Olympia in Paris 2024: Scheiß auf die Spiele!

Im Vorfeld des Sportspektakels werden in der Metropole Tausende aus prekären Unterkünften geräumt und mit Bussen in die Provinz gebracht.

Gesperrter Raum für Obdachlose unter dem pont Charles de Gaulle in Paris

Gesperrter Raum für Obdachlose unter dem pont Charles de Gaulle in Paris Foto: Stéphane Lagoutte/MYOP/laif

Eigentlich soll ein französisches Sommermärchen wahr werden, wenn am 26. Juli die Olympischen Spiele von Paris starten. Aber die Geschehnisse im Vorfeld gleichen doch eher Schauergeschichten – wie sie sich in fast allen Städten ereigneten, die in der Vergangenheit das Spektakel zu Gast hatten. Das sollte auch eine Mahnung an die Bevölkerung Berlins und Hamburgs sein, wo schon wieder über eine Olympiakandidatur fabuliert wird: Haut euren Lo­kal­po­li­ti­ke­r*in­nen auf die Finger, sollten sie nach den fünf Ringen grabschen – auch wenn sie tönen, es besser als die bisherigen Gast­ge­be­r*in­nen machen zu wollen.

Denn eben das behauptete man in Paris auch, aber dann gab es im letzten Jahr Razzien beim Organisationskomitee wegen Verdachts auf Vetternwirtschaft. Es stellte sich heraus, dass auf den Baustellen viele Papierlose unter miesen Bedingungen arbeiteten. Die Furcht vor Gentrifizierung greift selbst in den Banlieues um sich. Im März unkte der Präsident des Rechnungshofes, dass Olympia die öffentliche Hand stärker als bisher angenommen belasten werde. Besonders kostspielig: die Sicherheitsmaßnahmen, die im vom Terror mehrfach geplagten Paris nach dem islamistischen Attentat auf eine Moskauer Konzerthalle im März nochmal angezogen wurden.

Als wäre das nicht genug, trat ein Zusammenschluss aus über 80 Organisationen, die sich um Menschen in Notlagen kümmern, auf den Plan, das „La Revers de la médaille“ heißt. Wobei die deutsche Übersetzung des Namens noch viel treffender den Inhalt des Berichts beschreibt, den das Bündnis der Öffentlichkeit am Montag vorstellte: die sprichwörtliche Kehrseite der Medaille.

La Revers de la médaille beklagt, dass die Behörden anlässlich der Sommerspiele in den vergangenen 13 Monaten rund 12.500 Menschen aus prekären Behausungen rausgefegt haben – darunter viele mit unsicherem Aufenthaltsstatus, nicht wenige minderjährig. Unter anderem die Räumung zehn besetzter Häuser zwischen April 2023 und Mai 2024 und die von acht Hütten- und Zeltsiedlungen seit Anfang Februar stünden in direktem Zusammenhang mit Olympia, so das Bündnis.

„Soziale Säuberung“

Die Zwangsgeräumten wurden mit Bussen in provisorische Aufnahmezentren gekarrt, die in der Provinz kurzfristig eingerichtet worden sind. La Revers de la médaille ist sich sicher, dass die Fahrt dorthin nicht immer freiwillig angetreten wurde, oder dass die Betroffenen mit falschen Versprechungen aus Paris weggelockt wurden. Bündnissprecher Paul Alauzy spricht von „sozialer Säuberung“, die auch verstärkte Repressionen gegen Sex­ar­bei­te­r*in­nen und Drogenabhängige umfasse. Um der Welt ein makelloses Bild von Paris zu präsentieren, werde das Elend unter den Teppich gekehrt.

Auch darin unterscheidet sich Paris nicht von früheren Austragungsorten. Schon 2011 stellte die UN-Organisation Habitat fest, dass Sommerspielen, aber auch einer Fußball-WM oder anderen Großereignissen immer wieder die Räumung informeller Siedlungen, die Vertreibung von Obdachlosen und Straßenhändlern vorangeht. Bisweilen werden Olympiastadien und Athletenunterkünfte so geplant, dass ganze Wohnviertel weichen müssen.

