Postkolonialismus und Shoah-Forschung: Wege aus der Dichotomie
Seit dem 7. Oktober tobt ein Pingpong der Vorwürfe: „Ihr seid Antisemiten“ versus „Ihr seid Rassisten“. Ein Plädoyer für mehr Differenzierung.
Seit dem Massaker der Hamas am 7.Oktober 2023 und dem Beginn von Israels zerstörerischer Kriegsführung in Gaza haben in Deutschland nicht nur die antisemitischen Vorfälle dramatisch zugenommen. Auch antiarabischer Rassismus und Abschiebeforderungen haben Hochkonjunktur. On top of that wird „der Postkolonialismus“ quer durch die Feuilletons als intellektuelle Brutstätte von Antisemitismus und Rechtfertigungsinstanz für die Untaten der Hamas dargestellt.
Derartige Beschreibungen kritischer Kolonialismusforschung, zu der neben postkolonialen Studien und dekolonialer Theorie vor allem die Imperial- und Kolonialgeschichte gehören, werden weder der Heterogenität des Feldes noch ihren riesigen Verdiensten für das Verständnis von Kolonialismus wie auch dessen Nachwirkungen gerecht.
Dennoch ist eine kritische Reflexion angebracht. Ich möchte folgende Ambivalenz betonen: Teile des Feldes totalisieren den Kolonialismus und seine Nachwirkungen zum „Hauptwiderspruch“, was zu einseitigen Sichtweisen auch auf Israel führt, an die Antisemitismus andocken kann. Gleichzeitig existieren zu allen strittigen Punkten Positionen, die deutlich differenzierter und progressiver sind als der deutsche Debatten-Mainstream.
Im Historiker:innenstreit 2.0, der bis vor Kurzem die Feuilletons beschäftigt hat, ging es maßgeblich darum, wie die Shoah aus kolonialismuskritischer Perspektive betrachtet wird. Autoren wie Michael Rothberg oder Dirk Moses wurde schon früh vorgeworfen, die Shoah zu relativieren.
Die Frage aller Fragen lautet in diesem Zusammenhang, wie groß der Abstand zwischen der Shoah und anderen Massenverbrechen ist. Imperialhistoriker:innen halten ihn für nicht groß genug, um die Shoah als unvergleichbar oder als eigene Kategorie jenseits der etablierten Verbrechenstypen des Völkerstrafrechts anzusehen. Dennoch ist die Differenz auch für sie bedeutsam. Dirk Moses und Jürgen Zimmerer etwa verstehen die Shoah als Extremfall von Massenverbrechen und betonen, dass sie gerade kein Verbrechen unter anderen war.
Richtung Extremfall
Dabei haben sich in den letzten 30 Jahren die Shoah-Historiografie, die (nichtdeutsche) Singularitätsdiskussion wie auch die Globalisierung der Shoah-Erinnerung allesamt in Richtung Extremfallkonzeption bewegt. Kaum jemand in diesen Bereichen bestreitet mehr, dass die Shoah substanziell ein Genozid war – also ein Exemplar einer übergeordneten Kategorie. Als singulär kann sie damit nur noch im Sinne des Extremfalls aufgefasst werden.
Vor diesem Hintergrund versteht die kritische Kolonialismusforschung die Shoah nicht als Bruch mit einer zuvor heilen Zivilisation. Vielmehr ist die von Anfang an vorhandene Gebrochenheit der westlichen Zivilisation in der Shoah auf die Spitze getrieben worden (Horkheimer und Adorno lassen grüßen). Statt eine Dichotomie von Gegenrationalität (Shoah) und Zweckrationalität (alle anderen Genozide) zu konstruieren, wird der Erlösungsantisemitismus der Nazis am Ende eines Kontinuums paranoider Feindkonstruktionen verortet, die den allermeisten Massenverbrechen zugrunde liegen.
Während derartige Shoah-Deutungen eine wichtige Bereicherung der deutschen Erinnerungskultur darstellen, wird es beim Verständnis von Antisemitismus (noch) komplizierter. Innerhalb der kritischen Kolonialismusforschung lassen sich zwei Sichtweisen auf Antisemitismus unterscheiden, die in der deutschen Diskussion regelmäßig durcheinandergeworfen werden.
Beide finden sich bereits in Frantz Fanons „Schwarze Haut, weiße Masken“ von 1952: einerseits die Auffassung, bei Antisemitismus handle es sich um eine „Familiengeschichte“ zwischen Weißen; anderseits die Position, Antisemitismus sei ein genuiner Rassismus, der mit derselben Entschiedenheit bekämpft werden muss wie der anti-Schwarze Rassismus.
Antisemitismus betrifft nur Weiße?
Die Konzeption der Familiengeschichte setzt voraus, dass Jüdinnen:Juden als weiß betrachtet werden. Damit werden nicht nur die Lebensrealitäten von Jewish People of Color übergangen. Da Weißsein mit Privilegien und Macht verbunden ist, schafft seine Verknüpfung mit Jüdinnen:Juden einen Resonanzraum für antisemitische Zuschreibungen jüdischer Übermacht. Wenn Antisemitismus ein Verhältnis zwischen Weißen ist, wird es auch unmöglich, islamistischen oder arabischen Antisemitismus in den Blick zu nehmen.
