Pressefreiheit bedroht: Für oder gegen die Macht?
Wikileaks, FragDenStaat, Correctiv: Der Staat rückt der Freiheit auf die Pelle. Doch die, die sie verteidigen sollen, fördern oft den autoritären Turn.
Diese Woche häufen sich – mal wieder – die schlechten Nachrichten zu Grundrechten in der liberalen Demokratie, zur Presse- und Meinungsfreiheit.
Da haben wir den Gerichtsfall von Julian Assange. Der Wikileaks-Gründer war diese Woche in London Gegenstand einer Gerichtsverhandlung darüber, ob er in die USA ausgeliefert werden soll, wo ihm eine langjährige Haftstrafe und, wie manche befürchten, sogar die Todesstrafe droht. All das, weil Assange geheime Dokumente veröffentlichte – und Beweise für Kriegsverbrechen der USA.
Zweitens haben wir den Fall des Journalisten Arne Semsrott, Leiter der Enthüllungsplattform FragDenStaat. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat gegen Semsrott Anklage erhoben. Sie wirft ihm vor, drei Dokumente aus einem laufenden Ermittlungsverfahren veröffentlicht zu haben. Dieses Verfahren berührt auch die Presse- und Meinungsfreiheit. Es ging um die Überwachung der Aktivist:innen der Letzten Generation und ihrer Telefongespräche mit Journalist:innen.
Auch Correctiv steht vor Gericht. Das Recherchenetzwerk, das die Potsdamer Konferenz aufdeckte, auf der Rechte verschiedenster Schattierungen über die Ausweisung von Migrant:innen und Linken diskutierten, wird von mehreren Teilnehmern mit sieben eidesstattlichen Erklärungen angegriffen: Die Recherche sei völlig aus der Luft gegriffen. Correctiv wehrt sich mit acht eidesstattlichen Versicherungen.
Investigativjournalismus rechtlich schlecht geschützt
Über diesen Zirkus wird ein Gericht entscheiden. Es wird ein bahnbrechendes Urteil werden, denn schon heute steht es um den rechtlichen Schutz des Investigativjournalismus vor Klagen nicht zum Besten.
Überall steht die Frage im Zentrum: Können Journalist:innen ihrer Aufgabe als vierte Gewalt, dem Staat auf die Finger zu schauen und freie Meinungsbildung zu garantieren, noch nachkommen?
Manche monieren, Semsrott und FragDenStaat hätten es darauf angelegt, angeklagt zu werden, um so mehr Aufmerksamkeit auf das Thema Informationsfreiheit zu lenken. Gut so! Der Zugriff des Staats auf politische Gruppen und auf die Presse hat in den letzten Jahren zugenommen. Er muss zurückgedrängt werden, gerade weil wir der gravierenderen Gefahr ins Auge sehen, bei den vielen Wahlen in diesem Jahr rechte Mehrheiten zu bekommen.
Regierungen mit AfD-Beteiligung oder solche unter der sich nicht klar demokratisch positionierenden Merz-Söder-Union verheißen nichts Gutes für die Freiheit.
Autoritäre Forderungen
Deswegen ist die Kurzsichtigkeit vieler Journalist:innen bemerkenswert. Statt für die Freiheiten, die wir in den kommenden düsteren Jahren dringend brauchen werden, zu kämpfen, fordern viele, fundamentale Rechte einzuschränken.
Selbst in der taz, einer Zeitung, die aus einem autoritätskritischen Impetus gegründet wurde und die sich für Freiheiten und gegen staatliche Repression eingesetzt hat, finden sich plötzlich autoritäre Forderungen: Man müsse „alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten ausschöpfen“, um politisch Unliebsamen „Angst“ zu machen.
Ein Akt beeindruckender Orwell’scher Gedankenakrobatik erschien letzte Woche auf der Meinungsseite: Meinungsfreiheit sei wichtig, Antisemitismus jedoch sei keine Meinung. Antisemitismus ist degoutant und gefährlich, doch die Forderung, durch Sprachspielchen gewisse Ansichten aus dem Grundrechteschutz herauszudefinieren, ist es ebenfalls. Wer legt fest, was eine Meinung ist? Schon morgen könnte es ein AfD-Innenministerium sein.
