Ein Mann hockt auf seinem Bett und zieht einen dunkelblauen Vorhang vor das Fenster in seinem Zimmer

Foto: Sophie Kirchner

Long Covid:Ausgebremst

Diego hat Long Covid. Seine Partnerin und seine Mutter sind für ihn da. Aber es ist schwer. Wie mit einer Krankheit umgehen, deren Ende niemand kennt?

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21.4.2024, 18:12  Uhr

An einem Tag im Mai 2023 spricht Diego mit seinem Vater am Telefon über den SSC Neapel. Der Fußballclub ist italienischer Meister, zum ersten Mal seit 1990. Diego ist Fan, der Verein die Leidenschaft der Familie. Sein Vater erzählt ihm vom letzten Sieg, einem 1:0 gegen den AC Florenz. Normalerweise versucht Diego, kein Spiel zu verpassen. Er sitzt auf der Bettkante im Haus seiner Mutter in Brandenburg, vor sich ein grüner Kaminofen, rechts das Fenster, die Vorhänge sind zugezogen. Zum spielentscheidenden Elfmeter ist sein Papa noch gar nicht gekommen, als Diego das Gespräch abbricht – die Kräfte haben ihn verlassen. Er zieht die Schlafmaske zur Seite, reibt sich die Augen. Das war’s für heute.

Diego, 28 Jahre alt, hat Long Covid. In Wirklichkeit heißt er anders, aber da er Nachteile befürchtet, wenn seine Krankheit öffentlich wird, möchte er sich und sein Umfeld mit Pseudonymen schützen. Gerade lebt er wieder bei seiner Mutter, weil er nicht für sich selbst sorgen kann. Er trägt eine Schlafmaske, weil schon schwaches Licht ihn blendet. Selbst die Farben auf seinem Handy überfordern ihn. Wenn draußen eine Krähe krächzt, zuckt er zusammen. Vor die Tür kann er nur mit Wattebausch im Ohr. Alles ist schrill, grell und vor allem: zu viel.

Diego ist kein Einzelfall. Doch noch immer ist nicht klar, wie viele Menschen von Long Covid betroffen sind. Studien gehen davon aus, dass etwa 6 bis 15 Prozent aller Corona-Infizierten daran erkranken. Eine absolute Schätzung lieferte das Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME). Demnach könnten im Zeitraum von Juni 2020 bis Juni 2023 bis zu 36 Millionen Eu­ro­päe­r:in­nen zwischenzeitlich an Long Covid erkrankt gewesen sein.

Diego leidet seit vierzehn Monaten unter der Krankheit. Seine Partnerin, seine Mutter und seine engsten Freunde sind für ihn da. Aber es ist nicht leicht. Vertraute Menschen wenden sich ab, seine Welt schrumpft. Diegos Geschichte ist die eines jungen Mannes, der kurz vor dem Sprung in die Rushhour des Lebens ausgebremst wird. Unterdessen beginnt in Deutschland zum ersten Mal eine Debatte über die Aufarbeitung einer Pandemie, die für Diego nie aufgehört hat. Wie kommen er und sein Umfeld zurecht mit der Krankheit, deren Ende niemand kennt?

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Im Januar 2023 lebt Diego noch das gewöhnliche Leben eines jungen Mannes in Berlin. Er geht schwimmen, radelt durch die Stadt, zieht nachts durch Bars. Vor ein paar Monaten hat er sein Studium in Politikwissenschaften und Soziologie abgeschlossen und hat seinen ersten „Erwachsenenjob“ in einer NGO für internationale Entwicklungszusammenarbeit. Er träumt davon, irgendwann einmal in Asien, Afrika oder Lateinamerika zu arbeiten. Wo, ist ihm eigentlich egal. Hauptsache mal weg.