Dagegen hat W.E.B. Du Bois, nachdem er die Trümmer des Warschauer Ghettos besichtigt hatte, für ein Verständnis von Rassismus jenseits der „color line“ geworben, das Antisemitismus einschließt. Im (deutschen) Insistieren darauf, dass Antisemitismus kein Rassismus ist, wird regelmäßig eine Dichotomie zwischen „dem“ Antisemitismus und „dem“ Rassismus konstruiert, die weder antisemitischen Dynamiken noch der Heterogenität der verschiedenen Rassismen angemessen ist.
Zudem fehlt ein Argument, warum es innerhalb eines weiten Rassismusbegriffs nicht möglich sein sollte, Spezifika des Antisemitismus wie seinen verschwörungstheoretischen Exzess zu berücksichtigen. Dass Antisemitismus nicht in Rassismus aufgeht, ist trivial. Kein einziger Rassismus geht in seinem Allgemeinbegriff auf.
Zum Konflikt in Israel/Palästina existieren innerhalb der kritischen Kolonialismusforschung ebenfalls zwei unterschiedliche Tendenzen. Die von der australischen Erfahrung geprägten Settler Colonial Studies etwa betrachten Israel einseitig als Siedlungskolonie und messen seinem Charakter als Staat der Shoah-Überlebenden und Zufluchtsstätte vor Antisemitismus keine Relevanz bei.
In der politischen Verwendung legt ein derartiger Fokus eine Täter:innen/Opfer-Dichotomie nahe. Auf deren Grundlage sind nicht nur Rechtfertigungen des Hamas-Terrors möglich, auch dessen antisemitische Gehalte kommen nicht in den Blick.
Im Gefolge von Edward Said
Dagegen hat Edward Said bereits 1979 in „The Question of Palestine“ die Täter:innen/Opfer-Dichotomie überwunden, indem er die Palästinenser:innen zu „victims of victims“ erklärte. Said war in der Lage, seine Parteinahme für die palästinensische Sache mit einer Anerkennung jüdischen Leidens und der Bedeutung der Shoah zu verbinden.
In seinem Gefolge verstehen heutige palästinensische Intellektuelle wie Rashid Khalidi oder Raif Zreik den Konflikt genauso, wie es auch der sicher nicht „des Postkolonialismus“ verdächtige Dan Diner tut: Es handelt sich basal um einen zugleich nationalen und kolonialen Konflikt, wobei je nach historischer Situation mal die eine, mal die andere Dimension überwiegt.
Antisemitismus war dabei nicht nur Auslöser für den Zionismus als nationaler jüdischer Befreiungsbewegung in Europa. Seit den 1930er Jahren ist er auch zu einem inhärenten Bestandteil des Konflikts vor Ort geworden und hat nach 1948 zum Exodus von circa 900.000 Jüdinnen:Juden aus den arabischen Ländern und dem Iran beigetragen.
Die koloniale Dimension wiederum beschränkt sich keineswegs auf das Offensichtliche: die gewaltförmige Landnahme und segregierte Rechtsprechung im Zuge der israelischen Besatzung des Westjordanlandes seit 1967. Vielmehr hat sie den Konflikt seit Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt: Die zionistische Praxis des Landkaufs implizierte, indem das moderne Recht traditionelle Gewohnheitsrechte aushebelte, eine Verdrängung der ortsansässigen arabischen Bevölkerung. (Das Modell dafür war im Übrigen die „innere Kolonisierung“ von Westpreußen und Posen Ende des 19. Jahrhunderts mit ihrem Ziel, eine deutsche Bevölkerungsmehrheit zu schaffen.)
Das zentrale Argument
Diese sachlich vermittelte Gewalt schlug im Zuge des israelischen Unabhängigkeitskrieges von 1947/8 in unmittelbare Gewalt um, was zur Nakba, der Flucht und Vertreibung von circa 750.000 Palästinenser:innen führte.
Diner hat jüngst sogar Zreiks zentrales Argument übernommen. Die stärkste Legitimation Israels ist weder die Bibel noch die Shoah, sondern die Tatsache, dass mittlerweile Generationen von Jüdinnen:Juden dort geboren wurden. Siedler:innen, so Diner/Zreik, werden allerdings erst dann zu Natives, wenn sie den bisherigen Natives politische Selbstbestimmung und gleiche Rechte einräumen.
Seit dem 7.10. erleben wir in Deutschland ein Pingpong von Straße und Feuilleton: „Zionismus ist Kolonialismus und daher böse“ vs. „Zionismus ist gut und kann daher nichts mit Kolonialismus zu tun haben“, „Ihr seid Rassist:innen“ vs. „Ihr seid Antisemit:innen“. Die Diner-Zreik-Position, die auch schon in dieser Zeitung vertreten wurde, hat das Potenzial, die Konfrontation zu beenden. Sie schafft einen Rahmen, in dem sowohl für die jüdische Erfahrung von Antisemitismus und Shoah als auch die palästinensische von Kolonisierung und Nakba Platz ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge