Politische Stereotypisierungen: Sinisterer Jude, fanatischer Araber

Wir alle sind mehr oder weniger von jahrhundertealten Vorurteilen geprägt. Sie vergiften die Konflikte um Israel, die Hamas und den Gazakrieg.

Ein muslimischer Mann mit verhülltem Gesicht und ein junger, othodoxer, jüdischer Mann zusammen

Den Stereotypisierungen entkommen wir nur schwer Foto: Milo Hess/zuma/imago

Weder bei kleinen noch den ganz großen existenziellen Fragen und Konflikten sollte man die Tatsache aus den Augen verlieren, dass das eine und das exakte Gegenteil richtig sein können. Früher nannte man das eine tragische Konstellation, heute spricht man gerne von Ambiguitäten, die bitte ausbalanciert werden sollen.

So ist einerseits wahr, dass der Begriff des „Antisemitismus“ heute zur proisraelischen Kriegspropaganda missbraucht wird, dazu, andere Stimmen einzuschüchtern und zu diffamieren. Während zugleich wahr ist, dass es Antisemitismus gibt und dass auch die Kriegskritik von Antisemitismus vergiftet sein kann. Die Netanjahu-Propagandaschleudern haben den Begriff aber sinnentleert und unbrauchbar gemacht.

Ebenso wahr ist, was Eva Illouz am Wochenende in einem großen Essay in der Süddeutschen Zeitung ausgeführt hat: Es wäre erstaunlich, schreibt sie, wenn in die Proteste gegen Israels Kriegsführung nicht auch die jahrtausendealte Grundierung des Antisemitismus eingehen würde. Sie unterstreicht ihr Argument mit jenen Konzepten der postkolonialen, aber auch der Cultural Studies, für die manche der Protestierenden doch ein gutes Sensorium haben müssten. Einer der wertvollsten Beiträge der kulturlinken Strömungen sei die Kritik an unbewussten, kulturellen Gewohnheiten gewesen, „an denen wir alle teilhaben“.

Tradierte Bilder und Stereotypisierungen haben Macht über uns – das gilt für alle Seiten

An Stereotypisierungen etwa, denen wir schwer entkommen. Diese Gewohnheiten haben ihre Ablagerungen in der Sprache und in den gängigen kulturellen Bildern, den Projektionen auf die Anderen – Schwarze, Frauen, Minderheiten. Schwer vorstellbar sei doch, dass das „nicht in noch größerem Maße auf die älteste Form von Hass zutreffen sollte, die es in der westlichen Kultur gibt, nämlich den Judenhass“.

Juden als Parasiten – so das Klischee

Der Jude, der das Blut von Kindern trinkt, der Jude, der einsickert in autochthone Kulturen, der Jude, der diese Kulturen von innen zersetzt, der Jude, der sich aneignet, was anderen gehört – all das schwingt, so Illouz, in maßlos überzogener „Israelkritik“ mit. Illouz spricht vom „tiefen kulturellen Gefühl, dass Juden für die Welt gefährlich sind“. Die Juden als Parasiten, als zersetzende Kraft, als sinistre Macht, der nicht zu trauen ist. Es sind diese Bestände, Restbestände, manchmal auch nur Schwundformen dessen, was mit dem Wort „Vorurteil“ nur unzureichend beschrieben ist, das in die Diskurse von heute eingeht. Und seien es nur Spurenelemente, die da wirken.

Das Erstaunliche an Illouz’ Text ist, dass sie mit keinem Wort darauf hinweist, dass ähnliche Strukturen auch bei den Maßlosigkeiten der anderen Seite ihre Bedeutung haben. Dabei ist das nicht nur frappierend und offensichtlich, sondern bietet auch viele Spuren und Nebenpfade, die für die gegenwärtige Situation erhellend sind.

Wir wissen nicht erst seit den Hoch-Zeiten der Kulturtheorien, nicht erst seit Edward Saids „Orientalismus“, dass im westlichen Bilder- und Stereotypefundus der verschlagene, arglistige und heimtückische, aber auch impulsive und unvernünftige Araber und Muslim einen zentralen Platz hat – neben dem zartfühlenden, weisen, friedliebenden Nomadenführer, der die seltene Rolle des „edlen Wilden“ einnimmt.

Das Lokale schwappt ins Globale und wieder zurück.

Tradierte Bilder und Stereotypisierungen haben Macht über uns, beschreibt Illouz richtig. Zugleich übersieht sie, dass das für alle Seiten gilt. Das ist umso bemerkenswerter, als es noch einen weiteren Punkt gibt, der nicht übersehen werden sollte: Die Verwobenheit von realem regionalen Konflikt, in dem „harte Fakten“ wie militärische Macht, Terrorismus, Landnahme genauso hineinspielen wie die kulturellen Stereotypisierungen sowie die Globalisierung von Konflikt, Gereiztheit, rassistischen Klischees und blankem Hass. Das Lokale schwappt ins Globale und wieder zurück. Das hat unter anderem auch mit der diasporischen Realität zu tun, die in einer Welt von Migration, Vermischung und Multikulturalität beinahe zur Regel geworden ist.

Fanatische Muslime – so das andere Klischee

Juden in Europa und in den USA werden einerseits von der israelischen Politik unter Druck gesetzt, sich zu dieser zu bekennen. Der Bekenntnisdruck herrscht in den Gemeinden, das bestialische Massaker durch die Hamas rief auch Traumata, Angst, Bedrohungsgefühle wach, ebenso Solidarität und Bunkermentalität. Zugleich werden Juden in der Diaspora regelmäßig schamlos für die Kriegsverbrechen der Netanjahu-Regierung mitverantwortlich gemacht.

Ganz ähnlich werden Muslime in Europa von islamistischen oder autoritären Regimes und Ideologen aufgestachelt, unter Bekenntnisdruck gesetzt und zugleich umgekehrt unter den Generalverdacht gestellt, mit Islamismus oder Terrorismus zu sympathisieren oder diesen wenigstens zu billigen. Kulturelle, traditionelle Bilder vom fanatischen, impulsiven, verrückten Muslim spielen auch hier eine Rolle.

Das ist unsere Realität und unsere Verrücktheit zugleich, aus der noch viele Irrsinnigkeiten folgen: etwa, dass Leute, die zugleich ihre antisemitischen als auch ihre antimuslimischen Klischees im Kopf haben, sich etwa auf die proisraelische Seite schlagen, weil sie einfach die Araber gerade noch ein bisschen mehr hassen als die Juden. Oder die Schablonisierungen, bei denen leicht erkennbar ist, dass sie wenig mit der Realität der Konflikt- und Gewaltgeschichte im Nahen Osten zu tun haben, sondern mit der Auseinandersetzung um die eigene Gewalt- und Schuldgeschichte, also des Holocaust in Deutschland, der brutalen Kolonialgeschichte etwa in Belgien, Frankreich und England. Oder mit den Verbrechen an den Indigenen in Amerika.

Das wird so holzschnittartig und dumm über die aktuelle Situation gestülpt, dass es schon richtig wehtut. Nur manchmal ist das auch ein bisschen lustig, beispielsweise wenn eine Strömung „antideutsch“ genannt wird, obwohl sie wahrscheinlich das „Deutscheste“ ist, was man sich vorstellen kann.

Gut, das war jetzt auch wieder ein Stereotyp.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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