Diego ist 1,80 Meter groß, trägt eine Brille, Schnurr- und Kinnbart und dichte Koteletten. Er hat Falten auf der Stirn, auch wenn er nicht spricht, so sieht er immer nachdenklich aus. Seine Partnerin Lina beschreibt ihn als aufgeweckt, gesellig und ehrgeizig, enge Freunde sagen, er sei stolz. Er selbst sieht sich als „Kopf-durch-die Wand-Typ“.

Diegos Mutter Marga ist 63 Jahre alt und Veterinärmedizinerin. Sie lebt in Brandenburg und kümmert sich dort um ihren Hund, ihre Pferde und ihren Garten. Sein Vater Matteo ist Erzieher und lebt in Berlin. Diego und er treffen sich oft, um die Spiele des SSC Neapel zu schauen. „Es ist unser Ritual und bedeutet mir viel“, sagt Diego. Matteo kommt aus Neapel und nimmt Diego jedes Jahr mit in die Heimat. Dort leben seine Großeltern und sein Onkel, Cousins und Cousinen.

Seine Partnerin Lina kennt er schon seit der Schule. Mit Anfang 20 ziehen beide vom Stadtrand nach Berlin. Während der Pandemie werden sie ein Paar. Im Februar 2023 verändert sich ihr Leben schlagartig, ohne dass sie es ahnen: Diego und Lina infizieren sich mit Corona. Diego lebt mit einer Mitbewohnerin in einer 2-Zimmer-WG. Sein Zimmer ist 12 Quadratmeter groß und geht zum Hinterhof raus, darin ein Bett, eine Couch, auf der er sich zur Hälfte ausstrecken kann, und Schreibtisch, Regal und Kleiderschrank. Hier quartieren Lina und er sich ein. Die meiste Zeit liegen sie auf dem Bett und hören Podcasts. „Dass wir es gleichzeitig hatten, fanden wir damals ganz praktisch“, erinnert sich Lina später bei einem Gespräch mit der taz im März 2024.

Diegos Verlauf ist mild: Er ist nicht erkältet und hat fast keine Schmerzen, fühlt sich nur müde und erschöpft. Lina geht es ähnlich, sie ist aber weniger schlapp. Innerhalb von einer Woche sind beide wieder negativ. Diego bringt Lina zum S-Bahnhof. Dann, auf dem Rückweg, hat Diego einen Schwindelanfall. Die Katastrophe beginnt.

Wochenlanges Tappen im Dunklen

Die genauen Ursachen für die Krankheit, die Diego in diesen Wochen befällt, sind noch immer nicht geklärt. Ein Großteil der Forschung zu den Langzeitfolgen von Corona geht von vier Hypothesen aus: Viruspersistenz, das heißt, das Virus verbleibt nach der Infektion latent im Körper; Autoimmunität, demnach löst das Virus eine Immunreaktion aus, die sich gegen den eigenen Körper richtet; Organschäden, das heißt, die akute Infektion führt zu langfristigen Veränderungen im Körper bis hin zu Organschäden; und schließlich reaktivierte Viren, demnach werden latente Viren wie Herpes durch die Covidinfektion wieder aktiv.

Die Hypothesen schließen sich nicht gegenseitig aus: Bei Betroffenen können sich medizinische Nachweise für mehrere dieser Prozesse finden. Deshalb versuchen Forschende, die Krankheit in unterschiedlichen Typen zu clustern. Je besser das gelingt, desto individueller können Betroffene behandelt werden. Doch noch ist es nicht so weit.

So tappt auch Diego wochenlang im Dunkeln. „Der Schwindel hat mich verunsichert. Aber es war das erste Mal Corona, ich wusste nicht, was normal ist und was nicht“, erinnert er sich rückblickend in dem Gespräch mit der taz im März 2024. Er sucht sich eine Hausärztin, sie schreibt ihn krank. Er arbeitet trotzdem ein bisschen. Als ihm zwei Wochen später immer noch schwindelig ist, macht er ein Elektrokardiogramm (EKG). Es misst die elektrische Aktivität seiner Herzmuskelfasern und wirft eine Kurve des Herzschlags auf den Bildschirm. Ärz­t:in­nen untersuchen anhaltenden Schwindel mit einem EKG, weil manchmal eine Herzrhythmusstörung die Ursache sein kann. Aber Diegos Herz ist gesund und sie schicken ihn nach Hause.

