Rundgang über die Biennale von Venedig: Feiert lieber die Vermengung
Die Hauptausstellung macht die Künstler des Globalen Südens fremder, als sie tatsächlich sind. Der deutsche Pavillon ist dagegen überwältigend.
Eine Flut an Bildern überfällt einen, als würde sich der ganze Globus während der nun eröffneten Kunstbiennale auf diese romantisch dahinrottende alte Seemachtsstadt verengen.
An den Wänden in den Gassen kündigen Poster an, was Venedig – und die vielen noch kommenden Besucher:innen – hier nun in den nächsten Monaten erwartet: Die blaue postapokalyptische Wüste eines Pierre Huyghe, der in der Sammlung des schwerreichen Franzosen François Pinault zu sehen ist. Äthiopiens erster Biennale-Auftritt überhaupt in Venedig mit den fein gezerrten, ockerfarbenen Figuren des Malers Tesfaye Urgessa.
Auch der im New Yorker Untergrund verschwundene Boris Lurie wird angekündigt. Der Holocaust-Überlebende Lurie, dessen radikale No-Art der 1960er Jahre so hart Kapitalismuskritik, Pornografie und Schoah verbindet, dass sie bislang in Kunstmuseen keinen Platz finden konnte. Und zwischen diesen dichten Eindrücken in den Straßen prangen die knallroten Flugblätter der Kunstaktivist:innen von ANGA, der Art Not Genocide Alliance.
„No Genocide Pavillon“ steht darauf, an den israelischen Pavillon gerichtet. Dessen Künstlerin Ruth Patir hatte ihre Ausstellung jetzt gar nicht erst eröffnet. Nur Patirs Video mit einem düsteren Demonstrationszug knollartiger Kreaturen – vermutlich die Mütter, die sie zum Thema ihres Beitrags machen wollte – lässt sich durch die Glaswand des israelischen Pavillons erspähen. Die Türen bleiben zu.
Kunstbiennale Venedig 2024:
bis 24. November
Als dann am Mittwoch bei der Voreröffnung ein Mob Demonstrant:innen vor den israelischen Pavillon in die sonnigen Giardini zog und im gut eintrainierten Rhytmus „Shut it down“ skandierte, war seine Parole eigentlich schon obsolet geworden.
Überschattet vom Gazakrieg
Der Gazakrieg, er überschattet diese Biennale. So sehr, dass der andere Krieg in Europa, der Angriff Russlands gegen die Ukraine, kaum mehr Beachtung findet. Wenn es nicht auch unter den 88 Länderpavillons der diesjährigen Ausgabe Solidaritätsbekundungen gäbe: Bei den Österreichern lässt Künstlerin Anna Jermolaewa ukrainische Balletttänzerinnen schon einmal den Schwanensee für den Regimewechsel in Russland proben.
Beeindruckend und bedrückend ist die Videoinstallation der ukrainischen Open Group im polnischen Pavillon. Einzelne Geflüchtete, groß auf die Rückwände projiziert, ahmen das Geräusch von russischem Kriegswerkzeug nach, um dann das Publikum zu bitten, den Klang zu wiederholen: „Sch sch sch sch trrrr“, „Gagagagagagakmm“ – allein der Versuch, die Wucht der Kampfgeräte mit dem eigenen Stimmorgan nachzuahmen, erschüttert.
Man kann sagen, diese ist eine Biennale der kulturellen Behauptungen. Jeffrey Gibson, der erste Indigene überhaupt, der den US-amerikanischen Pavillon bespielt, knüpft mit akribischer Dichte Glocken, Perlen und Fäden zu majestätischen folkloristischen Gestalten zusammen, bestickt sie mit Symbolen der indigenen Bürgerrechtsbewegung in den USA, um dann im letzten Raum eine Tänzerin in einem seiner farbprächtigen Gewänder in einen knallharten Technobeat aufgehen zu lassen.
Gibson stellt nicht den Anspruch auf kulturelle Eigenheit, sondern er feiert die Vermengung verschiedener Einflüsse zu etwas Neuem. Im albanischen Pavillon setzt Iva Lulashi auf weibliche Selbstbestimmung, wenn sie ihr Atelier nachbauen lässt. In dessen verwinkelten Kammern hängen ihre schlüpfrigen Malereien, Szenen aus Erotikfilmen, doch Sex erahnt man nur.
In diese Gemengelage setzt sich nun die geradezu sanfte Hauptausstellung der Biennale. Ihr Kurator, der Brasilianer Adriano Pedrosa, der auch in São Paulo das Kunstmuseum MASP leitet, lässt einen geschmeidig durch die mächtigen Hallen des Arsenals und durch den Hauptpavillon in den Giardini gleiten. Man gerät bei ihm in einen sinnlichen Fluss an Farben, abstrakten Formen, Miniaturmalereien, vorbei an den Hard-Edge-Malereien eines Mahmoud Sabri aus dem Irak der 1960er, an den textilen Wimmelbildern der anonymen Arpilleristas aus dem Chile der Pinochet-Diktatur.
