Schönheit und Öffentlichkeit: „Scham ist ein mächtiges Instrument“
Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, werden permanent auf Äußerlichkeiten angesprochen und verspottet, sagt die grüne Bundestagsabgeordnete Tessa Ganserer.
taz: Frau Ganserer, was ist für Sie Schönheit?
Tessa Ganserer: Schöne Menschen bringen in meinem tiefsten Inneren etwas zum Schwingen. Es geht gar nicht darum, dass diese Menschen aussehen, wie uns das irgendwelche Hochglanzbroschüren glauben machen wollen. Sondern schöne Menschen leuchten im Inneren.
Dieser Text ist Teil der Sonderausgabe zum feministischen Kampftag am 8. März 2024, in der wir uns mit den Themen Schönheit und Selbstbestimmung beschäftigen. Weitere Texte finden Sie hier in unserem Schwerpunkt Feministischer Kapmpftag.
Was macht Schönheit bei Ihnen selbst aus?
Oh Gott, ich sehe schon wieder manche schäumen, wenn ich darauf antworte. Eigentlich habe ich auch gar keine Lust, zu antworten, weil ich es so leid bin, dass mein Frausein ständig in Frage gestellt wird. Aber gut: Wenn ich in den Spiegel schaue und sehe, dass meine Augen strahlen, wenn ich schmunzle, weil es mir gerade gut geht, dann gefalle ich mir. Dann bin ich auch in der Lage, wirklich frei zu entscheiden, wonach mir ist. Was ich zum Beispiel tragen möchte, wie ich aussehen möchte.
Sie sind nicht immer in der Lage, das frei zu entscheiden?
Ich finde es extrem hart, wie sehr uns gesellschaftliche Normen einbläuen möchten, was wir als schön zu empfinden haben. Wenn ich ehrlich bin, kann ich wahrscheinlich selbst nicht immer auseinanderhalten, ob ich gerade wirklich etwas schön finde oder ob ich einfach so geprägt davon bin, was mir und uns subtil täglich vermittelt wird und was ich deshalb sicher auch selbst zu reproduzieren versuche. Gerade Frauen werden in unserer Gesellschaft viel mehr als männlich gelesene Personen an ihrem Äußeren bewertet und müssen sich viel mehr damit beschäftigen, was schön ist und ob sie diesen Idealen genügen.
46, ist seit 1998 Mitglied der Grünen und war lange Abgeordnete im bayerischen Landtag. 2019 machte sie ihre Identität als Frau öffentlich, 2021 zog sie als eine der beiden ersten offen trans lebenden Abgeordneten in den Bundestag ein. Ganserer ist Försterin.
Sie haben selbst lange in einer männlichen Rolle gelebt. Hätte sich die Frage nach Schönheit damals für Sie anders angefühlt?
Ich habe lange versucht, eine Rolle zu leben und auszufüllen, die mir von außen zugeschrieben worden ist, die aber nicht meinem Innersten entsprach. Jetzt ist die Gesellschaft in der Lage, mich so wahrzunehmen, wie ich bin. Aber sie trägt gleichzeitig auch bestimmte Maßstäbe und Erwartungen an mich heran. Ich werde permanent auf Äußerlichkeiten und Körperlichkeiten angesprochen oder deswegen verspottet oder angegriffen. Gleichzeitig betrifft das ja nicht nur mich, sondern hat gegenüber Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, System.
Warum geht es da so schnell um Äußerlichkeiten?
Mir ist wichtig zu betonen, dass Welten liegen zwischen dem, was ich im Internet erlebe und in der analogen Realität. Im Alltag habe ich so gut wie nie ernsthafte Probleme. Aber in den sozialen Medien vergeht kein Tag, an dem ich nicht verhöhnt oder beleidigt werde, bis hin zu regelrechter Gewaltandrohung. Bei Hate Speech geht es darum, Menschen zu verletzen, indem man sie beschämt, beleidigt oder bedroht – und sie so letztlich aus dem Diskurs zu drängen. Deshalb trifft so etwas auch signifikant mehr weiblich gelesene Personen, queere Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund, andere marginalisierte Gruppen und im Allgemeinen Menschen, die auf gesellschaftspolitische Probleme hinweisen. Auf Äußerlichkeiten loszugehen ist dabei besonders verletzend. Durch Mode kann ich ja vielleicht noch etwas ändern. Aber am Körper etwas zu ändern ist natürlich deutlich schwieriger.
Warum ist dieses Beschämen so effektiv?