Zwei Wochen später landet er wieder im Krankenhaus. Dieses Mal in der Notaufnahme. Sein Herz pocht gegen seine Brust wie ein Presslufthammer. Er befürchtet eine Herzmuskelentzündung. Lina begleitet Diego in die Notaufnahme und zwei Freunde besuchen ihn dort, bringen Schokolade und ein Buch mit. Sechs Stunden später ist er wieder zu Hause. Sein Herz sei gesund, sagen die Ärz­t:in­nen wieder.

Inzwischen ist ein Monat seit der Corona-Infektion vergangen. Diego hat aufgehört zu rauchen und versucht wieder zu arbeiten. Doch schon nach zwei Tagen bricht er ab. „Ich sollte damals für unsere Webseite einen kurzen Text schreiben, so einen Fünfzeiler“, erinnert er sich. „Ich habe stundenlang auf den Monitor gestarrt und es einfach nicht geschafft.“

Er klappert weitere Ärzte ab. Beim Neurologen, ungefähr fünf Wochen nach der Infektion, zählt Diego wieder seine Symptome auf. Dieser Arzt spricht es als Erster aus: Long Covid. Aber vorsichtig und mit Bedacht, als Möglichkeit, nicht als Diagnose. Er möchte ihn beruhigen, erzählt ihm, dass sich 90 Prozent der Pa­ti­en­t:in­nen innerhalb von sechs Monaten erholen. Für Diego ein Schock. Er kann sich nicht vorstellen, so lange krank zu sein.

Später erzählt er Lina davon. Sie ist vor allem erleichtert, endlich eine Einschätzung von einer Fachperson zu haben. „Es hat mir richtig Angst gemacht, weil wir die ganze Zeit nicht wussten, woher der Schwindel und die Herzschmerzen kamen“, sagt Lina rückblickend. Marga, Diegos Mutter, fühlt sich in ihrer Befürchtung bestätigt. Für sie habe alles auf Long Covid hingedeutet. Auch wenn noch nichts sicher ist, haben sie nun etwas, an dem sie sich festhalten und in eigenen Recherchen abarbeiten können.

Unter dem Begriff Long Covid werden alle Symptome gefasst, die Infizierte vier Wochen nach der akuten Corona-Erkrankung haben und für die es keine andere wahrscheinlichere Erklärung gibt. Sprich: Long Covid ist aus medizinischer Sicht erst nach vier Wochen ein Thema. Dauern die Symptome drei Monate an, definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das als Post-Covid-Zustand. Umgangssprachlich spricht man trotzdem weiterhin von Long Covid.

Ein mann sitzt in seiner Küche, schaut nachdenklich und hält eine rote Tasse in den Händen

Diego in seiner Küche im April 2024 Foto: Sophie Kirchner

Die erste Reise und der erste Crash

Die WHO listet über 200 Symptome auf, darunter: Kurzatmigkeit und Brustschmerzen, Gliederschmerzen, Schlafstörungen, Gehirnnebel, Geruchs- und Geschmacksverlust und große Erschöpfung, auch Fatigue genannt. Auf Diego trifft vieles davon zu. Er leidet unter Fatigue, Reizempfindlichkeit und Gehirnnebel, der zu Konzentrationsschwierigkeiten und Wortfindungsstörungen führt. In besonders schlimmen Phasen leidet er zudem unter Schlafstörungen und Gliederschmerzen.

