piwik no script img

Verschärfte FlüchtlingspolitikKostenexplosion durch Bezahlkarte

Berlin will die Bezahlkarte für Asylbewerber angeblich nur zum Bürokratieabbau. Doch dafür ist sie etwas sehr teuer, wie eine Grünen-Anfrage ergibt.

So könnte es einfacher und billiger gehen: die Socialcard für Asylbwerber aus Hannover funktioniert an jedem Geldautomaten Foto: Jens Schulze/Imago

Berlin taz | Die Bezahlkarte für Asylbewerber könnte Berlin ein Vielfaches dessen kosten, was das Land bisher für die entsprechende Auszahlung von Bargeld ausgibt. Das geht aus der Antwort des Senats auf eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Jian Omar hervor, die der taz exklusiv vorliegt. Omar kommentierte die Antwort am Montag deutlich: „Angesichts der Tatsache, dass die Bezahlkarte das Land Berlin nach Schätzung einer bundesweiten Arbeitsgruppe voraussichtlich 10 Millionen Euro jährlich kosten wird, sind die in der Antwort dargestellten Zahlen zu den Kosten des jetzigen Systems alarmierend.“

Aktuell bekommen den Antworten von Integrationsstaatssekretär Aziz Bozkurt (SPD) zufolge rund 23.000 Asylbewerber in Berlin „Leistungen für den notwendigen persönlichen Bedarf“. Das ist das „Taschengeld“, das zusätzlich zum „notwendigen Bedarf“, also Miete, Heizung, Essen, Kleidung, gezahlt wird – in Berlin wie in den meisten Ländern und Kommunen noch als Bargeld oder Überweisung auf ein Konto.

Die im November von den Ministerpräsidenten vereinbarte Bezahlkarte war zuerst als Entlastung der Kommunen ins Spiel gebracht worden. Einige Bundesländer wie Bayern machten daraus dann ein angeblich probates Mittel, Migration zu begrenzen, indem Deutschland „unattraktiver“ gemacht wird. Dafür soll mit der Bezahlkarte der Bargeldanteil für Asylbewerber gesenkt werden, einen Teil ihres „Taschengelds“ sollen sie nur als Sachleistung erhalten. Zudem soll die Bezahlkarte verhindern, dass Asylbewerber Geld in ihre Heimat überweisen.

Kommunen dürfen selber entscheiden

Mehr Angriffe auf Flüchtlinge

In Berlin gab es im vorigen Jahr 42 Angriffe auf Flüchtlinge, deutlich mehr als in den Jahren zuvor (2022: 27, 2021: 31). Dabei wurden 49 Menschen geschädigt, 22 sogar verletzt. Die Polizei bestätigte am Montag gegenüber der taz diese Zahlen aus einem Artikel im Tagesspiegel. Grundlage seien Fallzahlen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes – Politisch motivierte Kriminalität. Daher beruhe die Erfassung der Taten, hier: gegen Flüchtlinge gerichtet, „auf der Zuordnung der Motivation des Täters“. Ob die Opfer tatsächlich Flüchtlinge sind, spielt hier also keine Rolle.

Bundesweit hat sich die Zahl der Übergriffe gegen Flüchtlinge im selben Zeitraum sogar fast verdoppelt von 1.248 auf 2.378. (sum)

Vergangene Woche entschied die Ministerpräsidentenkonferenz, dafür das Asylbewerberleistungsgesetz zu ändern. Die Änderung solle klarstellen, so Jian Omar, dass Kommunen selbst entscheiden können, ob sie eine Bezahlkarte mit Einschränkungen, eine ohne Einschränkungen oder weiter Bargeldzahlung wollen.

Der Senat hat wiederholt erklärt, dass er keine Beschränkung der Karte will, mit ihr auch keine Migrationssteuerung bezwecke, was laut Experten ohnehin unmöglich ist. „Wir wollen vereinfachen, wir wollen dadurch auch Bürokratie herunterfahren. Das ist das Ziel der Bezahlkarte“, erklärte CDU-Senatschef Kai Wegner Ende Februar.

Wenn es aber nur darum gehe, sagt Omar, sei es unverständlich, „warum der Regierende Bürgermeister eine Gesetzesänderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und eine einheitliche Bezahlkarte mit anderen Bundesländern fordert“. Eine nicht diskriminierende Bezahlkarte, die wie eine EC-Karte funktioniert, sei schon jetzt möglich, betonte Omar – die Stadt Hannover mache es vor. Wenn es dem Senat darum gehe, solle Berlin diesem Beispiel folgen, das „voraussichtlich kostengünstiger sein und die Verwaltung entlasten wird“.

