Journalistisches Genre: Ode an die Kolumne
Anders als beim Kommentar sind die Autoren und Autorinnen von Kolumnen frei zu zweifeln. Sie bringen sich privat ein und dürfen aus der Reihe tanzen.
V on einer Kolumne darf man wohl erwarten, dass es dabei irgendwie „persönlich“ zugeht. Sonst könnte man ja einfach einen Kommentar oder einen Essay anbieten. An einem Rand dieses journalistischen oder auch metajournalistischen Genres sind die Kolumnen zu finden, die Einblick in das tatsächliche oder fiktionale Privatleben der Autorinnen und Autoren geben. Was es eben so an kulinarischen Erfahrungen, Stress mit Kindern oder Kolleg*innen oder Abenteuern in der Partymeile gibt.
Das kann man mögen oder auch weniger. Es tut unterm Strich immerhin kaum jemandem weh, wobei mein Mitgefühl den Familienmitgliedern gilt, die von einem der ihren als Material für launige Alltagspointen missbraucht werden. Am anderen Rand wird es gemein, unsachlich und beleidigend; die Kolumne als mehr oder weniger kultivierte „Hate Mail“. Seit der Programmreform kenne ich meinen ehemaligen Hausradiosender, den BR 2, nur noch vom Ausschalten.
Im Übrigen protestiere ich im Namen meiner Enkelgeneration gegen die Gleichsetzung von jung und doof. Na ja, auch so etwas kann man mögen oder weniger. Besonders hilfreich ist es eigentlich für niemanden. Wie man mit dem Persönlichen in der Thematik, in der Methodik oder im Stil umgeht, ist indes nicht nur eine Frage der Haltung des Autors, sondern auch eine des behandelten Objekts.
Darf ich, wenn ein Markus Söder aus China und Hintertupfing nur eher peinliche Fotos von sich selber mitbringt und ein Osterei mit seinem eigenen Konterfei im Internet versteigert, von einer narzisstisch gestörten Person sprechen oder sicherheitshalber von schlechter Beratung bei der politischen Selbstvermarktung? Wie persönlich darf man da werden, ohne sich selbst der Arroganz und Schadenfreude zu überführen oder ohne das Recht eines Menschen auf Eigenart und „Authentizität“ zu verletzen?
Persönliches aufdecken
Und umgekehrt: Wird nicht die Geschichte eines Tages urteilen über die Unfähigkeit einer Kritik, die charakterlichen und geistigen Defizite von Menschen erkannt und erklärt zu haben, die an den Schaltstellen der Macht sitzen? Darf, soll, muss man nicht fragen, was sich hinter den Masken der Macht und der medialen Clownerie verbirgt, nicht nur an Interessen oder Ideologien, sondern eben auch an „Persönlichem“?
Erich Fromm hat einst den Begriff einer „politischen Psychologie“ in die Debatte eingeführt, und von der anderen Seite her hat Lloyd DeMause eine Methode der „Fantasy Analysis“ vorgeschlagen, in der er zum Beispiel die Reden und Gesten von Politikerinnen und Politikern auf ihren emotionalen und bildhaften Kern untersuchte.
Man kann solche „psychohistorischen“ Untersuchungen auf die Vergangenheit anwenden, um von ihr zu lernen (für uns ist da wohl immer noch Klaus Theweleits Untersuchungen der vorfaschistischen „Männerphantasien“ musterhaft), aber mit einer gewissen Risikobereitschaft lässt sich dabei sogar ein gewisses prognostisches Potenzial erarbeiten.
DeMause hat das ziemlich überzeugend anhand einer Häufung von Begriffen wie „Opfer“ und „Blut“ in den Reden von Ronald Reagan als Ausdruck einer latenten Kriegsbereitschaft nachgewiesen, die sich dann prompt und übrigens wider alle Vernunft „entladen“ musste. Überdies beschrieb er anhand der „offiziellen“ Mitteilung aus dem Weißen Haus, im Juni 1986, es sei nun „bekannt“, dass Muammar al-Gaddafi homosexuell sei, einen der vielen Kurzschlüsse zwischen persönlicher Obsession und politischem – und schließlich militärischem – Handeln.
Kein Verbot für Fernanalysen
Dürfen wir die Reden von Vertretern unserer besorgten Rechten mit den Mitteln der Fantasy Analysis untersuchen? Diese Litaneien von dem, was „weg muss“, was man „sich wieder zurückholen“ will, von der „Umvolkung“ und „Vergiftung“, als kaum maskierte Mischungen aus Kastrationsängsten und Mordfantasien erkennen, oder dürfen wir, andersherum, aus Donald Trumps persönlichem Fehlverhalten auf die Schreckensherrschaft schließen, die womöglich mit seinem Wahlsieg beginnt?
Das theoretische Verbot der Ferndiagnose wurde von Harry Siegal, Professor für Psychologie an der Cornell-Universität, unlängst beherzt überschritten, als er in Donald Trump als „mentally challenged“ bezeichnete, was frei übersetzt: geistig verwirrt bedeutet, und Symptome an ihm beschrieb, die dem „Anfangsstadium einer Demenz“ entsprechen.
Das klingt, selbst wenn man für Trump keine Sympathien hegt, ziemlich übergriffig. Wer möchte schon wegen einer kleinen Wortfindungsschwäche, einer derben Bildungslücke oder gar wegen eines an Alzheimer erkrankten Vaters öffentlich so „behandelt“ werden? Doch auf der anderen Seite: Wer möchte von einem Menschen beherrscht werden, der nicht einmal mehr sein eigenes Gehirnkästchen in Ordnung halten kann?
Leider gibt es für das Eindringen in die Schnittflächen zwischen Psychologie und Politik, zwischen dem Persönlichen und dem Öffentlichen, keine verbindlichen Regeln. Die Sache steckt voller Tücken und Fallen. Und damit sind wir wieder bei der Textsorte Kolumne, die ihren Autorinnen und Autoren Freiheiten gibt, die anderswo mit guten Gründen nicht gewährt werden.
Rein ins wilde Feld
Denn nur in ihr kann ich bekennen, dass ich an einem Thema auch scheitern kann, dass am Ende einer Überlegung weder eine „Meinung“ noch eine „Überzeugung“ steht, etwa was die Notwendigkeit oder das Tabu von politischer Psychologie, Ferndiagnostik und Fantasy Analysis anbelangt, wohl aber eine „Haltung“: Man darf sich vor dem Problem nicht drücken. Man muss hinein in dieses wilde Feld zwischen dem Persönlichen und dem Politischen, aber man macht es auf eigene Verantwortung und auf eigenes Risiko.
Den Autokraten dieser Welt persönliche Psychosen zu unterstellen, ist gefährlich. Aber noch gefährlicher ist es, das Psychotische in ihrer politischen Performance zu verdrängen. Dies sagen zu können, habe ich der Textsorte Kolumne zu verdanken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ausschreitungen in Amsterdam
Ein hitziges Nachspiel
Linkspartei nominiert Spitzenduo
Hauptsache vor der „asozialen FDP“
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
Regierungskrise in Deutschland
Ampel kaputt!
Wählerwanderung in den USA
So viele Schwarze Stimmen
Angst nach den Angriffen in Amsterdam
Das waren Hetzjagden