Frankreich vor Neuwahlen: Linke rauft sich zusammen

Angst vor einem Durchmarsch der extremen Rechten bei den Parlamentswahlen lässt linke politische Kräfte zusammenrücken. Inhaltliche Differenzen bleiben.

Der Spitzenkandidat der Sozialistischen Partei Frankreichs, Raphael Glucksmann, ballt die Faust, als er auf die Bühne des Hauptquartiers der Wahlnacht kommt.

Muss jetzt die eigene Basis mobilisieren: der Spitzenkandidat der Sozialistischen Partei Frankreichs, Raphaël Glucksmann Foto: Michel Euler/AP/dpa

PARIS taz | „Wir haben einen Verrückten an der Staatsspitze“, meinte am Sonntagabend der Abgeordnete François Ruffin von der Linkspartei La France insoumise (LFI). Er war nicht der Einzige, der so dachte, als Staatspräsident Emmanuel Macron die Auflösung der Nationalversammlung und die Neuwahl der Abgeordneten für den 30. Juni und 7. Juli ankündigte.

Auch im Lager der Macronisten herrschte Ratlosigkeit. Ausgerechnet ihr Präsident, der doch immer wieder versichert hatte, er wolle die extreme Rechte bekämpfen, soll als Steigbügelhalter in die Geschichte eingehen, weil er der Le-Pen-Partei die institutionelle Macht der Republik ausliefern will.

Selbst unter den Macron-Fans war es schwer, Leute zu finden, die die Reaktion des Präsidenten begrüßen oder gar als einen genialen Schachzug interpretieren möchten. Sie erwarteten eine Rechtfertigung bei einer zunächst für Dienstagnachmittag angesetzten Pressekonferenz. Doch Macron blieb ihnen vorerst eine Erklärung schuldig und verschob den Medientermin auf den Mittwoch.

Zwei Tage nach dem Schock, den die Ankündigung des Präsidenten ausgelöst hatte, herrschten in allen politischen Lagern sowie weiten Teilen der Bevölkerung ebenfalls Verwirrung und Verunsicherung. Sogar beim rechtsextremen Rassemblement National (RN), der mit ihrem Spitzenmann Jordan Bardella bei den Wahlen zum EU-Parlament einen historischen Sieg errungen hat, sehen manche An­hän­ge­r*in­nen nach der anfänglichen Begeisterung einen möglichen Grund zu Misstrauen. Kann es wirklich mit rechten Dingen zugehen, dass Macron seine von ihrem Wahlsieg am Sonntag beflügelten Erzfeinde nun auch im nationalen Parlament einfach durchwinken will?

Keine Gegenkandidaten

Bardella meint, dass er trotz des Triumphs bei der EU-Wahl am 9. Juni (31,4 Prozent für seine Liste) Verbündete brauchen könnte, um am 7. Juli eine Mehrheit zu erringen und dann selber Premierminister der neuen Regierung zu werden. Er wandte sich am Montag daher an Eric Ciotti, den Chef der konservativen Partei Les Républicains (LR), mit seiner Offerte: Er sei bereit, eine gewisse Anzahl von LR-Kandidaten im ersten Durchgang zu unterstützen und ihre Wahl zu sichern, indem der RN in ihren Wahlkreisen keine Gegenkandidaten aufstelle.

LR solle nicht länger den Macronisten als „Krücke“ dienen, sagte Bardella in spöttischer Anspielung auf die Tatsache, dass Macrons Regierung, die über keine absolute Mehrheit verfügt, in der Nationalversammlung oft auf die Stimmen von LR-Abgeordneten angewiesen war. Dass Ciotti das Angebot für eine Wahlabsprache oder gar eine regelrechte Allianz sowie eine spätere Regierungszusammenarbeit nicht explizit abgelehnt hat, schockierte mehrere prominente Parteikollegen, die umgehend eine Klarstellung verlangten.

Die noch vor zwei Tagen arg zerstrittene Linke will den Schock wegen der angekündigten Neuwahlen in einen Elektroschock verwandeln, um die eigene Basis zu mobilisieren. Diese hat freilich nicht erst auf die Parteizentralen gewartet. In Paris, Toulouse, Nantes oder La Rochelle haben tausende junge Leute auch am Montagabend wieder gegen die nach der Macht greifende extreme Rechte und für eine Einheit der Linken demonstriert. Der Abgeordnete François Ruffin hatte als Erster vorgeschlagen, nach dem historischen Vorbild der 30er Jahre eine „Volksfront“ zu bilden.

In der Nacht auf den Dienstag machten die Sozialisten, Kommunisten, Grünen und LFI einen ersten Schritt in diese Richtung einer erneuerten Einheit. Grundsätzlich soll es in jedem der 577 Wahlkreise eine einzige und gemeinsame Kandidatur geben.

Programmatische Plattform

Eine zweite Etappe dieser Bündnispolitik stellen die laufenden Diskussionen über eine programmatische Plattform dar, die gegebenenfalls die Grundlage eines gemeinsamen Regierungsprogramms bilden könnte. Denn die vereinte Linke rechnet sich (wenngleich auch nur geringe) Chancen aus, anstelle der extremen Rechten eine Mehrheit erobern zu können.

Sobald es jedoch um ideologische und politische Gemeinsamkeiten geht, brechen auch wieder Differenzen auf. Vor allem, was internationale Fragen (Ukraine, Gaza/Israel) und die EU anbetrifft, aber auch zur Zukunft der Atomenergie oder der militärischen Aufrüstung bestehen weiterhin große Meinungsverschiedenheiten.

Raphaël Glucksmann, der Spitzenkandidat der Liste der Sozialisten und seines eigenen Politklubs Place publique, hat seine Zustimmung von fünf Bedingungen abhängig gemacht. Dazu gehört namentlich eine bedingungslose Unterstützung der Ukraine.

Vor allem LFI war keineswegs begeistert von seinem Vorschlag, den früheren CFDT-Gewerkschaftsboss Laurent Berger als parteiunabhängige und populäre, aber Macron-kompatible Persönlichkeit als eventuellen Premierminister der Linksunion vorzustellen. Am kommenden Wochenende organisieren die großen Gewerkschaftszen­tralen mit Unterstützung der linken politischen Organisationen eine Großkundgebung gegen eine Rechte, die diverse Rechte der Arbeiterbewegung infrage stellen dürfte.

In der von Macron aufgelösten Nationalversammlung wurden laufende Debatten abgebrochen. Die Gesetzesvorlage zur Legalisierung der Sterbehilfe, über die am Dienstag abgestimmt werden sollte, wird damit auf unbestimmte Zeit verschoben. Da sich die RN-Fraktion bisher dagegen ausgesprochen hatte, könnte diese umstrittene, aber sehr wichtige Reform im Fall ihres Siegs bei den Neuwahlen auf längere Zeit in der Schublade verschwinden.

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