Stromversorgung in der Ukraine: Zwischen AKWs und Blackout

Die Stromversorgung in der Ukraine wird fragiler. Im Winter sind große Ausfälle zu erwarten. Umweltschützer fordern einen Strategiewechsel.

Menschen stehen an einem Fast-Food-Stand in der Chreschatyk-Straße, der Haupteinkaufsmeile der Hauptstadt, während eines teilweisen Stromausfalls inmitten des russischen Angriffs auf die Ukraine, in Kiew, Ukraine, 16. Mai 2024.

Notbeleuchtung in Kyjiw während eines teilweisen Stromausfalls im Mai 2024 Foto: Thomas Peter/reuters

KYJIW taz | Eines gilt als sicher in der Ukraine: Der nächste Winter wird schlimmer werden als der vergangene. Hatten im vergangenen Winter die Heizungen landesweit weitgehend funktioniert, könnte es diesen Winter zu großflächigen Ausfällen bei der zentralen Versorgung der Wohnungen mit Heizwasser kommen. Umweltschützer und Energieexperten fordern daher ein Umdenken der staatlichen Energiepolitik: weg von Großprojekten wie Atom- und Kohlekraftwerken, hin zu dezentralen Einheiten erneuerbarer Energiequellen.

Stechender Rauch hing einen ganzen Tag über der ostukrainischen Stadt Kriwi Rih. Über der Koksfabrik des Unternehmens Arcelor hatte sich eine dicke Rauchwolke gebildet, Anwohner klagten über einen stechenden Geruch, Halsbeschwerden und Kopfschmerzen. Ursache des Unfalls war eine wegen akutem Strommangel erforderliche Schnellabschaltung der Produktionsmaschinen des Werkes.

Mit derartigen Unfällen wird in der Ukraine in den nächsten Monaten noch öfter zu rechnen sein. In der Folge der Zerstörung von Einrichtungen der ukrainischen Energieversorgung durch Russland sitzen schon jetzt die meisten Bewohner des Landes jeden Tag für mehrere Stunden ohne Strom in ihren Wohnungen. Doch das Schlimmste kommt noch. Vor dem Krieg standen der Ukraine 53 Gigawatt Strom zur Verfügung, aktuell sind es nur noch 9, Tendenz fallend. Dies berichtet der ukrainische Energieexperte Maxim Bevz im Gespräch mit der taz. Er fürchtet eine humanitäre Katastrophe im bevorstehenden Winter in der Ukraine.

Mehrstündige Stromausfälle könne man noch ertragen, so der Experte, der als Projektmanager ein Jahrzehnt in der ukrainischen Gas- und Ölindustrie beschäftigt war, anschließend in Zusammenarbeit mit der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung Projekte betreute und sich in der Ukraine für den Ausbau der erneuerbaren Energien, eine dezentrale Energieversorgung und Energieeffizienz einsetzt.

Wenn es an Strom fehle, würden auch die Pumpen nicht bedient, die die Wohnungen zentral beheizen, so Bevz. Und auch die mit Strom bedienten Pumpen, die die Wohnungen mit Wasser versorgen, würden in großem Stil ausfallen. Und das bedeute, dass der Wasserhahn bei den Bewohnern höherer Stockwerke auf eine Umdrehung nicht reagiere, die Bewohner der oberen Stockwerke sich also das Wasser in den unteren Stockwerken werden holen müssen.

Neue AKWs

Zwar habe die Ukraine auch eigenes Gas. 2.500 Gasbohrstellen pumpen landeseigenes Gas in die Höhe. Doch es seien komplizierte und energieintensive Prozesse, die sicherstellten, dass die Gasnetze nur unter einem entsprechenden Druck funktionierten. Und zur Aufrechterhaltung dieses Drucks brauche man auch Strom. „Ohne Gas sind wir schnell in einer humanitären Katastrophe“, so Bevz.

Er kann nicht verstehen, warum die Ukraine jetzt auf neue Atomkraftwerke setzt. Diese verschlängen viel Geld und seien erst in einigen Jahren am Netz. „Doch wir müssen jetzt durch den Winter kommen. Ab dem 15. Oktober beginnt die Heizperiode. Wir haben nur noch gut drei Monate Zeit, um uns darauf vorzubereiten.“ so Bevz. Die Ukraine brauche mehr erneuerbare Energie. Diese sei auch nicht so anfällig auf russische Luftangriffe.

„Russland hat gar nicht so viele Raketen und Drohnen, wie wir Solarzellen haben“ argumentiert er. Auch Greenpeace kritisiert die nicht ausreichende Bereitschaft der ukrainischen Regierung, der erneuerbaren Energie in der Ukraine zum Durchbruch zu verhelfen. Die Ukraine könnte in den kommenden drei Jahren fünfmal mehr Solarenergie installieren, als die Regierung im sogenannten „Ukraine-Plan“ bislang vorsieht.

Zu diesem Ergebnis kommt eine von Greenpeace beauftragte Studie „Solarenergie-Marshallplan für die Ukraine“ des Wirtschaftsberatungsunternehmens „Berlin Economics“. Dieser weitaus stärkere Ausbau würde helfen, die Energiekrise des Landes zu bewältigen, und er wäre ökonomisch vorteilhaft.

Mehr Solarenergie

Die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen von Berlin Economics kommen zu dem Schluss, dass ein Ausbau der Solarenergie in der Ukraine bis 2027 insgesamt 3,6 Gigawatt neu installierte Leistung liefert, also fünfmal mehr, als der „Ukraine-Plan“ mit erwarteten 0,7 Gigawatt vorsieht. Bis 2030 könnte die installierte Leistung bei der Solarenergie sogar auf insgesamt 14 Gigawatt gegenüber heute (5,6 Gigawatt) anwachsen, so Greenpeace unter Berufung auf die Studie.

Und in einem weiteren von Greenpeace in Auftrag gegebenen Gutachten kommt das Institute for Sustainable Futures an der Technischen Universität in Sydney zu dem Schluss, dass das Land nur ein Hundertstel seiner Landesfläche nutzen müsste für erneuerbare Energien, um den gesamten Strombedarf mit Solar- und Windenergie zu decken. Ja, es ließe sich sogar ein Überschuss erzielen und 20.000 neue Arbeitsplätze schaffen.

Zum Vergleich: der geplante Bau von vier AKW wird, so der Atomkonzern Energoatom auf seinem Telegram-Kanal, nur 9.000 neue Arbeitsplätze bringen. 60-mal höher, als die ukrainische Regierung schätzt, so Andree Böhling von Greenpeace, sei das Potenzial für Solarenergie in der Ukraine.

Noch überzeugender wirken konkrete Hilfen beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Über ihre Tochter „DEG Impulse“ ko-finanziert die DEG – Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH jetzt ein Vorhaben des deutschen Mittelständlers A. Reiter GmbH, der an seinem ukrainischen Standort eine Photovoltaikanlage installiert.

Die Anlage soll im Jahr 600.000 kWh grünen Strom erzeugen und so den Produktionsbetrieb am Standort sicherstellen. Zudem soll ein Drittel der erzeugten Solarenergie in das ukrainische Stromnetz eingespeist werden. Die Firma investiert dazu selbst rund 494.000 EUR, die DEG steuert aus Mitteln des develoPPP-Programms des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ebenso viel bei.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.

Ihren Kommentar hier eingeben