Anderes Beispiel: Heute sind sich viele sicher, dass „From the river to the sea“ nur die schlimmstmögliche Bedeutung hat – die Vernichtung Israels. Darum dürfe die Parole nicht öffentlich geäußert werden; wer es doch tue, verdiene es, verhaftet und sogar abgeschoben zu werden. Dass die, die diese Parole nutzen, sagen, dass sie damit keinen Völkermord befürworten, sondern den Wunsch ausdrücken, alle Menschen in Israel und Palästina mögen friedlich und ohne Unterdrückung zusammenleben können, ist egal. Der Interpretationsspielraum ist offenbar weit.
In einer Demokratie müsste man diese Uneindeutigkeit aushalten, man würde debattieren und diskutieren. Nicht: verbieten. Wer Zeitungen voll geschrieben hat mit Forderungen nach „strafrechtlichen Konsequenzen, die abschrecken“, darf sich nicht wundern, wenn eine AfD- oder eine CDU-Regierung die Argumente eins zu eins darauf anwendet, etwa den beliebten Demospruch „Deutschland verrecke“ strafrechtlich zu verfolgen.
Wie also weiter mit der vierten Gewalt? Im Sinne von Julian Assange, Arne Semsrott und Correctiv der Macht auf die Finger schauen, gerade dann, wenn sie es nicht will? Oder sollen Journalist:innen nur noch das schreiben, was den Mächtigen und dem Staat ohnehin gerade in den Kram passt, und die Autorität anbetteln, doch bitte, bitte deren Gegner noch härter zu strafen? Das ist arg. Wenn Journalist:innen selbst zu Claqueuren des autoritären Turns werden, kann man sich in der Verteidigung der Demokratie nicht mehr auf sie verlassen.
Leser*innenkommentare
2422 (Profil gelöscht)
Gast
Es geht mir nicht darum, was mit Netanjahu wird. Mir geht es um den Vorwurf des Antisemitismus. Ist es für Sie also in Ordnung, wenn Likud "From the River to the Sea" vertritt und damit die Okkupation rechtfertigt?
wirklich?
Manche meinen? Frag den Staat selbst meint das, sie wollen einen Präzedenzfall schaffen. Ich finde das gut. Trotzdem ist die Darstellung hier nicht richtig.
Jim Hawkins
" Meinungsfreiheit sei wichtig, Antisemitismus jedoch sei keine Meinung. Antisemitismus ist degoutant und gefährlich, doch die Forderung, durch Sprachspielchen gewisse Ansichten aus dem Grundrechteschutz herauszudefinieren, ist es ebenfalls. Wer legt fest, was eine Meinung ist? "
Tja, wer legt das fest? Wenn ich sage, dass manche "Rassen" im Vergleich zu anderen "Rassen" minderwertig sind, ist das dann eben nur meine Meinung?
"From the river to the sea" ist selbstverständlich nur der Herzenswunsch von Hamas, den Palästinensern und den "Queers for palestine", dass alle Menschen in einem friedlichen Staat zusammenleben sollen. Klar, und der Mond ist aus Käse.
2422 (Profil gelöscht)
Gast
@Jim Hawkins Aus dem Programm der Likud-Partei:"Between the Sea and the Jordan there will only be Israeli sovereignty".
(Quelle: www.jewishvirtuall..._content=cmp-true)
Henriette Bimmelbahn
@2422 (Profil gelöscht) Nun, wie jede gute Parole ist der Spruch mehrdeutig. www.nzz.ch/interna...sch-ist-ld.1765614
"Die Geschichte des Spruchs ist von Gewalt geprägt" Erstmals von der PLO in den 1960ern als Forderung für ein Palästina - ohne Israel - zwischen Jordan und Mittelmeer verwendet, übernahm der Likud 1977 einen Teil des Slogans, dass zwischen Jordan und Mittelmeer ausschließlich israelische Souveränität herrschen sollte. 2017 übernahm den Spruch die Hamas in ihr neues Grundsatzprogramm, die ihn als Aufruf Israel zu vernichten verwendet.