Nach der Diagnose hört sich Diego um. Dem einzigen Menschen in seinem Bekanntenkreis, der Long Covid hatte, ging es erst nach sechs Monaten besser. Diego denkt: „Wenn ich mich jetzt konsequent schone, geht das bei mir bestimmt schneller wieder vorbei.“

Anfangs geht die Strategie auf. So gut, dass er Ende April mit Matteo, seinem Vater, nach Neapel auf Familienbesuch fliegt. Seine Hausärztin rät ihm zur Reise, sagt, das werde ihm sicher gut tun. Diegos Mutter Marga ist skeptisch und fragt: „Glaubst du wirklich, dass das so klug ist?“ Aber Diego will mit, will rauskommen aus seiner geschrumpften Welt. In Neapel angekommen, fühlt er sich mal lebendig, mal erschöpft. „Einen Tag habe ich mit meinem Vater, Onkel und meinem Cousin verbracht. Wir sind manchmal acht bis zehn Kilometer gelaufen. Am nächsten Tag war ich fertig und auf dem Energielevel meiner Oma.“

Diego

„Es war das erste Mal Corona. Ich wusste nicht, was normal ist“

Nach einer Woche reisen Diego und Matteo zurück. Bis hierhin war die Reise gut verlaufen, doch am Flughafen von Neapel ist die Wartehalle klein und überfüllt. Alle plappern durch­ein­ander. Das Licht ist grell, die Luft stickig. Diego findet keinen Rückzugsort, kauert sich mit Kopfhörern in eine Ecke und starrt die Wand an. Sein Vater kümmert sich um Check-in und Gepäck.

Kurz vor Abflug kämpft Diego sich trotzdem durch den Duty-Free-Bereich zu einem Laden mit neapolitanischen Spezialitäten. Er kauft Büffelmozzarella für Lina und ignoriert dabei die Signale seines Körpers. „Ich konnte mir schon immer schwer eingestehen, krank zu sein. Meine Beziehung zu meinem Körper war ziemlich plump maskulin. Mein Körper hatte zu funktionieren“, sagt Diego im Rückblick.

In Berlin angekommen, rettet er sich irgendwie vom Flugzeug ins Uber und zu Lina, fällt bei ihr erschöpft ins Bett. Was folgt, ist sein erster Crash. Ein Begriff aus der englischsprachigen Long Covid Forschung, der den vollumfänglichen Zusammenbruch nach einer Überforderung des Körpers beschreibt. Diegos Haut kribbelt, seine Beine werden schwer, seine Sicht wird unklar. Jeder Reiz ist zu viel. Der Kontrollverlust macht Diego Angst. Was er da gerade durchlebt, nennt sich in der Fachsprache Post-Exertionelle-Malaise (PEM). PEM tritt meist einige Stunden nach einer Überanstrengung auf und hält Stunden, manchmal auch Tage an. Wer die eigene Belastungstoleranz zu sehr überschreitet, crasht.

„Es ist wie Lampenfieber vor einem großen Vortrag. Nur über Tage“, sagt Diego. „Und dazu ein Kater und eine Grippe.“ Auch Lina erinnert sich noch an den Abend: „Es war super hart, mit anzusehen, wie er so leidet, und gleichzeitig absolut nichts machen zu können.“ Am nächsten Tag ist Lina unterwegs, Diego schreibt ihr eine Nachricht:

Mein Körper sendet mir momentan einfach total weirde Signale. Aber ich mach einfach ruhig, mehr kann ich gerade nicht machen:)

Lina antwortet: Mhmm ja, das ist echt bescheuert, aber was anderes als dich schonen kannst du nicht machen. Das geht bald weg, I know it:)

Diego bleibt weiter bei Lina, kommt jedoch kaum aus dem Bett. Lina muss arbeiten und Diego sich eingestehen, dass er sich nicht um sich selbst kümmern kann. Er beschließt, seine Mutter zu fragen, ob er für eine Weile zu ihr ziehen kann. Sie wohnt in Brandenburg, dort gibt es einen Garten und weniger Lärm. Diego hofft, sich dort besser fallen lassen zu können.