Neue Medien meidet Adriano Pedrosa
Neue Medien, gar die immersiven Großinstallationen der letzten Biennalejahre meidet er. Stattdessen zeigt Pedrosa Kunst in klassischen Genres aus dem 20. Jahrhundert bis heute. Man kann einiges entdecken. Die voluminösen kubistischen Figuren der argentinischen Malerin Juana Elena Diz aus den 1960er Jahren.
Oder Fred Graham, ein Maori aus Neuseeland. In den frühen 1970er Jahren schnitzte er mythische Sprüche in industriell vorgefertigte Holzstücke und legte dabei eigensinnige Reliefkollagen an, die mit ihren geometrisch-repetitiven Konturen auch an den Bildhauer Constantin Brancusi erinnern können.
Sein Sohn Brett Graham bricht absolut ins Dreidimensionale aus: Ein hölzerner Karren steht mitten im Arsenal. Die Seitenbalken zu zwei riesigen Händen geformt, als würden sie gleich nach den Besucher:innen langen und sie in seinen mit Schlangenornamentik überzogenen Bauch ziehen. Fred und Brett Graham sind in Neuseeland prominent, hier kennt sie kaum einer.
„Foreigners Everywhere“ betitelt Adriano Pedrosa seine Schau, „Fremde überall“ auf Deutsch. Entlehnt hat Pedrosa diesen schönen Titel von der fiktiven Künstlerin Claire Fontaine, einer Konzeptkunstfigur des italienisch-britischen Duos Fulvia Carnevale und James Thornhill. Der Spruch prangt als rosafarbene Neonlichtskulptur über dem Eingang der Arsenale, hängt auch später noch einmal in vielen Sprachen und Farben von der mächtigen Werfthalle wie ein bunter Wortregen überm Gewässer.
Doch das gewitzte Sprachspiel von Claire Fontaine, das eigentlich alle zu Fremden macht, wird von Pedrosa in dieser Ausstellung wieder zurückgedreht. Er will Künstler:innen aus dem „Globalen Süden“ in Venedig zeigen, will den Fokus auf diejenigen legen, die über Dekaden von der westlichen Kunstwelt nicht beachtet wurden. Das ist ein gutes Anliegen.
Die Marginalisierten identifizieren
Doch Pedrosa muss die von der Kunstgeschichte Marginalisierten erst einmal identifizieren, sie vielleicht mehr zu Fremden machen, als sie es sind. Die vielen hundert Künstler:innen seiner Schau benennt er als queer, migrantisch oder als solche, die einer Geografie entstammen, die sich von Lateinamerika über Afrika – unter Aussparung Israels – bis nach Südostasien zum sogenannten Globalen Süden subsumiert.
Dabei scheint Pedrosa sich mit der Identität als künstlerischer Kategorie keinen Gefallen getan zu haben, visuell schön angeordnet, hängt die Kunst hier häufig in einem luftleeren Raum. Hätte Pedrosa die Übersehenen der jüngeren Kunstgeschichte nicht ganz selbstverständlich als Teil einer globalen Kunst positionieren können, ohne diese soziogeografische Trennlinien ziehen zu müssen?
Der deutsche Beitrag ist womöglich der aufwändigste auf dieser ganzen Biennale, und er ist der Kuratorin Cağla Ilk gelungen. Den Nazibau in den Giardini mit seiner braunen Vergangenheit hat Ilk noch brauner werden lassen, erdbraun, asbeststaubbraun, teerbraun. Theaterregisseur Ersan Mondtag hat das gesamte Innere in aschbraunen Staub getränkt. Staub aus Anatolien, wo sein Großvater geboren wurde, Asbeststaub aus einer Berliner Fabrik, in der sein Großvater als Gastarbeiter bis zur Erkrankung schuftete.
Vielleicht klappt ein Zusammenkommen
In der Apsis des nunmehr stickigen Tempels lässt die israelische Künstlerin Yael Bartana auf einer monumentalen Projektionsfläche ein mythisches Zeremoniell ablaufen. Priesterinnen und Fackelläufer beschwören in der heroischen Ästhetik von Leni Riefenstahls Olympiafilmen etwas Göttliches herauf. Das taucht auch tatsächlich auf: ein Raumschiff, ein dystopisch-utopisches Gefährt für eine Zivilisation im All nach der Apokalypse.
In diese überwältigende Szenerie rammt Ersan Mondtag schließlich einen vierstöckigen kleinen Bau. Darin befindet sich das Archiv über das harte Gastarbeiterleben seines Großvaters und eine Wohnung, eingerichtet im Mief der DDR. Es läuft anatolische Musik, fällt Geschirr auf den Boden, knarzt, während von Bartanas Raumschiff ein steter tiefer Bass die Halle erschüttert.
Eine Kakofonie, doch schwingt sie immer wieder in einen Einklang. Der Sound, er setzt eine warme Message in den braunen Staub: Womöglich klappt das doch mit dem Zusammenkommen, zunächst auf dieser Biennale, vielleicht auch in unseren Gesellschaften.
Anmerkung der Redaktion: In einer vorherigen Version dieses Texts wurde im Zusammenhang mit dem Beitrag der Künstlerin Anna Jermolaewa fälschlicherweise von einem spekulativen Sieg der Ukraine über Russland im jetzigen Ukrainekrieg gesprochen, gemeint war jedoch ein Regimewechsel in Russland.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video