Das hat, glaube ich, mit der menschlichen Urangst zu tun, von der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Diese panische Angst, plötzlich allein gelassen zu werden, ausgestoßen, verlassen. Das ist furchtbar. Und diese Angst davor, überall wo man hinkommt, dieselbe Ausgrenzung zu erfahren, dieselbe Erniedrigung. Scham ist ein mächtiges gesellschaftliches Regulierungsinstrument.
Gibt es gerade bei trans Frauen einen gewissen Druck, klassischen Schönheitsidealen zu entsprechen?
Ich empfinde einen brutalen, manchmal absolut unerträglichen gesellschaftlichen Normierungsdruck auf trans geschlechtliche Körper. Trans Personen wird in unserer Gesellschaft beigebracht, sich für ihre normabweichenden Körper zu hassen. Auch chirurgische Eingriffe, die Körper korrigieren, hinterlassen Narben. Und trotz allem werden trans Personen viel zu oft nicht in ihrem realen Geschlecht wahrgenommen.
Ist das gesellschaftliche Ideal heute zumindest weniger starr als früher?
Schönheitsideale verändern sich. Männer mit langen Haaren sind zum Beispiel überhaupt kein gesellschaftskritisches Statement mehr. Trotzdem sortieren wir unterbewusst 1.000 Mal am Tag Menschen in Kategorien von „männlich“ oder „weiblich“, „schön“ oder „nicht schön“ ein. Eine Frau mit Glatze oder einem behaarten Gesicht wird noch immer als nicht schön und nicht weiblich gelesen. Und als trans Person werde ich tagtäglich daran gemessen, wie sehr ich gesellschaftlichen Normen entspreche und mich brav ins binäre System einsortiere. Was soll ich denn machen, drauf scheißen? Auf den ganzen Normierungsdruck des binären Geschlechtersystems? Klar, aber das ist echt hart.
Geht es da auch um den Schutz vor Angriffen und Gewalt?
Das spielt eine ganz entscheidende Rolle. Wenn ich mich als weiblich gelesene Person so halbwegs im gesellschaftlich attraktiven Mittelfeld bewege, muss ich schlicht damit rechnen, Cat Calling zu erleben. Und zwar gleich morgens auf den ersten 100 Metern zum Bäcker und bis ich spät abends in der U-Bahn nach Hause fahre. Für Frauen gibt es kein Stück Stoff, keine Rocklänge, die uns vor sexistischen Übergriffen und Gewalt schützt. Und auf je mehr Ebenen eine Person von der Norm abweicht, desto mehr ist sie gefährdet – sei es, weil sie of Color ist, eine Behinderung hat oder eben transgeschlechtlich ist.
Was bedeutet das für Sie?
Es ist egal, ob ich freundlich lächle oder nicht, ob ich auf Männer stehe oder auf Frauen, ob ich meine Haare kurz oder im Zopf trage, ob ich mir die Lippen und Nägel anmale oder nicht: Wenn mich jemand als trans erkennt, und dieser jemand hat echte Probleme mit dem Thema Akzeptanz, dann muss ich eben damit rechnen, im schlimmsten Fall körperliche Gewalt zu erleben.
Was würde es für trans Personen heißen, wenn Geschlechterrollen noch deutlich durchlässiger wären, als sie es heute sind?
Wenn sich Geschlechterrollen plötzlich in Luft auflösen würden, wäre dann gleichzeitig auch alle Geschlechtlichkeit verschwunden? Ich weiß nicht, inwiefern das möglich ist. Trans geschlechtliche Menschen wären dann vielleicht freier. Sie wären glücklicher und selbstbestimmter. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dann gar keine medizinischen Maßnahmen mehr vornehmen lassen würden.
Würde das nicht gerade dazu beitragen, die Binarität der Geschlechter zu zementieren?
An gesellschaftlichen Normen von Schönheit und Geschlecht etwas zu ändern ist eine enorme, gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Trans und nicht binäre Personen machen ein halbes Prozent der Bevölkerung aus. Es kann nicht sein, dass das allein auf unserem Rücken ausgetragen wird. Geschlechterklischees zu sprengen ist verdammt noch mal nicht unser Job! Ich muss es auch niemandem recht machen, außer einer: mir selbst. Ich muss in einen Spiegel schauen können und sagen: So, passt schon. Ich mag dich so, wie du bist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Die Regierungskrise der Ampel
Schnelle Neuwahlen sind besser für alle
Bilanz der Ampel-Regierung
Das war die Ampel
Angriffe auf israelische Fans
Sie dachten, sie führen zum Fußball
Die Grünen nach dem Ampel-Aus
Grün und gerecht?
Kritik an der taz
Wer ist mal links gestartet und heute bürgerlich?
Regierungskrise in Deutschland
Ampel kaputt!