Lina

„Es war super hart mit anzusehen, wie er so leidet“

„Ich bin sofort zur Tigermama geworden“, erinnert sich Marga an das Telefonat mit Diego. Als sie aufgelegt haben, fährt sie direkt los und holt ihn ab. In Brandenburg kocht sie für ihn, macht seine Wäsche, holt seine Medikamente von der Apotheke ab und fährt ihn zu Arztterminen. Damit Diego auch wortlos kommunizieren kann, hat er sich eine Kuscheltierqualle besorgt – zum Wenden, eine Seite rosa, die andere Seite blau. Liegt die Qualle rosa auf der Bettkante, geht es ihm gut. Das heißt, man kann mit ihm reden, er kann sogar telefonieren. Die blaue Qualle bedeutet, es geht ihm nicht gut, er braucht Ruhe. „Ich habe jeden Morgen um die Ecke geschielt, um zu sehen, welche Farbe die Qualle hat“, erinnert sich Marga. In diesen Tagen, ungefähr fünf Wochen nach dem Besuch beim Neurologen, ist sie meistens blau. Marga ist erschüttert.

An Blaue-Quallen-Tagen liegt Diego durchgehend im Bett. Selbst an Rosa-Quallen-Tagen geht er nur mit Ohropax vor die Tür und flüchtet in die Wohnung, sobald die erste Krähe kräht. Besonders an Rosa-Quallen-Tagen mutet er sich zu viel zu – und crasht. Wochenlang geht das so. Diego schreibt Lina aus Brandenburg eine Nachricht.Puh ey, gerade Hundespaziergang gemacht und ich bin so alle ey … Mich hat’s echt wieder richtig umgebummst.

Lina antwortet: Ich wünschte, ich könnt irgendwie was dagegen machen.

Ein mann steht an einer Ampelkrezung und blickt auf den Verkehr. Er trägt Ohrenschützer

Draußen bewegt sich Diego nur mit Kopfhörern, die den Lärm unterdrücken Foto: Sophie Kirchner

Diego übernimmt sich, weil er noch nicht realisiert, dass er vieles nicht mehr kann und vielleicht nie mehr können wird. „Ich konnte überhaupt nicht gut einschätzen, welche Situationen mich raushauen“, erinnert er sich. Und er ist eben dieser „Kopf-durch-die-Wand-Typ“, der im Steh-auf-Männchen-Modus gefangen ist: Sobald es ihm besser geht, wagt er wieder ein paar Schritte. Wenn ihm nicht schwindelig wird, ein paar mehr. „Wenn ich es die Wendeltreppe hinunter zum Esstisch schaffe“, denkt er, „dann vielleicht auch vor die Tür.“ Er habe das Leben mit Long Covid lernen müssen wie ein Kleinkind das Fahrradfahren. Auf die Fresse, Heulen, weiter. Schritt für Schritt lernt er so, dass er unter seiner Belastungsgrenze bleiben muss. Gerade dann, wenn es ihm besser zu gehen scheint.

Belastungsprobe für die Beziehung

Nach zwei Monaten bei seiner Mutter ist es so weit, er kann sich besser einschätzen, wieder für sich selbst sorgen. Also zieht er im Sommer 2023 zurück in sein WG-Zimmer nach Berlin. Dort schrumpft sein Leben auf 12 Quadratmeter Intimsphäre, getrennt von der Welt durch Fensterglas und Handybildschirm. Die Aussichtslosigkeit und die Ungewissheit belasten seine Beziehungen, auch die zu Lina. „Eben noch waren wir Ende 20, haben uns mit Freunden getroffen, sind ins Kino gegangen, haben uns gestritten und wieder vertragen, eine ganz normale Beziehung geführt“, sagt sie. „Plötzlich wurden wir in dieses neue Leben geworfen.“

Zu Beginn der Krankheit funktionierte sie nur, erledigte stoisch Alltägliches wie Einkäufe und Post und übernahm das Kümmern, ohne auf sich selbst zu achten. Dass auch sie an ihre Grenzen stößt, sie mitunter überschreitet, bemerkt sie erst später und oft zeitversetzt. Irgendwann wird es auch für sie zu viel. Sie traut sich nicht mehr, negative Gefühle zu kommunizieren, weil sie Diego nicht belasten will. Sie sucht im Internet nach Anlaufstellen für Angehörige, findet aber keine Selbsthilfegruppen in ihrer Nähe.

