehören solche Themen aber nicht zum dienstlichen Fortbildungsprogramm. Um sich aber über die gesamte Dienstzeit mit der Rolle und Funktion von Polizei in der Gesellschaft auseinanderzusetzen, ist eine Befassung mit allgemeinen, gesellschaftlich relevanten Themen für möglichst viele Polizeiangehörige notwendig. Dazu möchten wir mit unserer Initiative beitragen.
taz: Haben sich schon andere Bundesländer angeschlossen?
Götting: Ja. Schleswig-Holstein hat die ersten Demokratielotsen qualifiziert, und in Thüringen ist kürzlich der erste Kurs gelaufen. Auch Baden-Württemberg hat das Projekt in Grundzügen selbstständig übernommen.
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