Während also die Hamas zum Genozid aufruft, hat das Likudprogramm *nirgendwo* dazu aufgerufen.
Wenn die Parole also *während* eines von der Hamas begonnen Krieges mit der Palästinaflagge zusammen verwendet wird, gibt's nix mehr zu deuteln.
Jim Hawkins
@2422 (Profil gelöscht) Das ist das Programm von 1977.
2422 (Profil gelöscht)
Gast
@Jim Hawkins Bingo! Und ist noch heute LikudPolitik:
www.thenation.com/...-river-to-the-sea/
Jim Hawkins
@2422 (Profil gelöscht) Sei's drum, Netanjahu wird bald Geschichte sein.
Rudolf Fissner
@Jim Hawkins Netanjahu ist der aktuell Hauptverantwortliche für das versagen der israelischen Regierung im Umgang mit der Terrororganisation Hamas und den Bombardierungen des Gaza.
Die Wunden sind in Israel wie im Gaza so tief, dass es Jahrzehnte braucht bis es "Geschichte ist"
Likuds Ziele und die die Ziele der nationalisten und Siedler kann man nicht billig mit "Netanjahu" wegwischen. Er ist nur die aufführende Hand.
Jim Hawkins
@Rudolf Fissner Unterschätzen Sie nicht die Dynamik der israelischen Gesellschaft und der dortigen Politik.
Jetzt sind dort alles und alle im Ausnahmezustand. Wenn sich der Rauch gelegt hat, stehen Netanjahu und die seinen ganz schnell im Fokus und dann ist Ende Gelände.
Sagt Tzipi Livni, sagt Michael Wolffsohn, sagt Richard C. Schneider, sagen noch andere Berufene.
Rudolf Fissner
@Jim Hawkins Livni stand der Partei Kadima vor.
Einer der Grundsätze der Partei lautet laut Wikigedöns
"Die israelische Nation hat ein historisches Recht auf ganz Eretz Israel. Dennoch muss ein Teil ihres Territoriums aufgegeben werden, um einen demokratischen Staat mit mehrheitlich jüdischem Staatsvolk zu erhalten. Jerusalem und die großen Siedlungen im Westjordanland bleiben Teile Israels."
Levi steht für staatlich legitimierten Landraub im Westjordanland und für eine nationalistische Groß-Israel-Politik.
Levni ist kein Hoffnungsbringer, dass Israel sich ändern wird.Und auch Wolffsohn und Schneider haben von der deutschen Warte aus nicht genügend Glaskugeln, Versprechungen zur zukünftigen israelischen Politik zu machen.
Jim Hawkins
@Rudolf Fissner Sie können und wollen es sich eben nicht vorstellen können, dass sich in Israel etwas zum Guten bewegt.
Diese Art von Obsession teilen Sie mit vielen Zeitgenossen, es ist in weiten Kreisen Konsens, wie man jetzt wieder am Beifall auf der Berlinale gesehen hat.
Nur, gegen Obsessionen komme ich nicht an. Ich habe es oft versucht, es ist aber sinnlos.
Deshalb gebe ich mir in solchen Fällen keine große Mühe mehr.
Rudolf Fissner
@Jim Hawkins Die Verurteilung von Landraub und jahrzehntelanger Besetzung soll eine Obsession sein? In welche brave new World wird denn so gedacht?
Es ist es grundfalsch ist, sich nicht davon distanzieren zu können, Land 70 Jahre zu besetzen, die Menschen dort zu vertreiben und das Land mit eigenen Siedlungen in Beschlag zu nehmen.
Wenn man Menschen genannt bekommt, die das auch noch vertreten, als Zeugnis für eine gute Zukunft für Israel und die Palästinenser präsentieren, dann kann ich nur ungläubig den Kopf schütteln.
Mit Levni haben Sie solch eine Person genannt
Die nationalistische Siedlerposition ist die größte Gefahr für Israel. Sie bedingt Feindschaft mit jenen, deren Land man sich illegal aneignen will.
Jim Hawkins
@Rudolf Fissner Ich nehme mal an, mit diesen "70 Jahren" meinen Sie die Gründung Israels, oder?