Manchmal würde Lina gerne ausbrechen aus der Enge des Zimmers, der Krankheit, der Beziehung. Aber sie will Diego nicht im Stich lassen. Tut sie es doch einmal, fühlt sie sich schlecht dabei. Die beiden streiten sich nun häufiger. Über Kleinigkeiten, etwa wenn Lina zu spät kommt oder Diego sich nicht nach Linas Wohlbefinden erkundigt. Aber eigentlich ging es um etwas Größeres, sagen sie heute. Um die Trauer über den Verlust von entspannter Zweisamkeit und die nagende Ungewissheit, ob sie jemals ihr altes Leben zurückbekommen.

Diegos Vater Matteo hingegen führt sein gewohntes Leben weiter. Außer, dass er seinen Sohn jetzt weniger sieht und das Fußballritual wegfällt. Sie telefonieren zwar noch oft, aber treffen kann er Diego nur noch in dessen Wohnung und das gefällt Matteo nicht, also sehen sie sich immer seltener. Diego glaubt, dass seine Krankheit seinem Vater Angst macht. „Es ist schmerzhaft zu sehen, dass er mit der Situation nicht umgehen kann.“

Gleichzeitig wird Diegos Bekanntenkreis kleiner. Nach seinem Umzug zurück nach Berlin merkt er, dass ihm nur noch eine Handvoll enger Freunde bleiben. Er trifft keine Menschen auf Geburtstags- und Familienfeiern mehr, lernt keine neuen Leute kennen. Bekannte erkundigen sich nach ihm, aber melden sich selten persönlich. Im Stich gelassen fühlt er sich von ihnen nicht. Alle wichtigen Menschen, außer seinem Vater, sind für ihn da. An den Rest stellt er keine großen Erwartungen. Als ein Freund gesammelte Videobotschaften von Freundesfreunden an ihn sendet, bricht Diego trotzdem in Tränen aus.

Irgendwann beginnt er, sich selbst zu informieren, tritt Long-Covid-Gruppen auf Facebook bei, telefoniert mit anderen Betroffenen. Wie viele andere wird er zu einer Art Laienexperte, weil ihm die Ärzte nicht weiterhelfen können.

Er recherchiert auf eigene Faust

Nachts im Bett, wenn er nicht einschlafen kann, obwohl er sich chronisch erschöpft fühlt – denkt er, dass er zurück zu seiner Mutter muss, und dort für den Rest seines Lebens im Erdgeschoss vor sich hin vegetieren wird. In diesen dunklen Stunden liest er viel über das chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS), das bei fast der Hälfte der Long-Covid-Patient:innen auftritt und von dem Diego und sein jetziger Arzt glauben, dass auch er betroffen sein könnte.

Die Multisystemerkrankung äußert sich in extremen, episodischen Erschöpfungszuständen und ist als die schwerste Form von Long Covid bekannt. Sie trat jedoch bereits lange vor der Pandemie auf, häufig als Folge von Virusinfektionen. Die Zahl der Betroffenen liegt Schätzungen zufolge etwa bei 0,1 bis 0,7 Prozent.

Die Weltgesundheitsorganisation hat das Syndrom bereits 1969 als neurologische Erkrankung klassifiziert. Das ist über 50 Jahre her. Doch noch immer gilt die genaue Ursache als ungeklärt. Deshalb streiten sich Ärzte auch über die richtige Behandlung. Ein Teil von ihnen rät Betroffenen, sich unter ihrer individuellen Belastungsgrenze zu bewegen. Das Konzept nennt sich Pacing, Englisch für „das Tempo angeben“. Die anderen empfehlen möglichst viel Aktivität, zum Beispiel körperlich herausfordernde Rehas.