In dieser Disziplin hält Peking den Weltrekord. Im Zuge der Spiele von 2008 wurden insgesamt 1,5 Millionen Menschen zwangsumgesiedelt. Aber nicht nur in Diktaturen beseelt der olympische Geist die Abrissbirne. Der Doppelwumms aus WM 2014 und Olympia 2016 erwischte die Häuser von 77.000 Favela-Bewohner*innen in Rio, und selbst die Planung der Spiele 2012 in London verlangte, dass 1.000 Menschen ihr bisheriges Zuhause – Sozialwohnung wie Studentenzimmer – aufgaben. Geräumt wurde zudem auch eine Roma-Siedlung, offenbar ein besonders leicht hingenommener Kollateralschaden. Gleiches geschah zuvor auch in Athen und in Barcelona, das als die Musterschülerin in Sachen festivalisierter Stadtentwicklung gilt.

Die ist inzwischen nicht mehr taufrisch, Rathäuser setzen aber weiterhin darauf, mithilfe von Sport- oder Kulturevents die eigene Kommune im globalen Städtewettbewerb um Kapital, qualifizierte Fachkräfte und Tou­ris­t*in­nen konkurrenzfähig zu halten. Die Sommerspiele waren bisher die Toptrophäe, weil ihre mediale Reichweite maximal ist. Zudem garantiert ihre Ausrichtung einen Riesenbatzen Geld aus den Staatskassen, mit dem dann plötzlich Infrastrukturen in Nullkommanichts aus dem Boden gestampft werden. Was auch gleich die ganze Nation stolz machen soll.

Exklusive Fahrstreifen

Doch tritt eine Stadtregierung in dem Moment, wo sie ihre Bewerbung über die Ziellinie bringt, die Hoheit über Teile ihres Verwaltungsgebiets an ein Konglomerat aus Sicherheitsapparaten und dem IOC ab, das die Planung der Spiele da längst in ein Korsett aus standardisierten Vorgaben gezwängt hat. Diese speisen sich aus Crowd-Management-Regeln, polizeilichen Erwägungen, Ansprüchen der Sponsoren, aber auch einfach aus den Vorlieben der IOC-Funktionäre – etwa für exklusive Fahrstreifen, auf denen die eigene Wagenkolonne am Pöbel vorbei zum Hotel rast.

Umso mehr erstaunt, dass linke Bürgermeister sich auf den ganzen Zirkus einlassen. Nach London wurden die Spiele vom einstigen Thatcher-Schreck Ken Livingstone geholt. Und die Sozialistin Anne Hidalgo saß auch schon vor neun Jahren im Hôtel de Ville, als die Pariser Olympiakandidatur glückte.

Damals musste sich Paris gar nicht in einer Kampfabstimmung um das Votum der IOC-Delegierten bemühen. Die Rivalinnen Rom, Budapest und Hamburg hatten ihre Kandidatur vorzeitig zurückgezogen. An der Elbe gab es sogar ein Referendum, bei dem die Mehrheit die Fortsetzung des Olympia­abenteuers untersagte. Blieb nur noch Los Angeles, das gleich die Spiele 2028 übergeholfen bekam, denn das IOC fürchtete in der nächsten Runde ganz ohne Bewerberinnen oder nur mit den Kapitalen autokratischer Regime dazustehen.

In Paris soll nun nichts Geringeres als eine Olympia­renaissance stattfinden. Damit genügend Platz für die zu erwartenden auswärtigen Übernachtungsgäste herrscht, „überredet“ die Zentralregierung, die für alle Notunterkünfte in Paris zuständig ist, in Hotelzimmern lebende Wohnungslose ebenfalls dazu, den Bus in die Provinz zu nehmen.

Baden gehen

Darüber kann Hidalgo nur sauer sein, denn noch vor einem Jahr behauptete sie, dass niemand wegen Olympia die Stadt verlassen müsse. Und schon lange fordert sie von Macron zusätzliche Notunterkünfte in Paris, angesichts der sich seit Jahren verschärfenden Wohnungsnot, die zu immer mehr Obdachlosigkeit geführt hat.

Mit der Bewerbung für Olympia hat sie sich aber einer Regierung ausgeliefert, die statt Obdachlosigkeit Obdachlose bekämpft und immer migrationsfeindlicher agiert. Am Ende ist es konsequent, dass sie mit Macron baden geht: am 23. Juni in der Seine. Beide wollen demonstrieren, dass nichts gegen olympische Schwimmwettbewerbe in dem Fluss spricht. In den sozialen Medien herrscht aber Verärgerung darüber, dass erst die Spiele kommen mussten, damit die Seine gereinigt wird. Deshalb kursiert im Netz unter dem Hashtag #JeChieDansLaSeine die Aufforderung, am 23. Juni in den Fluss zu kacken.

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