Politikwissenschaftler über Milieustudie: „Eine dramatische Entwurzelung“
Die alten BRD-Parteien kommen vor allem in der Mitte der Gesellschaft immer weniger an. Weil sie nicht an einem Strang ziehen, sagt Robert Vehrkamp.
taz: Herr Vehrkamp, die Zustimmung zur Regierung ist wirklich mies, aber wir wissen ja: Umfragewerte sind bloß Umfragewerte, und die politische Lage schwankt sowieso immer stärker. Warum also sollten uns Zustimmungszahlen interessieren?
Senior Advisor im Programm „Demokratie und Zusammenhalt“ der Bertelsmann Stiftung und Gastprofessor am Institut für Demokratieforschung der Leuphana Universität in Lüneburg.
Robert Vehrkamp: Weil sie zwar keine verlässliche Prognose für künftiges Wahlverhalten mehr sind, aber weiterhin Stimmungsbilder zeigen, die sich verfestigen und politisches Denken und Handeln dann auch prägen können – am Ende auch das Wahlverhalten.
Was lesen Sie aus den aktuellen Sinus-Studien ab, die Sie soeben ausgewertet haben?
Unser zentraler Befund lautet: Wir haben ein erkennbares Problem in der gesellschaftlichen Mitte. Die gesellschaftliche Mitte verliert an Zukunftszuversicht und wird dadurch empfänglicher für Populismus, wendet sich zunehmend von den etablierten demokratischen Parteien ab.
In der taz befassen wir uns ja eher gern damit, die sogenannte Mitte zu dekonstruieren.
Es stimmt schon, die alte bürgerliche Mitte, wie wir sie kannten, gibt es nicht mehr. Die neue Mitte ist segmentierter und gespalten in ein nostalgisches und ein pragmatisches Milieu. Immer mehr Menschen treffen ihre Wahlentscheidung aber vor allem aus den Lebensrealitäten ihrer Milieus heraus. Feste Parteibindungen sind rückläufig. Der Erklärungswert der Milieus für das Wahlverhalten nimmt deshalb weiter zu.
Und diese neue, zweigeteilte Mitte will die mittigen Parteien nicht mehr?
Die Ampel hat ein wenig mehr verloren als andere Koalitionen zu diesem Zeitpunkt einer Legislaturperiode. Aber die Verluste der Ampel zahlen nur zum geringsten Teil auf das Konto von CDU und CSU ein – und zum viel größeren Teil auf das AfD-Konto und das des Wagenknecht-Bündnisses. Wenn Sie die Parteien der Bonner Republik zusammenzählen – also Union, FDP, SPD, Grüne –, kommen die in den beiden Mitte-Milieus auf gerade noch 50 Prozent Zustimmung. Und da sind die Nichtwählenden schon rausgerechnet. Es würde sich aktuell also nur etwa jeder dritte Wahlberechtigte für eine der Ampelparteien oder die Union entscheiden. Das ist eine dramatische Entwurzelung. Gleichzeitig sehen wir eine wieder deutlich stärkere soziale Konfliktlinie: Die Zustimmung zu den Bonner Parteien sammelt sich in den Milieus der oberen Mittelschicht und der Oberschicht. Die Mitte-unten-Milieus fühlen sich erkennbar entkoppelt.
Die Ampel als Elitenveranstaltung. Wie konnte das passieren?
Trübe Aussichten Nur noch jeder vierte (26 Prozent) der Menschen im nostalgisch-bürgerlichen Milieu, der traditionellen, von Abstiegsängsten bedrohten Mittelschicht, blickt optimistisch in die Zukunft. Der Verlust an Zuversicht seit 2022 fällt sowohl dort als auch im adaptiv-pragmatischen Milieu, der jungen und zielstrebigen Mitte, mit etwa 20 Prozentpunkten doppelt so hoch aus wie im Durchschnitt.
Schuldenbremse lockern Mehr Schulden aufzunehmen, fände eine Mehrheit der Menschen mit mittleren Einkommen in Ordnung, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass dieses Geld für zukunftsweisende Investitionen, wie Schulen, den öffentlichen Nahverkehr oder besseren Klimaschutz, verwendet würde. Den Angaben zufolge würden dann 73 Prozent der Befragten für eine höhere Schuldenaufnahme plädieren.
Keine Mehrheit für Ampel Von den „nostalgisch-bürgerlichen“ hätten Ende Februar nur 17 Prozent die Ampelparteien gewählt. 28 Prozent würden ihr Kreuz bei CDU und CSU machen, 34 Prozent bei der AfD und 9 Prozent bei der neuen Partei von Sahra Wagenknecht (BSW). Bei der veränderungsbereiten „adaptiv-pragmatischen Mitte“ käme die Ampel auf 26 Prozent, die Union auf 30 Prozent, die AfD auf 27 Prozent. Das BSW würde hier nur 4 Prozent holen, wenn bereits jetzt Bundestagswahl wäre. (taz, mit Material von dpa)
Die Elite fällt in einer Krise eben weicher als die Mittelschicht und die sozial prekären Milieus. Die Ampel wird aber auch für Dinge verantwortlich gemacht, für die sie nicht verantwortlich ist. Diese Regierung kann nichts dafür, dass Russland die Ukraine überfallen hat, aber sie bekommt die allgemeine Gereiztheit nach Corona voll zu spüren, verstärkt durch Inflation und sonstige Kriegsfolgen. Das wäre einer unionsgeführten Regierung nicht anders ergangen.
Sie beschreiben eine Spaltung, die der in den USA ähnelt – die Entkopplung, die populistische Neigung. Haben sich viele PolitikbeobachterInnen nicht nun monatelang an der tröstlichen Analyse des Soziologen Steffen Mau festgehalten, dass es die gesellschaftliche Spaltung eigentlich gar nicht gebe?