Bis heute gibt es kein zugelassenes Medikament gegen ME/CFS – auch, weil die Forschung lange vernachlässigt wurde. Ein Beitrag im Wissenschaftsmagazin Science spricht von einer „Unterfinanzierung, die in keinem Verhältnis zur Langzeitbelastung der Betroffenen steht“. Betroffene wie Diego vermuten: „Hätte die medizinische Forschung früher mehr Zeit und Geld in die Erforschung von ME/CFS investiert, könnte einem großen Teil der Betroffenen heute besser geholfen werden.“ Nachweisen lässt sich das rückwirkend nicht.

Diego

„Ich stecke noch voll drin in den Gepflogenheiten der Pandemie“

Die Bundesregierung kündigte jedenfalls im November 2023 an, 180 Millionen Euro für die Erforschung von Long Covid und die Entwicklung medikamentöser Therapien bereit zu stellen. Das ist jedoch schwierig, solange die Forschenden die Unterformen nicht anhand sogenannter Biomarker, also messbarer biologischer Merkmale, die auf eine bestimmte Krankheit hindeuten, unterscheiden können. Deshalb werden derzeit nur sogenannte Off-Label-Medikamente zur Behandlung von Long Covid eingesetzt. Das sind Medikamente, die eigentlich für die Behandlung anderer Krankheiten zugelassen sind.

Diego hält die Symptome, das Warten und die Hilflosigkeit irgendwann nicht mehr aus. Auch er fängt an, sich mit Off-Label Medikamenten selbst zu behandeln. In Facebookgruppen, in Zeitungsartikeln, im Internet: Überall berichten Betroffene davon, welche Medikamente oder Behandlungen ihnen geholfen haben. Darunter auch Blutwäsche für mehrere Tausend Euro. Diego aber probiert sich erst mal durch alle möglichen Medikamente, für die er im Schnitt um die 150 Euro ausgibt. „Ich habe mich dabei gefühlt wie ein Lottospieler“, erinnert er sich später.

Zuerst nimmt er Antihistaminika. Sie sollen allergische Symptome wie Atemnot oder Hautausschlag lindern, die sich zum Teil mit Diegos leichteren Symptomen überschneiden. Sie schlagen an, aber es geht ihm nicht wirklich besser. Dann versucht er es mit niedrig dosiertem Naltrexon (LDN). Das Medikament wirkt entzündungshemmend. Aber er verträgt es nicht, bekommt Kopfschmerzen und Durchfall und ist noch erschöpfter als vorher. Als Nächstes empfiehlt ihm ein Arzt Statine. Auch sie wirken entzündungshemmend. Das Medikament verbessert seine Symptome, doch schon bald entwickelt Diego Nebenwirkungen wie Muskelschwäche. Er setzt es wieder ab. „Es ist schwer mit anzusehen, wie er abends seine Medikamentenschachtel vorsortiert“, sagt Lina.

Eine Krake aus Stoff auf einer Sofalehne

An guten Tagen stülpt Diego die Stoffkrake auf „fröhlich“ Foto: Sophie Kirchner

Selbstheilung und tiefe Dankbarkeit

Obwohl keines der Medikamente komplett anschlägt, fühlt er sich im Spätsommer besser. Diego und Lina fahren sogar eine Woche in den Schrebergarten von Linas Stiefvater, der direkt an der Havel liegt. Die Sonne scheint, alles ist grün. Diego nimmt Hummeln und Frösche wahr und erfreut sich daran. Er meditiert viel. Abends trinken Lina und er im Lokal nebenan Weinschorle.

Zum ersten Mal seit Neapel fühlt er sich wieder lebendig. Das ständige Mit-dem-Kopf-gegen-die-Wand-Rennen, das Nicht-Akzeptieren-Wollen – in diesem Moment kommt es ihm weit weg vor. Er empfindet eine so tiefe Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die ihm etwas bedeuten, dass er manchmal weinen muss. Kurz darauf findet er endlich einen Arzt, der sich wirklich mit Long Covid auszukennen scheint. Ein Lungenarzt, der selbst an Long Covid erkrankt ist, aber noch eingeschränkt arbeitet. Der Pneumologe spricht mit ihm auf Augenhöhe, das bedeutet Diego viel und er fühlt sich zum ersten Mal gut aufgehoben. Marga und Lina sind erleichtert.

