Autobiografie Wolfgang Schäubles: Spitzbübische Selbstdeutung
Hart, aber humorvoll: Die Erinnerungen von Wolfgang Schäuble machen spürbar, warum der Fast-Kanzler auch von Gegnern geschätzt wurde.
Entschuldigen Sie bitte, dass diese Rezension etwas später als das Buch erscheint. Aber schneller ging’s nicht. Man muss schon ein ziemlich enthusiastischer Politknerd mit großem historischen Interesse und viel Freizeit sein, um die 650-seitigen Erinnerungen von Wolfgang Schäuble an „Mein Leben in der Politik“ konstant lustvoll durchzuackern.
In manchen Passagen schwirrt einem schnell der Kopf vor lauter Fraktionsgeschäftsführern, Finanzministertreffen und nächtelangen Fiskalpaktberatungen. Doch so war sein Leben eben, und wer sich mit Schäuble durch die Verästelungen der Parteiendemokratie durchbeißt, wird reich belohnt, findet echte Perlen, ironische Spitzen, ein bisschen Selbstkritik und einen roten Faden: extrem leidensfähige Leidenschaft für Macht.
Der bekannteste Fast-Kanzler macht aus seinem brennenden Ehrgeiz und seiner Eitelkeit keinen Hehl. Er war sehr gerne wichtig – und er nahm viel dafür in Kauf. Es ist eindrucksvoll zu lesen, wie sich Schäuble 1990 nach dem Attentat, das zu seiner schweren Behinderung führte, „zurück ins Leben“ und schon im nächsten Kapitel „zurück in die Politik“ kämpfte.
Ungewöhnlich drastisch beschreibt er seine Zweifel, seine Angst, in der Öffentlichkeit aus dem Rollstuhl und aus seiner Rolle als starker Politiker zu fallen, und sein Bemühen seine Schwächen zu verbergen – auch als er an Krebs erkrankte.
Durchhalten und entscheiden
Doch Schäuble hielt durch und war an vielen zentralen Entscheidungen der jüngeren Geschichte, von der Einheit bis zur Eurokrise, direkt beteiligt. Aus dieser zähen Nähe zur Macht beziehen Schäubles Memoiren ihren Reiz und ihre Spannung.
Ohne seinen Rücktritt als Parteichef nach einer Lüge im CDU-Spendenskandal wäre die von ihm berufene Generalsekretärin Angela Merkel vielleicht nie oder erst später Kanzlerin geworden. Das Verhältnis zur Nachfolgerin und Chefin schwankt zwischen Achtung, auch Sympathie für die Person und Kritik an ihrem zögerlichen Führungsstil.
Ohne Schäuble wäre auch Olaf Scholz vielleicht nie ins Kanzleramt gekommen. Seinen Einsatz für den absehbar schwächeren Kandidaten Armin Laschet im Unionsduell mit Markus Söder erklärt Schäuble ziemlich unverhohlen mit purem, sturem CDU-Stolz und seiner Abneigung gegen die kraftmeiernde CSU, die sich von Strauß bis Söder durch das Buch zieht.
Viel lieber erinnert sich Schäuble an seinen Beitrag zur Bundestagsabstimmung für Berlin als Hauptstadt. „In dieser Frage sagen viele, was ich natürlich gerne höre, meine Rede habe eine entscheidende Rolle gespielt“, schreibt er. Weil er diesen Ruhm so sehr genoss, hätten seine Kinder später spöttisch vorgeschlagen, „ob wir nicht wieder einmal die Videokassette mit Papas Berlinrede abspielen sollten“.
Objekt einer Hassliebe
Dieser spitzbübische Witz blitzt immer wieder auf und macht auch erklärbar, warum kein anderer CDU-Politiker eine solch inbrünstige Hassliebe von vielen Linksliberalen erfahren hat.
Wolfgang Schäuble: „Erinnerungen. Mein Leben in der Politik“. Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 656 Seiten, 38 Euro
Der Mann, der die unsägliche Unterschriftensammlung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft auch im Rückblick noch verteidigt, der ohne erkennbare Not den Einsatz der Bundeswehr im Inland forderte und ohne erkennbares Mitgefühl die finanzielle Drangsalierung Griechenlands forcierte („Isch over“), hatte eben immer auch: Neugier auf die Argumente seiner Gegner und Freude am demokratischen Disput.
Die braven Jasager in den eigenen Reihen bestraft Schäuble mit Verachtung oder Nichterwähnung. Auch sein Freund Friedrich Merz kommt eher am Rande vor. Richtig persönlich wird es nur, wenn Schäuble den Einfluss seiner Frau Ingeborg beschreibt, die ihn vor seinem Zerwürfnis mit Helmut Kohl „Feigling“ nannte. Das wirkt nicht eitel, sondern ehrlich, respekt- und liebevoll. Schon dafür lohnt sich die Lektüre.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump erneut gewählt
Why though?
Harris-Niederlage bei den US-Wahlen
Die Lady muss warten
Pro und Contra zum Ampel-Streit
Sollen wir jetzt auch wählen?
US-Präsidentschaftswahlen
Die neue Epoche
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Protest in Unterwäsche im Iran
Die laute Haut