Wir sind nicht die USA, aber ich habe Maus Buch „Triggerpunkte“ schon etwas anders gelesen, nicht ganz so verharmlosend, wie es einige interpretiert haben. Die Autoren weisen ja durchaus darauf hin, dass es Triggerpunkte gibt und dass sie vermieden werden sollten – vor allem bei den Spaltungsthemen, wie Ungleichheit, Migration und Klima. Und wenn die Parteien das nicht beachten, kann das zu Spaltungen führen. Die öffentliche Diskussion über das Buch war mir da etwas zu abwiegelnd.
Worauf kommt es also an?
Auf die konstruktive Lösung der Probleme, die den Alltag der Menschen bestimmen, von denen sie genervt sind und nicht das Gefühl haben, die Parteien kümmern sich ausreichend darum. Unsere These ist deshalb, dass ein Miteinander der demokratischen Parteien besser wäre als gegenseitige Blockade und ständiger Streit. Die bisherigen Konfliktstrategien – innerhalb der Ampel, aber auch zwischen Ampel und Opposition – verstärken den Eindruck einer alltagsfernen Selbstbezogenheit der Parteien. Das zahlt sich vor allem für die populistischen und Rechtsaußen-Parteien aus.
Was wäre die Alternative?
Die Zinsen und Energiepreise sinken, die Inflation ist gestoppt und die Konjunktur könnte nächstes Jahr deutlich besser sein als dieses. Die demokratischen Parteien sollten diese Chance nutzen, die Stimmung in den Mitte-Milieus wieder zu drehen. Aber die Regierung muss etwas dafür tun, und die demokratische Opposition müsste auch etwas dafür tun, wenn sie von den Verlusten der Regierung stärker profitieren will als jetzt. Es braucht noch einmal ein großes Reformpaket mit Investitionen in Schulen, Verkehr, Krankenhäuser – also in Bereiche, die die Lebensrealität der Menschen prägen. Aber dazu muss die Schuldenbremse gelockert werden. Das geht nur mit der Union.
Glauben Sie dran?
Nein, deshalb muss die Ampel es allein hinkriegen, mit dem Haushalt 2025 noch einmal ein großes Reformpaket zu verbinden. Es ist vielleicht ihre letzte Chance, aber es ist eine!
Müssen wir uns nicht eigentlich an mehr demokratischen Streit gewöhnen, waren denn die Merkel-Jahre nicht eher unnormal streitlos?
Ja, das wird auch in Deutschland das „neue Normal“ werden – und in einer künftigen, vielleicht unionsgeführten Regierung nicht anders sein. Ein Merz als Kanzler, mit beispielsweise Söder und Kühnert im Kabinett, wäre jedenfalls nicht von vornherein konfliktfreier als die jetzige Ampel. In Mehrparteienkoalitionen müssen die Parteien untereinander leisten, was die alten Volksparteien früher innerparteilich geleistet haben. Wie das gehen kann, hat die Ampel in ihren Koalitionsverhandlungen vorgemacht. Der gelungene Verhandlungsprozess und der sehr gute Koalitionsvertrag sprechen für sich. Aber die Ampel hat das dann nicht hinreichend in den Regierungsalltag ihrer Koalitionspraxis übersetzt. Ihr Koalitionsmanagement ähnelt noch immer viel zu sehr der Regierungspraxis, mit der Helmut Kohl in den 80er und 90er Jahren seine schwarz-gelbe Lagerkoalition gemanagt hat. Das funktioniert aber nicht mehr.
Was schwebt Ihnen vor? Partys statt Koalitionsausschuss?
Genau! Und dann eine Studie zur Wirkung der Cannabis-Freigabe auf das Koalitionsklima (lacht). Aber im Ernst: Etwas mehr Koalition sollten die Ampelparteien schon wagen. Im Kanzleramt koordinierte Ressortabstimmungen und Koalitionsausschüsse sind für die Orchestrierung komplexer Mehrparteienkoalitionen einfach nicht mehr ausreichend. Die Koalitionsstrukturen müssten sehr viel stärker parlamentarisiert werden. Die Regierungsfraktionen müssen mehr miteinander zu tun bekommen, an gemeinsamen Themen arbeiten, sich für gemeinsame Themen auch gemeinsam verantwortlich fühlen. Interfraktionelle „Missionsausschüsse“ wären dafür ein Modell, in denen die Koalitionsfraktionen institutionalisiert, also laufend an ihren wichtigsten gemeinsamen Anliegen arbeiten.
Viele haben aus dem Dauerstreit den Schluss gezogen, dass es auf den Kanzler ankomme – der sei für Machtworte zuständig.
Das ist Adenauer-Nostalgie oder Schröder-Mythos, je nachdem! In einer polarisierten Mehrparteienkoalition kann es keine Basta-Kanzler mehr geben. Aus der Richtlinienkompetenz ist längst eine Moderationskompetenz geworden. Richtlinienentscheidungen des Kanzlers gibt es nur noch, wenn die Koalitionspartner quasi darum betteln, wie beim Atomausstieg. Mehrparteienkoalitionen ticken eben ganz anders als Einparteienregierungen oder Lagerkoalitionen. Die skandinavischen Länder haben seit Jahrzehnten viele Erfahrungen mit solchen Strukturen. Dazu gehört auch das Regieren mit flexiblen Mehrheiten, was ja bei uns immer irreführend als „Minderheitsregierung“ bezeichnet und damit von vornherein schlechtgeredet wird.
Also lieber eine rot-grüne Minderheitsregierung als die Ampel?
Nicht unbedingt, aber das Regieren mit flexiblen Mehrheiten als Instrument auch in Mehrheitskoalitionen zu nutzen, das sollten wir schon lernen!
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