Und auch mit Lina geht es wieder aufwärts. Es hilft, dass es ihm besser geht als im Frühsommer. Vor allem aber hat sie sich verändert. Sie nimmt sich mehr Freiheiten, weiß früher, wann sie eine Pause braucht und gestattet sie sich. „Wenn ich immer nur in der Verzweiflung drin bleibe, hilft das auch nichts“, sagt sie. Also vereinbart sie Grenzen mit sich selbst und hält sie ein, zum Beispiel einen Abend für sich zu haben, oder zu sagen: „Heute möchte ich nicht über die Krankheit reden.“

Auch Diego ist nicht mehr ganz der, der er mal war. Er sei sensibler und milder gegenüber sich selbst und anderen geworden, habe mehr Empathie mit älteren und schwächeren Menschen, sagt er im März 2024. Als ein Bekannter einmal meinte, dass eine Krankheit auch eine Chance sei, wurde er trotzdem wütend. „Eine Krankheit ist keine Chance, sondern eine fucking Einschränkung“, sagt Diego. „Es geht darum, einen gesunden Umgang damit zu finden, und das ist mir echt schwergefallen.“

Als chronisch Kranker auf Wohnungssuche

Und der nächste Kleinkrieg lauert schon im Briefkasten. Noch bekommt er Krankengeld, aber die Krankenkasse droht ihm damit, es vorzeitig zu streichen. Ihre Bedingung für eine Weiterzahlung: Er soll sofort eine Reha machen. Diese hatte er auf Anraten einer Ärztin im Frühsommer 2023 beantragt. Aber weil Diego auf Facebook gelesen hat, dass es vielen anderen Betroffenen nach einer Reha wieder schlechter ging, und sein Long-Covid-Arzt sich in Diegos Fall unsicher ist, weigert er sich.

Sein Streit mit der Krankenkasse findet in einem Klima statt, in dem erstmals öffentlich über die Aufarbeitung der Pandemie gestritten wird. Für Menschen wie Diego ist Corona jedoch nicht vorbei. „Ich trage immer noch Maske und mache immer noch Tests“, sagt er. „Ich stecke in den Gepflogenheiten der Pandemie noch voll drin.“ Er verstehe, dass die Gesellschaft erst mal Ruhe vor Corona wolle. Eine kritische Aufarbeitung im Sinne von: „Was haben wir da erlebt? Und was haben wir verloren?“ fände er trotzdem wichtig.

Auch die Wohnsituation bereitet Diego Sorge. Seine Mitbewohnerin verdient zum ersten Mal genug, um sich die Wohnung alleine leisten zu können. Für Diego bedeutet das: Wohnungssuche als chronisch Kranker. Zu WG-Castings kann er nicht gehen, und dass sich jemand auf seine Bewerbung meldet, bezweifelt er. „Ich bin im Schnitt 23 Stunden zu Hause, bin lärmempfindlich und liege viel im Bett. Bad und Küche kann ich putzen, aber danach brauche ich ein paar Tage Ruhe. Wer möchte so jemanden schon bei sich in der Wohnung haben?“, fragt sich Diego.

Nach einem Jahr Long Covid kann Diego sich nicht mehr vorstellen, wie es ist, komplett symptomfrei zu leben. Manchmal wacht er morgens auf und merkt bis auf einen leichten Tinnitus nichts weiter. Dann geht er einen Kaffee trinken und setzt sich für ein paar Minuten in die Sonne. Aber irgendwann kommen sie wieder angeschlichen, die Symptome. Er wird dann müde, setzt sich die Schlafmaske auf, steckt Ohropax ins Ohr und legt sich ins Bett.

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