Dagegen wird mit der Bezahlkarte das angebliche Ziel „Bürokratieabbau“ offenkundig teuer erkauft. So bekommen 16.200 Menschen in Berlin ihr „Taschengeld“ – zwischen 132 Euro für Kinder bis zu 204 Euro für alleinstehende Erwachsene – als Bargeldauszahlung, 7.000 Menschen auf ein Konto. Die Zahlstelle des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten für die Bargeldauszahlungen kostet das Land inklusive Personalausgaben jährlich 366.000 Euro.

10 Millionen Euro jährlich

Zu den prognostizierten Kosten der Bezahlkarte für Berlin steht in den Antworten des Senats keine konkrete Zahl. Sie würden „maßgeblich von der Beschaffenheit des im Rahmen des bundesweiten Vergabeverfahrens ausgewählten Angebots abhängen“. Allerdings geistert seit Monaten die Zahl von 10 Millionen Euro jährlich durch den politischen Raum. Eine Summe, die, so Omar, von einer Bundesarbeitsgruppe stamme, Integrationssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) habe sie im entsprechenden Fachausschuss bestätigt.

Auch der Flüchtlingsrat kritisiert die Karte weiterhin. Kostengünstiger und unbürokratischer wäre es, allen Geflüchteten die Einrichtung eines Basiskontos zu ermöglichen, sagt Sina Stach vom Flüchtlingsrat. „In puncto Verwaltungseffizienz macht ein Basiskonto auch insofern mehr Sinn, als es die In­ha­be­r*in­nen auch nach dem Wechsel der Leistungsstelle, etwa zum Jobcenter, weiter nutzen können.“

P.S. In der ursprünglichen Version hatte gestanden, dass die Kosten der Bezahlkarte mit 10 Millionen Euro pro Jahr sogar höher wären, als Asylbewerbern in Berlin tatsächlich ausgezahlt würde. Das ist falsch: Bei 16.300 Bargeldauszahlungen von 132 bis 204 Euro bekommen alle Berliner Asylbewerber im Monat maximal 3,3 Millionen Euro – das wären pro Jahr knapp 40 Millionen Euro. Richtig ist, dass die Bezahlkarte weit teurer wäre als das bisherige System.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Ich glaube, ihr habt euch verrechnet. Die Kosten (10 Millionen) sind pro Jahr, die Ausgaben (3,3 Millionen) sind, hoffe ich doch sehr, pro Monat. Die Aussage weiter unten, dass also die Kosten der Bezahlkarte höher sind als die damit aus bezahlten Beträge, stimmt also nicht.

    (Dass die Bezahlkarten erheblich teurer sind als das alte System, stimmt aber dennoch)

    • Susanne Memarnia , Autorin des Artikels, Redakteurin taz.Berlin
      @baumbaum:

      Ja, danke, das ist wirklich ein blöder Denk- und Rechenfehler gewesen. Ich habe das gerade korrigiert.

  • Die Bezahlkartenaktion der Politik hatte immer einen stark populistischen Einschlag. Und mit bürokratischen Institutionen, die schon scheitern, wenn Klimageld oder Coronahilfe an genau definierte Gruppen in Zeiträumen, die nicht nach Jahren zählen, überwiesen werden soll, kann es nicht überraschen, dass eine Bezahlkarte statt Bargeld eine himmelhohe Hürde für die Realisierung bedeutet. Ich rechne mit ersten "Erfolgen" etwa um 2026. Frühestens.

  • Stellt doch einfach mal das monatliche Taschengeld und den Stundensatz eines Beraters des technischen Dienstleisters für das Kartensystem nebeneinander.

  • Wie bei jeder aktuellen politischen Entscheidung darf man sich nicht fragen, welchen Sinn und Zweck sie hat.



    Man muss sich fragen wer davon profitiert.



    Ich meine jetzt nicht in der politischen Argumentation sondern tatsächlich profitiert.



    Also ganz klar: Wen macht die neue Regelung reich ?



    Und wer bekommt davon dann seinen Bakschisch.

    Und dann werden viele politische Entscheidungen der jüngsten Vergangenheit plötzlich nachvollziehbar und logisch.

    Aber dass ist ja sicher eine Verschwörungstheorie.